Der Tod von Aribert Reimann und Péter Eötvös bedeutet eine Zäsur im Hauptsegment der zeitgenössischen Musiktheater-Produktion. Nach Hans Werner Henzes Tod wurden diese beiden Komponisten als die aus dem 20. Jahrhundert herüberragenden maßgeblichen Autoren von „Literaturopern“ gewürdigt.
Vom Experimentellen im kleinen Format zur großen Bühne: Péter Eötvös – Nachruf von Frieder Reininghaus
Reimann, der zunächst vor allem als Klavierbegleiter und Ferment der West-Berliner Komponistenszene wahrgenommen wurde, gelangte mit dem 1978 im Münchener Nationaltheater triumphierenden „Lear“ in die internationale Spitzengruppe des hoch spezialisierten Gewerbes. Das Werk erschien nicht nur rasch auf mehreren weiteren bundesdeutschen Bühnen, sondern bereits 1981 auch in San Francisco, im Jahr darauf im Pariser Palais Garnier und in Berlin/DDR, dann in Zürich, London, vielen weiteren Häusern in Europa und 2021 in einer Neuinszenierung von Christoph Marthaler am Ort der Uraufführung. Obwohl Reimann auch Text-Reduktionen von Strindberg, Yvan Goll, Euripides, Kafka, García Lorca, Grillparzer oder Maeterlinck mit Musik versah: Die Shakespeare-Oper „Lear“ avancierte zum Chef d’Œuvre des Berliner Komponisten. Sie dürfte es bleiben, auch wenn Reimann 2010 an der Wiener Staatsoper mit „Medea“ noch einmal seine säuberlich mythen- und hochliteraturgenährte Opernmeisterschaft unter Beweis stellte.
Internationale Aufmerksamkeit
Zu Beginn seiner Musikerlaufbahn war Péter Eötvös schwerpunktmäßig von Köln aus als Pianist, Dirigent und dann ein Dutzend Jahre als Leiter des Ensemble Intercontemporain in Paris tätig. Zwanzig Jahre nach Reimann – 1998 – gelang ihm ein vergleichbarer „Durchbruch“ mit der Uraufführung von Tri sestri (Trois sœurs, Drei Schwestern) in Lyon. Die literarische und kompositorische Dramaturgie dieses auf einen Text Anton Tschechows gestützten Werks weist freilich über die Spezies der Literaturoper weit hinaus. Das musiktheatrale Interesse von Eötvös – und dies macht jetzt den Verlust so gravierend – erscheint seit dessen kompositorischen Anfängen sehr viel breiter aufgestellt, die Arbeit insgesamt polyglotter, polyphoner und strukturell moderner. Gerade auch in der Wahl der Sujets und Milieus.
Die Gemengelage ist nicht einfach auf einen Begriff zu bringen. Auf einen einfachen schon gar nicht. Dies liegt auch wesentlich an den aus vielerlei Quellen sich nährenden, von artifizieller Geschicklichkeit gekennzeichneten Tonsätzen, die jeweils nicht nur hochgradig als Theatermusiken wirken, sondern Musik aus dem Geist und in den Funktionszusammenhängen von Theater sind. Am ehesten wäre summarisch von einem literarisch und hinsichtlich vieler Partituren belesenen „Pluralismus“ zu sprechen, in dem auch das Faible für Jazz nicht fehlt (siehe z. B. das Trompetenkonzert Jet Stream) – Pluralismus in mehrfacher Hinsicht und als Kategorie, die selbst „dynamisch“ ist, d. h. veränderlich und in Bewegung: Bemerkenswerte Vielfalt, die sich in theatral-szenischer und musikalisch-kompositorischer Hinsicht auftut mit dem Œuvre, das insbesondere mehr als ein Dutzend Bühnenwerke umfasst.
Unter ihnen stechen Le balcon nach einem ruppig religions- und gesellschaftskritischen Text des lange nicht salonfähigen Jean Genet mit Anspielungen auf französische Chansons hervor (2002 beim Festival in Aix-en-Provence uraufgeführt) und Angels in America nach Tony Kushners New Yorker Schwulen-Stück (Théâtre du Châtelet Paris 2004). Auch Lady Sarashina nach dem von reichlich sexueller Erfahrung genährten Tagebuch der japanischen Hofdame Sarashina aus dem 11. Jahrhundert (Lyon 2008) und aus demselben Jahr Love and other Demons nach Worten des in den Olymp der „Weltliteratur“ aufgerückten Gabriel García Márquez (Glyndebourne Festival).
In Frankfurt sorgte Eötvös 2014 eigenhändig anleitend für musikalische Illumination eines tragikomischen Theaterstücks der brisanten Art: Der Goldene Drache von Roland Schimmelpfennig ist die Geschichte eines Chinesen, der nach Deutschland aufbricht, um dort seine von der Bildfläche verschwundene Schwester zu suchen, mangels medizinischer Versorgung als illegal arbeitender Hilfskoch in einem Asia-Schnellrestaurant zu Tode kommt, in einen Teppich gewickelt und im Kanal entsorgt wird, zur Nordsee gespült und durch die Barentssee in die Heimat zurückkehrt. Neuerlich stand Eötvös vor drei Jahren als Uraufführungs-Dirigent seiner eigenen Werke in der Berliner Staatsoper Unter den Linden am Pult der Staatskapelle – bei „Sleepless“, einer Opera Ballad nach einer Vorlage des nachmaligen Literaturnobelpreisträgers Jon Fosse.
Wie bereits bei As I Crossed A Bridge Of Dreams (1996) legte Eötvös seiner letzten Arbeit für die Bühne, der Tragikomödie Valuska (Budapest 2023) ein Libretto seiner Frau Mari Mezei in der Muttersprache zu Grunde. Ungarn blieb lebenslänglich Bezugs- und Beziehungspunkt, wohl auch Siebenbürgen, der Sehnsuchtsort. Dort war Eötvös am 2. Januar 1944 in Odorheiu Secuiesc (Székelyudvarhely) zur Welt gekommen – kurz bevor die Familie vor der anrückenden Roten Armee nach Dresden floh. Nach Kriegsende fasste sie dann wieder in Ungarn Fuß.
Vom Experimentellen im kleinen Format zur großen Bühne
Wenn man sich in den 1970er-Jahren in Köln aufhielt, nicht zuletzt wegen der dort konzentrierten neuen (oder Neuen) Musik, war es fast unumgänglich, auf den Pianisten, Schlagzeuger und Assistenzdirigenten Eötvös zu stoßen (und irgendwann auch mit ihm anzustoßen). Er war 1965 mit einem Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) aus dem „gulaschkommunistischen“ Ungarn glücklich an die Kölner Musikhochschule gelangt. Unvergessen ist seine Schilderung, wie ihn der im Auftrag der staatlichen Kulturbehörde zur Talentsuche aufs Land geschickte, später von gewissen Gedächtnislücken heimgesuchte György Ligeti „ermittelte“ und als Jungstudent an die Budapester Musikakademie beorderte. Inwieweit diese Anstalt und die Hauptstadt der Ungarn seine zweite Heimat wurde, ließ er in der Schwebe.
Der Name Eötvös tauchte zunächst verschiedentlich im Zusammenhang des Kölner Teams des nach den Sternen greifenden Karlheinz Stockhausen auf. Péter Eötvös blieb geerdet, freilich an fernöstlicher Thematik fortdauernd interessiert. 1972 steuerte er zu den „Weltmusiktagen“ für die Beethovenhalle Bonn „Harakiri“ bei – ein „Clownstück“ nach einem Text von István Bálint für eine japanische Sprecherin, zwei Altflöten und einen Holzhacker, das auf den spektakulären Seppuku-Suizid des Dichters Yukio Mishima anspielt („auch konzertant aufführbar“). Vier Jahre später schrieb Eötvös, neuerlich aufgrund eines vom Westdeutschen Rundfunk vergebenen Auftrags, „Radames“ (UA Köln 1976). Für diese ebenfalls der „experimentellen Zone“ zuzurechnende Kammeroper entwickelte er selbst das Konzept und [unter Verwendung von Texten von András Jeles, László Najmányi, Manfred Niehaus und Antonio Ghislanzoni] ein internationalistisch getöntes Libretto.
Zehn Jahre später entstand dann „Chinese Opera“ für 28 Instrumentalisten – eine von gestischer Musik getragene Orchester-Arbeit, die sich nicht erkennbar auf Peking- oder Kanton-Oper bezieht, aber in zurückgenommener Weise Züge von „instrumentalem Theater“ aus dem Geiste des Kölner Kompositionsprofessors Mauricio Kagels zeigte. Kent Nagano holte das Stück nach Lyon und brachte dem Komponisten den Gedanken näher, eine „richtige“ Oper in Angriff zu nehmen: Immerhin verfüge er doch über breit gefächerte Erfahrung mit Filmmusik-Kompositionen, die er in jungen Jahren in der alten Heimat gesammelt hatte und die sich nun als hilfreich erweisen könnten.
Bis die Idee in die Tat umgesetzt war, verging ein weiteres Dutzend Jahre, in dem Eötvös sich als Dirigent profilierte. Besonders nachdrücklich im Gedächtnis ist sein Agieren in den Halles de Schaerbeek im Norden von Brüssel. Dort koordinierte er 1997 (unterstützt vom Co-Dirigenten Kwamé Ryan) das Orchester des Théatre Royal de la Monnaie, einen Solistenchor und die Männer des SWF-Experimentalstudio Freiburg, während Robert Wilson in der ehemaligen Markthalle Luigi Nonos „Prometeo“ in extremer Langsamkeit choreographierte – nach dem Motto „Langsam bewegt sich die Zeit“.
Eigentlich wollte Eötvös, wie er während eines Gesprächs am 13. November 2013 in der Wiener ORF-Kantine erläuterte, in den 90er-Jahren seiner ersten größeren Arbeit für das Musiktheater zunächst eine „alltägliche“ Begebenheit der jüngsten Vergangenheit zugrunde legen: die Geschichte einer ungarischen Schönheitskönigin, die in den 1980er-Jahren wenige Monate nach ihrer Wahl und dem mit dieser anbrechenden Medienrummel quasi freiwillig aus dem Leben schied. Dafür, dass er eine Handlung wünschte, die Fragen des Suizids thematisiert, führte Eötvös autobiographische Gründe an: Sein Sohn hatte sich vom Balkon seiner Pariser Wohnung gestürzt (die Urne zog allemal mit ihm um).
Der Kölner Operndramaturg Claus H. Henneberg, der u. a. bereits die Texte zu Reimanns Melusine und Lear kompiliert hatte und den er um ein Libretto über den ungarischen Suizid-Plot bat, lehnte dieses Ansinnen kategorisch ab. Er bot ihm ersatzweise eine Bearbeitung von Tschechows Drei Schwestern an. Eötvös montierte sich aus ihr die dann mit Musik versehene Szenenfolge, die sich von linear-narrativer Erzählweise weit entfernte, um der Musik „neue Räume zu eröffnen“. Insbesondere ging es ihm darum, Abschiede Musik werden zu lassen.
Langsam bewegt sich die Zeit
Der Leitspruch von der sich langsam bewegenden Zeit, der auch Titel eines alten russischen Liedes ist, könnte über dem ersten großen Bühnenwerk stehen, das der zu diesem Zeitpunkt bereits 54-jährige Eötvös dann, wie erwähnt, 1998 in Lyon der Öffentlichkeit vorstellte: „Tri sestri“. In deutscher Version kamen die „Drei Schwestern“ ein gutes Jahr nach der Uraufführung an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf heraus, inzwischen in einer rekordverdächtigen Zahl von Neuproduktionen quer durch Europa. In Budapest 2000 z. B. unter dem Titel Három Növér.
Langsam bewegte sich die Zeit der Schwestern – aber in die Partitur von Eötvös ist auch Unruhe eingeschrieben und Erschütterung. Da es sich faktisch zu seinem Hauptwerk mauserte, soll ihm hier besondere Würdigung zukommen: Weithin bleibt der Ton in der Schwebe und nimmt dann doch verschiedentlich Schwung auf (theatrale Bewegungs-Dynamik also). Der Tonsatz der Tri sestri mutet auf denkwürdige Weise kommunikativ an: Das Weiterreichen oder Austauschen von einzelnen Tönen oder Melodie-Partikeln zwischen verschiedenen Orchesterinstrumenten schafft mit der Binnenstruktur der Klangwanderungen auch Anhaltspunkte für den hörenden Nachvollzug von Bewegung und Stillstand. Chaotisch anmutende Abläufe bewahren Transparenz. Klangliche Raffinesse stellt sich durch kleinere oder größere Überlagerung verschiedener akustischer Ereignisse her und der Satz wirkt, trotz gelegentlicher Anklänge an tonale Figuren (vor allem in den Singstimmen) frei atonal und in keine der Schulen des 20. Jahrhunderts eingebunden.
Die Vielfarbigkeit des Tonsatzes, der Variantenreichtum der Instrumentalkombinationen, der immer wieder madrigalhafte Gestus der Vokalpassagen verweisen auf die langjährige Vertrautheit des Komponisten mit den verschiedensten Schreibweisen, die sich Eötvös als Dirigent bei exponierten Klangkörpern erwarb. In seiner ersten Oper fließt das Heterogene zu einer Einheit zusammen und rührt den tiefen „geheimen“ Seelenschmerz des Tschechow-Personals an – beidem wurde verschiedentlich „Faszinazion“ zugeschrieben.
Bei der Uraufführung der „Trois Soeurs“ wurde russisch gesungen und waren die zentralen Frauen-Partien mit hohen Tenören besetzt, um die Ausschnitte aus Tschechows fast handlungslosem Drama auf Seelenprozesse zurückzuführen und das Ohrenmerk aufs „Ideelle“ zu konzentrieren. Für die Deutsche Erstaufführung schrieb Eötvös die Partitur um. Die drei Schwestern und die allzu lebenstüchtige Frau ihres lebenspraktisch versagenden Bruders wurden nun, um der Wiederannäherung an Tschechows Vorlage willen, von Frauenstimmen ausgeführt – und es wurde ein revidierter deutscher Text gesungen. Man sollte verstehen, dass es um „Wohnen, dämmern, lügen“ geht.
Vom Tschechow-Text bewegte sich Eötvös weit weg. Er komponierte drei „Sequenzen“ – drei ausladende Szenen, die jeweils einer der Protagonistinnen gewidmet sind. Frei wurden von ihm verschiedene Text-Passagen aus den vier Tschechow-Akten zusammenmontiert, um das bis dahin nur geträumte (und aller Voraussicht nach unerfüllt bleibende) Liebesleben der jüngsten Schwester auszuleuchten, um die als Lehrerin schon ziemlich frustrierte, aber immerhin berufstätige älteste Schwester in Kontrast zum vertrottelten und von der Schwägerin an die Leine gelegten Bruders zu zeigen – und um die Ambivalenz der Dritten vorzuführen, die zwischen Ehemann und Liebhaber döst und dampft.
Musik eines gelähmten Lebens: Gestische Musik, die auf einfachen Klangfiguren basiert, in der Addition, Reihung, Überlagerung, Überschneidung der schlichten Ausgangs-Töne oder -Motive aber bemerkenswerte Intensität enwickelt. Raffiniert mischen sich bei „Tri sestri“ die Stimm-Aktionen auf der Bühne und dem, was vom kleinen Orchester im Graben und einem weiteren, ganz verdeckt operierenden Orchester herkommt. Die Leere der Tschechowschen Lebensentwürfe hat eine Hülle gefunden, welche den befassten Gegenständen, die nur dem Schein nach einfach sind, auf so überzeugende Weise angemessen scheint. Das Musiktheater von Eötvös funktioniert, ohne zu grimassieren oder die Protagonisten gar zu denunzieren. Und immer wieder besticht es durch die elaborierte Instrumentation, die im Detail ausgefeilten „gestischen“ Klangfiguren. Dies hat sich Eötvös auch in den späteren Opern bewahrt.
Die Tiefe der Zäsur
Mit dem Tod von Reimann und Eötvös, der ja aus Gründen des fortgeschrittenen Alters dieser Komponisten in Betracht zu ziehen war, mag man gewahr werden, wie tief die Zäsur im Feld der Literaturopernproduktion im Vorfrühling dieses Jahres ist – zumal es auch als eher unwahrscheinlich erscheint, dass Wolfgang Rihm noch einmal mit einem Kraftakt wie seiner von Heiner Müllers Langgedicht ausgehenden „Hamletmaschine“ (1987) auf den Plan tritt oder gar mit einem Wurf wie der auf Antonin Artaud gestützten „Eroberung von Mexico“ (1992). Bereits 2013 hatte Gerhard Rohde in einer Regensburger Fachzeitschrift resümiert: „Was im Opernschaffen des Peter Eötvös insgesamt beeindruckt, sind die unablässigen existentiellen Fragen, die den heutigen Menschen bedrängen. Und die sicher nur beantwortet werden können, wenn man in die Geschichte zurückblickt und von dort aus die Schicksale nach vorn, in die Gegenwart projiziert. Dass es dem Komponisten Eötvös gegeben ist, für diesen unablässigen Dialog die musikalische Sprache zu finden – das hebt sein Schaffen über vieles, was heutzutage so komponiert wird, weit hinaus.“ (Oper und Tanz, 7/2013). Diese musikalische Sprache mit ihrer Sensibilität für die unterschiedlichsten Textsorten und mit den auch die Spezialisten neuer Musik immer wieder überraschenden Klangfarben gehört nun der Musikgeschichte an. Am Sonntag, 24. März, Péter Eötvös, achtzigjährig nach prall erfülltem Leben, in Budapest gestorben.
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