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Lisa Streich. Foto: Ricordi/Harald Hoffmann

Lisa Streich.

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Wie man vom Orchester bekommt, was man will

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Ein Porträt der schwedischen Komponistin Lisa Streich
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Lisa Streich hat sich im weltweiten Konzertleben als Komponistin etabliert. Allein in diesem Jahr hat sie drei große Uraufführungen allein in Deutschland: „Flügel“ beim Festival „Elbphilharmonie Visions“ im Februar, „Ballhaus“ im Mai im Rahmen der Konzertreihe „more than music“ in der Staatsoper Hannover und im Juni „Ishjärta“ mit den Berliner Philharmonikern.

 

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Ihre Musik ist voller Kontraste und Ungewohntem. Dabei will sie nicht vordergründig modern und neutönerisch sein, sondern sie will Musik gemeinsam mit den Orchestermusikern machen und sie dem Zuhörer liebevoll präsentieren. Als sie noch jung war, wollte sie „anecken, anti-establishment sein, anti-bourgeois, also sehr akademisch“. Aber dann hat sie gemerkt: „Mit Schönheit kann ich viel besser anecken!“

„Ich bin aus purer Langeweile Musikerin geworden“, gesteht die schwedische Komponistin Lisa Streich. Sie ist auf dem Land aufgewachsen – viel war da nicht los. So hat sie sich schon in jungen Jahren das Klavierspielen zunächst selbst beigebracht. Auch wenn ihr Großvater Organist gewesen ist, kam sie aus keiner Musikerfamilie und an eine Musikerkarriere dachte sie damals sicher noch nicht. Zudem war sie bühnenscheu, für öffentliche Auftritte schwer zu begeistern. So saß sie am Klavier und erfreute sich an den Klängen, die sie dort produzierte, besser: entdeckte.

Ein wichtiger Wendepunkt war es sicher, als ihre Mutter zuhause einmal eine Schallplatte mit Leonard Bernsteins „West Side Story“ auflegte. Die Violinklänge hatten es ihr sofort angetan und fortan wollte sie Violine lernen – ihre Vorliebe für Streicherpartien in ihren eigenen Kompositionen mag hier ihren Ursprung haben. Ein zweites wichtiges Erlebnis war eine Anschaffung ihres Vaters – eine Platten-Sammlung mit klassischer Musik: Wolfgang Amadeus Mozart, Peter Tschaikowsky, Ludwig van Beethoven und Antonín Dvořák. Die „einfachere“ Musik, wie sie es nennt, begeistert sie schnell: Mozart und Dvořák. Mit Tschaikowsky und Beethoven kann sie zum Teil bis heute wenig anfangen.

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Streich kann sich in Musikstücke verlieben, die sie hört. Einfachheit ist ihr dabei durchaus angenehm. „Die Musik muss deutlich sein! Gelegentlich darf sie sogar platt sein, wenn sie nichts verschleiert“, sagt sie. Manchmal mag sie auch kindische Sachen, etwa das Lied „Chiribim Chiribom“ der Barry Sisters, Alltägliches zwischen Kindischem und Wehmut.

Sie lernte also Klavier und Violine und später auch Orgel. Komponieren, gar als Beruf, kam ihr lange nicht in den Sinn. Als sie mit 19 Jahren nach Berlin ging, erlebte sie etwas für sie völlig Neues: „Das war ein Augenöffner. Hier habe ich erst gesehen, dass es weibliche Komponisten gibt. Das wusste ich vorher gar nicht, es stand eben nie eine Partitur von einer Frau auf meinem Klavier. Ich dachte wirklich, das kann man nur machen, wenn man ein Mann ist. Und dann gehe ich in dieses Konzert, und sie spielen ein Stück von Rebecca Saunders – von einer Frau! Ich war Feuer und Flamme.“

Sie studiert in der Folge in Berlin, Stockholm, Salzburg, Paris und Köln. Ihre Lehrer sind Adriana Hölszky, Mauro Lanza, Johannes Schöllhorn und Margareta Hürholz. Sie besucht Meis­terkurse bei Chaya Czernowin, Steven Takasugi, Hanspeter Kyburz und Daniel Roth. Ein Stipendium führt sie an die Norwegische Musikhochschule Oslo, wo Helmut Lachenmann ihr Mentor ist. Ihre erste Komposition ist 2007 ein Stück für Violine solo und Elektronik. Neue Musik durch und durch – aber das wird nicht ihr kompositorischer Weg sein.

Bald danach verlässt sie nach ersten Studien Berlin und geht nach Stockholm. „Deutschland kam mir ein wenig engstirnig vor, was das Komponieren anbelangt“, bekennt sie und fährt fort: „Es gab eine grundsätzlich negative Haltung – man war gegen etwas, aber nicht für etwas“. In Schweden war das Studium sehr am normalen und alltäglichen Komponistendasein orientiert, der praktische Anteil der Arbeit hoch. „Ich habe sehr früh gelernt, wie man das vom Orchester bekommt, was man haben will“, freut sich Streich. „Es galt, mit den Kommilitonen zu kommunizieren und eine Vertrauensbasis aufzubauen. Das erleichterte die Arbeit im Orchester ungemein.“ Alan Gilbert, Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters, scheint auf diese Ausbildung zurückzuschauen, wenn er sagt: „Sie ist unkonventionell und denkt vieles neu und anders. Vor allem in der Art und Weise, wie sehr sie die ausführenden Künstler als Teil des kreativen Kompositionsprozesses mitdenkt. Es ist frappierend zu sehen, wie sie dabei die Grenzen zwischen Komponistin und Musikern verwischt.“

Über ihre eigene Musik redet Streich nicht so gern und nicht so ausgiebig. Sie steht auf dem Standpunkt, dass ihre Musik ihre Sprache ist und sie durch sie zu uns spricht. Wenn sie komponiert, dann beginnt sie nie mit einem leeren Blatt Papier. Es gibt immer ein spezifisches Material als Ursprung, das den roten Faden durch die Komposition bildet. Aber dieser rote Faden ist nicht bindend, immer wieder kommt sie davon ab. Sie nennt diesen Vorgang „Gespräche mit Musik. Die Musik und ich schreiben miteinander das Stück. Es ist ein Gespräch mit Musik über Musik“. Dabei ist sie nicht auf der Suche nach neuen Klängen, wie es etwa Lachenmann tut. „Ich will etwas hören, was ich so noch nicht gehört habe, in dieser Kombination. Ich bin auf der Suche nach Ausdruck“, beschreibt sie ihren Kompositionsprozess. Dabei darf das, was sie als Material verwendet oder das, was als Komposition entsteht, durchaus unperfekt sein.

Wie beschreibt man Streichs Musik am besten? „Am besten gar nicht“, würde sie vielleicht sagen. Im Programmheft zu „Ballhaus“ findet man eine wohl sehr treffende Deutung ihrer Musik: „Doch es ist nicht das Ballhaus an sich, das Lisa Streich interessiert, sondern die Tatsache, dass ein solcher Ort doch im Grunde aus der Zeit gefallen ist. Die Zeit, Welt und Gesellschaft, in der wir leben, sind nicht sorgenfrei. Krisen in allen Bereichen nehmen uns die Zuversicht. Die ständig und überall verfügbare Unterhaltung, die wir gleichzeitig konsumieren, sieht Lisa Streich als Verdrängung der Lebensrealität, als beständige Ablenkung vom Heute, als Versuch, das Gestern festzuhalten und zu feiern, was sich aber letztlich als Illusion herausstellt. Das Ballhaus ist insofern eine Metapher für den Glanz einer Zeit, der schon abgeblättert ist.“ Ein anderes Bild: Vielleicht ist die Musik von Lisa Streich diejenige Musik, die wir als allerletztes hören wollen und werden, bevor wir sterben. Aber gleichzeitig ist es die Musik, die wir hören, wenn wir aus dem Koma aufwachen und nichts erkennen, nicht wissen, wo wir sind, aber mit einem großen Glücksgefühl spüren, dass wir wieder zuhause sind.“

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