Am 1. Juli 2006 feierte Hans Werner Henze seinen 80. Geburtstag. Mit zahlreichen Aufführungen seiner Werke in Konzerten und Opern huldigt die Musikwelt einem der bedeutendsten Komponisten der Gegenwart. Eine besondere Hommage an Hans Werner Henze fand in Rom statt: Die Accademia Nazionale di Santa Cecilia, die Ernst von Siemens Musikstiftung und das Goethe-Institut Rom arrangierten ein Festkonzert mit dem Orchester der Accademia im Auditorium Parco della Musica, das unter der Leitung von Pascal Rophé Henzes „Sieben Boleros für großes Orchester“ spielte. Zuvor kamen drei jüngere Komponisten und Schüler Henzes mit Uraufführungen zu Wort und Ton: Im Auftrag der Siemens Musikstiftung komponierten Mark Anthony Turnage „Lullaby for Hans“, Jörg Widmann „Acht Miniaturen für Klarinette und Streichorchester“ und Francesco Antonioni eine „Giga“. Vor dem Konzert wurde ein eigens für diese Gelegenheit gefilmtes Interview mit Hans Werner Henze gezeigt, in dem der Komponist das anwesende Publikum grüßte.
Kürzlich veranstaltete die Bayerische Akademie der Künste zu Ehren des 80. Geburtstags von Hans Werner Henze ein Symposium, in dem es auch um die Frage ging, ob es so etwas gäbe wie ein ausgeprägtes Henze’sches Spät- oder Alters-Oeuvre. Sie wurde kontrovers beantwortet, und eine der diskutierten Thesen besagte, Henzes Schaffen weise so beträchtliche Unterschiede der tonsprachlichen Dringlichkeit auf, dass man schon relativ früh auch von „Vermächtnis“-Werken sprechen könne. Darunter würden die drei Streichquartette des 50-Jährigen zählen, auch die 7. und die 9. Symphonie, das instrumentale Requiem und natürlich die 2003 in Salzburg uraufgeführte Märchenoper „L’Upupa“. Andererseits schrieb auch der alte Henze immer wieder gerne Parerga, die wie Lockerungs- oder Fingerübungen anmuten, bei genauerem Blick aber zweifellos alle Merkmale von Altersreife und Meisterschaft offenbaren. Übrigens arbeitet Henze jetzt wieder an einem Opernprojekt (der zweiaktigen „Phädra“, einem bereits vom früheren Librettisten Hans-Ulrich Treichel ventilierten Sujet), bei dem er sich nach fertig gestelltem ersten Akt wegen schwerer Krankheit im vergangenen Winter unterbrechen musste.
Alterswerk hin und her, Henzes Schaffen zeigt sich nach so vielen produktiven Jahrzehnten und Perioden ebenso vielgestaltig wie in seiner Motivation komplex. Am Anfang stand – wie bei allen kraftvoll Begabten – der pure Ehrgeiz. Prekär war die Ausgangssituation jedoch deshalb, weil die Elterngeneration, der Henze „es zeigen“ wollte, mit dem Nationalsozialismus identifiziert werden musste. Auch die Repräsentanten der deutschen Nachkriegsmusik waren vielfach „gewendete“ Nazis wie der rührige SWF-Musikchef und Avantgarde-Apologet Heinrich Strobel, aber auch der Komponist Wolfgang Fortner, einer der wichtigen Lehrer Henzes. Zu ungemischter Verehrung konnte es schwerlich kommen. Henze suchte Erfolg bei einem Establishment, das er gleichwohl auch ablehnte. Dem Milieu der Adenauerzeit entfloh er, indem er schon seit den 50er-Jahren die meiste Zeit in Italien lebte. Trotz zunehmender internationaler Reputation blieb er aber doch mental eng verbunden mit Deutschland, dessen institutionelle Kapazitäten ihm selbstverständlich auch die lukrativsten Aufführungsmodalitäten verschafften.
Die ambivalente Herzens- und Schmerzenssache Deutschland bekam für Henze eine neue Virulenz durch die Aktivitäten der 1968er-Bewegung, die bei ihm einen Politisierungsschub initiierte. In diesen Jahren radikalisierte sich auch Henzes kompositorische Poetik und holte gleichsam das zuvor ausgesparte Avantgarde-Pensum nach; am auffälligsten war die produktive Aneignung und Abwandlung von Modellen des „instrumentalen Theaters“ à la Kagel, Schnebel und Ligeti. Neben dem formal-experimentellen Aspekt behielt die Vermittlung von Inhalten bei Henze ein großes Gewicht: Musik als Ausdruck und Transportmittel von „Aufklärung“, auch als begriffslos-begreifliche Erkenntnis des für politisch richtig Erachteten – und das war für Henze in dieser Phase zweifellos ein undogmatisch verstandener Marxismus. Die Hoffnung auf dessen Rezepturen mag sich später auch bei Henze abgeschwächt haben, aber ein profund „linkes“ Selbstverständnis kam ihm niemals abhanden.
Obwohl in allen erdenklichen musikalischen Gattungen und Genres zuhause, ist Henze doch mit allen Fibern Theatermusiker, mithin eine Spielernatur, die den Umgang mit Wahrheit nicht abtrennt vom Wunschpotential des schönen Scheins, vom Rätselcharakter und der Vieldeutigkeit der chiffrierenden und camouflierenden künstlerischen Erscheinung. Kunst demnach nicht als frontale Botschaft, Parole oder Tendenz, vielmehr eher als ein Genuss bereitender Attraktor mit Erkenntnis stiftenden Konterbanden. In diesem Sinne lässt sich auch sein späteres Oeuvre wahrnehmen, so dass die vermeintliche Putzigkeit der Tieroper „The English Cat“ gegenüber dem vorangegangenen harten Antikriegsstück „We Come to the River“ keinen Bruch bedeutet, sondern ästhetische Verschlüsselung unvermindert kritischer Gehalte. Dass „political correctness“ angesichts der verstörenden Interessantheit eines Stoffes verblasst, stellte Henze klar mit der Wahl einer Mishima-Erzählung für seine Oper „Das verratene Meer“, eines seiner Hauptwerke aus den 90er-Jahren.
Bemerkenswert sind nicht nur die Wandlungen und die Konsistenz in Henzes Schaffensprozess, sondern auch die Volten der Henze-Rezeption der vergangenen 60 Jahre. Zunächst überwog (ein bisschen fälschlich) der Eindruck eines eher dem „großen“ Musikbetrieb sich anschmiegenden als dem modernen Rigorismus verbundenen Tonsetzers.
Im Darmstadt der schulbildenden Präzeptoren Nono, Boulez und Stockhausen war Henze der ungeliebte Außenseiter, scheinbar ein Mann von gestern. Als Kunst- und Kampfgenosse der Studentenbewegung (mit allerdings teilweise desillusionierter Kuba-Erfahrung) geriet Henze fast plötzlich zur Schlüsselfigur einer zeitgemäßen „politischen Ästhetik“, einer Art Quadratur des Kreises auf der Spur. Nach avantgardistischen und politischen Ernüchterungen wurde Henze schließlich für die nach 1950 geborenen Musiker zu einem mächtigen Markierungspunkt, der wegweisend fungierte bei dem unumgänglichen Bestreben, linearem Fortschrittsdenken abzuschwören und den Zukunftskräften „unerledigter“ Traditionselemente zu vertrauen. Der Dissens zu dem unbeirrten Avantgardisten Helmut Lachenmann zeigte zumindest, dass Henzes bewegliche Ästhetik eine Situation aufzubrechen vermochte, die sich an endzeitlichen Dilemmata festzufressen drohte.
Deutlich ist, wie sehr Henze auch der Zeitgenosse der Serialisten war, wie schwer es ihm fiel, Freiheit für sich und seine künstlerische Sache zu behaupten. Ich erinnere mich daran, wie wir gemeinsam in seinem Haus in Marino in den 70er- Jahren eine Aufnahme der „Four Sea Interludes“ aus Brittens „Peter Grimes“ hörten. Unbedingt ein Meisterwerk. Aber Henze stellte dazu – mit einem merklichen Unterton von Bekümmerung in der Frageform – nur fest: „Kann man denn heute noch so komponieren?“ – Die Standards der Nachkriegs-Atonalität verinnerlichte Henze zur Gänze, auch wenn er sie gelegentlich (wie Alban Berg, wie latent sogar Schönberg) auch suspendierte – mit am anrührendsten etwa in dem Schlusssong der Rachel aus dem operettenhaften Stück „La Cubana“, hier übrigens im Kontext einer konsequent „instrumentalisierten“ Theaterkonzeption, die den gesamten Instrumentalanteil als Bühnenmusik figuriert. In diesem Song manifestiert sich Henze als überwältigender Melodiker, Meilen galaxis-voraus im Vergleich zu Elaboraten eines Andrew Lloyd Webber. Melodie, eine in der „großen“ Musik des 20. Jahrhunderts mit guten (besser: wahrhaftigen) Gründen tabuisierte Größe. Auch wenn Henze nur manchmal und eher zaghaft an sie erinnert, scheint er sie doch tendenziell weiterbewahrt zu haben: als ein Freiheitszeichen. Für, hoffentlich, weitere große Freiheiten.