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Klarenz Barlow bei der Kaske-Preisverleihung an George Aperghis im Jahr  2017 im Künstlerhaus München bei der Präsentation des postum im Jahr 2016 fertiggestellten Werks von Stephan Kaske und Curtis Roads. Foto: Susanne van Loon

Klarenz Barlow bei der Kaske-Preisverleihung an George Aperghis im Jahr  2017 im Künstlerhaus München bei der Präsentation des postum im Jahr 2016 fertiggestellten Werks von Stephan Kaske und Curtis Roads. Foto: Susanne van Loon

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„Uni spinn fair Tisch“

Untertitel
Ein Nachruf auf Klarenz Barlow von Georg Hajdu und Bernd Härpfer
Vorspann / Teaser

1968 erscheint der 22-jährige Clarence Franklin Barlow auf der Bildfläche der damaligen Musikmetropole Köln, um bei Bernd Alois Zimmermann Komposition zu studieren. Durch vorherige Kontakte zum Goethe-Institut in Kalkutta hatte sich dieser Weg angebahnt. Ende 1945 in die dortige britische Minderheit geboren, war Barlows Entwicklung bereits vor der Immigration europäisch geprägt („1951-65 Klavierstudium. 1957 erste Kompositionen. 1961-65 naturwissenschaftliches Studium an der Universität Kalkutta. 1965-68 Konzertpianist, 1967-68 Dirigent.“ (Auszug aus Barlows Kurzbio, 2018)). In seiner Heimatstadt Köln nennt er sich fortan „Klarenz“ und erfindet unentwegt neue Aliasse, die seinen Namen in verschiedenen sprachlich-kulturellen Kontexten variieren. Er sollte in den nächsten 55 Jahren (nicht nur) die westliche Musik in vielen Dimensionen bereichern, was ihm weltweite Anerkennung als Komponist, interdisziplinärer Forscher, Autor und Softwareentwickler einbringen sollte.

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Seine Laufbahn als Lehrender begann 1982 bei den Darmstädter Ferienkursen, ab 1984 unterrichtete er an der Musikhochschule Köln Computermusik und bekleidete ab 1990 mehrere Positionen am Königlichen Konservatorium Den Haag. Zahlreiche Einladungen von Institutionen rund um den Globus folgten. Als Grenzgänger zwischen Indien, Europa und den USA, wo er von 2006 bis 2019 lebte und an der University of California Santa Barbara als Professor für Komposition unterrichtete, unternahm er zeitlebens kompositionstechnische und musiktheoretische Expeditionen, in denen sich sein umfassendes interkulturelles musikalisches Bewusstsein manifestierte.

Von seiner verzweigten Produktivität, seinem überbordenden Erfindungsreichtum und seiner humorvollen, bisweilen subversiven künstlerischen Agenda können wir hier nur wenige Aspekte beleuchten. Barlow gilt als Pionier der Computermusik. Entscheidend für seinen Ruf ist aber nicht nur die Tatsache, dass er schon ab 1971 mit Computern komponierte – bis zum Erwerb seines ersten PCs 1984 noch mit Hilfe von Großrechnern an diversen Institutionen – sondern vor allem seine über Jahrzehnte gewachsene Fähigkeit, komplexe Software zu entwickeln und, durch deren virtuosen Einsatz, seine Vielseitigkeit als algorithmischer Komponist. Begleitet wird dieses Werk von vielen Text- und Buchveröffentlichungen, die seine Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragen der Musik- und Kompositionstheorie aus der Perspektive der Informatik belegen, sowie tiefgreifende Untersuchungen über die Natur von Musik und Klang enthalten. Zum Beispiel „Bus Journey to Parametron “(1980), eine umfassende Studie über Tonalität und Metrik, On Musiquantics (1986-2008), ein Lehrbuch über Beziehungen zwischen Musik und Mathematik, Akustik, Phonetik, Informatik und Barlows eigenen Methoden zur Quantifizierung von Tonalität und Metrik.

Das kompositorische Werk Barlows als Ganzes geht noch weit darüber hinaus. Stilistisch lässt es sich kaum eingrenzen. Ein typisches Merkmal ist vielmehr die Synthese mehrerer scheinbar divergenter stilistischer oder klangmaterieller Ausgangspunkte. „Ludus Ragalis“ etwa vereint die nordindische Melodik verschiedener Ragen mit den Satzformen des Wohltemperierten Klaviers von Bach. „Variazioni e un piano meccanico“ konfrontiert Beethoven in einer musiktheaterhaften Inszenierung mit opulent aus dem Flügel heraussprudelnden, algorithmisch erzeugten Klangströmen. Die von Barlow als „Musica Derivata“ bezeichnete Werkkategorie subsummiert weitere Stücke, für die er Material existierender Kompositionen neu organisierte und re-komponierte. Die Bandbreite seines Schaffens zeigt sich auch im extensiven elektronischen Werk, das auf zahlreichen, eigens für das jeweilige Stück entwickelten algorithmischen Verfahren basiert, die von unterschiedlichen mathematisch-naturwissenschaftlichen Ideen inspiriert sind.

Die 1980er Jahre können im Schaffen von Barlow als seine vielseitigsten bezeichnet werden und begründeten seinen Ruf als weltweit führender Komponist der Computermusik. 1980 vollendete er das 30-minütige Klavierstück „Çoğluotobüsişletmesi” am IRCAM in Paris und setzte seine Arbeit mit der phonetisch-spektralen Komposition „Im Januar am Nil“ fort. Es folgten „Autobusk“, eine Software, die es ermöglichte, die im Klavierstück verwendeten Algorithmen in Echtzeit anzuwenden und dadurch die Voraussetzung für die erwähnten „Variazioni“ schaffte und 1989 die „Orchideæ Ordinariæ”, eine Auftragskomposition für Orchester der Donaueschinger Musiktage, die den Untertitel „The Twelfth Root of Truth“ trägt – ein ironischer Verweis auf die Material-Fixierung der Neuen Musik, die aus Barlows Sicht zu einem lukrativen Geschäftsmodell verkommen war.

„Orchideæ Ordinariæ“ ist ein tiefsinniges, labyrinthisches Werk mit zahlreichen biographischen und musikgeschichtlichen Allusionen, wie etwa die vom Orchester „gesprochenen“ Sätze „why me?”, „no money“ und „my way“, oder eine im romantischen Stil gehaltene Orchester-Passage, die von einer den Klang eines Glücksspielautomaten imitierenden Klarinette abgelöst wird. Die Coda, eine für ein Orchesterstück ungewöhnlich lange Klavierkadenz mit dem Titel „Pandora“, entlässt alles „Übel“ in die Welt, nämlich eine mit einem Computer generierte Musik, der die Öffentlichkeit zu dieser Zeit noch mit heftiger Ablehnung gegenüberstand. Das Zeitalter der maschinellen Intelligenz vorwegnehmend, hatte Barlow für die Komposition zwei Instanzen von „Autobusk“ miteinander vernetzt, wobei eine die Parameter ausgab, die die zweite für die Genese der musikalischen Ereignisse nutzte. Das Ergebnis war eine verblüffend menschlich klingende modale Musik, die ihren Ursprung beim unvoreingenommenen Hören keineswegs preisgibt – eine damals wie heute erschreckende Einsicht.

Die Tiefgründigkeit von Barlows Narrativ, das sich aus sehr unterschiedlichen Quellen speist, sowie ihre Offenlegung in zahlreichen Publikationen, kann als essentieller Beitrag auf dem Gebiet der Künstlerischen Forschung angesehen werden, wie auch viele seiner Werke als Konzeptmusik betrachtet werden können. Barlow, der sich stets einer Etikettierung widersetzt hat, hinterlässt ein vielgestaltiges Œuvre, das nachwirkt, auch durch einen weit verzweigten Kreis von Freund*innen, Kolleg*innen und ehemaligen Schüler*innen, die es weiter entwickeln und pflegen. 

Anmerkungen

  • „Uni spinn fair Tisch“: „phonetische“ Schreibweise aus einer Korrespondenz Barlows mit Margret Ostermann für „und ich bin fertig“

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