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Schostakowitsch im Augenwinkel, das eigene Schaffen im Blick: der Komponist Mieczysław Weinberg bei der Arbeit. Foto: Bregenzer Festspiele
Schostakowitsch im Augenwinkel, das eigene Schaffen im Blick: der Komponist Mieczysław Weinberg bei der Arbeit. Foto: Bregenzer Festspiele
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Menschliche Antworten auf unmenschliche Zustände

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Zur Wiederentdeckung des Komponisten Mieczysław Weinberg und seines Meisterwerks „Die Passagierin“
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Vielleicht hat es David Pountney ge­ahnt, dass er seine Serie der Opernausgrabungen nach dieser Saison nicht mehr würde übertreffen können. Für die kommenden Jahre jedenfalls hat der Bregenzer Festspielchef neue Werke bei Judith Weir („Achterbahn“, 2011), Detlev Glanert („Solaris“, 2012) und HK Gruber („Geschichten aus dem Wienerwald“, 2013) in Auftrag gegeben. Tatsächlich kam die diesjährige szenische Erstaufführung von Mieczysław Weinbergs Oper „Die Passagierin“ – eingebettet in eine Vielzahl weiterer Weinberg-Aufführungen und ein Symposium – einer Sensation gleich, welche die in den Monaten zuvor durch zahlreiche Vorberichte und CD-Veröffentlichungen geschürten Erwartungen noch übertraf.

Mieczysław Weinberg? Dieser Name war bis vor Kurzem nur Kennern der sowjetischen Musikgeschichte ein Begriff. 1919 in Warschau geboren, floh Weinberg 1939 vor der deutschen Invasion, der seine Familie zum Opfer fallen sollte, ins weißrussische Minsk, wo er bei dem Rimsky-Korsakow-Schüler Wassilij Solotarjow seine kompositorische Ausbildung erhielt. Über Taschkent kam er auf Einladung Dimitri Schostakowitschs – dieser hatte Weinbergs ers­te Symphonie kennengelernt – nach Moskau, wo er im Jahr 1996 auch starb.

Die lebenslange Freundschaft und der gegenseitige künstlerische Austausch mit seinem vor allem im Westen berühmteren Kollegen, die ohrenfälligen Verwandtschaften im kompositorischen Tonfall, haben die Rezeption von Weinbergs Werken eher erschwert als beflügelt – zu nahe lag die Einordnung als zweitrangiger Schostakowitsch-Adept, die aber spätestens seit dieser Bregenzer Großtat revidiert sein dürfte. Ein genauerer Blick gerade auf die Werkgruppe der Streichquartette und Symphonien – hier drängt sich der Vergleich insbesondere auf – zeigen nämlich, dass zum einen die Beeinflussung keine Einbahnstraße war und Schostakowitsch sich beispielsweise von Weinbergs Umgang mit Melodieelementen jüdischer Provenienz inspirieren ließ, und dass andererseits einzelne Werke dieser Serien den bes­ten Werken Schostakowitschs zur Seite gestellt werden können, ja müssen. Überwältigend etwa die Qualität von Weinbergs sechstem Streichquartett (1946), von der man sich in einer Einspielung des kongenialen Quatuor Danel überzeugen kann (CPO), oder seiner fünften und sechsten Symphonie (1962 und ’63). Letztere war in Bregenz in einer ergreifenden Aufführung durch die Wiener Symphoniker und die Wiener Sängerknaben unter der Leitung Vladimir Fedoseyevs (des Widmungsträgers von Weinbergs 17. Symphonie) zu hören. Der Übergang des Allegro-molto-Scherzo – das wie eine explodierende Zirkusmusik fast apokalyptisch ausufert und über einem einsam stehen bleibenden Glockenschlag zunächst in die infernalische Eröffnung des Largos mündet – in das Pianissimo-Lamento des Knabenchores, ein Gedicht über Faschismus-Opfer im Kindesalter, gehört zweifellos zu den erschütterndsten Momenten in der Symphonik des 20. Jahrhunderts.

„Die Passagierin“ in Bregenz

In der Oper „Die Passagierin“, die Weinberg 1968 auf ein Libretto Alexander Medwedews nach der gleichnamigen Novelle der Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz vollendete, dringt die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in noch tiefere Schichten vor, dramatisch wie musikalisch. Denn die Erzählperspektive ist die einer Täterin, wohl einer der Gründe, warum das Werk zu Lebzeiten Weinbergs nicht aufgeführt wurde: Die ehemalige KZ-Aufseherin Lisa wird während einer Schiffsreise durch die Begegnung mit einer geheimnisvollen Mitreisenden, der „Passagierin“ des Titels, auf ihre Vergangenheit zurückgeworfen und muss diese Stück für Stück ihrem Mann, der um seine diplomatische Karriere fürchtet, offenbaren. Die Handlung wechselt zwischen den Szenen auf dem Schiff und den nach und nach immer breiteren Raum einnehmenden Auschwitz-Rückblenden, was in Bregenz von Regisseur Pountney und seinem Bühnenbildner Johan Engels mittels einer klaren horizontalen Trennung der Bühne umgesetzt wurde.

Das Wunder dieser Oper, ihre durch die Zeitzeugenschaft verbürgte Wahrhaftigkeit besteht nun darin, dass Weinberg das Unaussprechliche weder durch vordergründige musikalische Schocks noch durch Betroffenheits-Pathos desavouiert. Die Gebete und Lieder der weiblichen KZ-Häftlinge rund um die Polin Martha, deren Vertrauen Lisa teils aus Sympathie, teils aus Berechnung zu gewinnen sucht, sind von einem melodischen Einfühlungsvermögen, das berührt, ohne die Figuren zu entblößen. Verstärkt wird dieses soghafte Eintauchen in seelische Ausnahmezustände – die intensiven Auseinandersetzungen Lisas mit ihrem Mann in der Rahmenhandlung nimmt Weinberg ebenso ernst – in David Pountneys souveräner, sich ganz in den Dienst des Werkes stellender Inszenierung durch die Entscheidung, nicht wie im Original durchgehend auf Russisch, sondern in den jeweiligen Landessprachen singen zu lassen.

Die Partitur, die neben den eindringlichen Solopassagen und Dialogszenen auch Versatzstücke aus der Unterhaltungsmusik und einen als Lisas Gewissen gleichsam zwischen dieser erodierenden Glamour-Welt an Deck und dem Lager vermittelnden Männerchor kennt, kulminiert in einer musikalischen Konstellation, deren Wirkung in der Operngeschichte des 20. Jahrhunderts singulär sein dürfte: Als die geheimnisvolle Passagierin der Schiffs-Combo einen Zettel zusteckt, und diese den Lieblingswalzer des KZ-Kommandanten zu spielen beginnt, kippt die Szenerie ein letztes Mal ins Lager um. Marthas Verlobter Tadeusz, ein begabter Geiger, soll besagten Walzer zum Besten geben, doch stimmt er stattdessen Bachs Chaconne aus der d-Moll-Partita an, woraufhin sein Instrument zertrümmert und er in die Todeszelle geführt wird. Weinberg dringt hier musikalisch zum Kern des Themas und seiner Behandlung in Form einer Oper vor, verwandelt die unantastbare Würde von Bachs Musik ohne jede Effekthascherei in eine ebenso schlichte wie erschütternde Metapher: Musik als menschliche Antwort auf unmenschliche Zustände, als ein letzter selbstbewusster Versuch, der barbarisch organisierten Vernichtung menschlichen Lebens den Spiegel der Kunst vorzuhalten.

Neben diesem singulären, vom Prager Philharmonischen Chor, einem überragenden Sängerensemble (darunter Elena Kelessidi als Martha, Michelle Breedt als Lisa und Roberto Saccà als ihr Mann Walter) und den von Teodor Currentzis zu einer Höchstleistung animierten Wiener Symphonikern getragenen Aufführung musste die zweite Weinberg-Oper fast zwangsläufig verblassen. „Das Porträt“, nach der Novelle Nikolaj Gogols, ist ein beachtliches Stück Musiktheater, melodisch inspiriert und souverän in der Beherrschung szenischer Übergänge. Nicht vollständig gelungen ist dabei aber die Balance zwischen dem tief empfundenen Künstlerdrama und der Satire auf Gesellschaft und Kunstbetrieb. Daran vermochte auch die ingeniöse, aber im Historischen verharrende Inszenierung von John Fulljames mit ihren in leere Bilderrahmen hineinprojizierten Bildern und die gute Besetzung mit Peter Hoare in der anspruchsvollen Partie des Malers Tschart­kow nichts zu ändern.

Erste Publikationen

Dass pünktlich zum Schwerpunkt in Bregenz auch eine erste Weinberg-Bio­grafie erscheinen konnte (David Fanning: Mieczysław Weinberg. Auf der Suche nach Freiheit, Wolke Verlag, 248 Seiten, 29 Euro, ISBN 978-3-936000-90-0), ist dem enormen Arbeitstempo Fannings und den umfangreichen Vorarbeiten des 2007 verstorbenen schwedischen Dirigenten und Musikforschers Per Skans zu verdanken. Eine ausführlichere wissenschaftliche Publikation Fannings, die Skans als Ko-Autor benennen wird, soll 2011 oder 2012 beim Verlag Toccata Press in englischer Sprache erscheinen. Der bereits vorliegenden Publikation ist die rasche Entstehungszeit an manchen Stellen anzumerken, dennoch ist sie als erster Anhaltspunkt mit den entscheidenden biografischen Informationen sowie Kommentaren zu den wichtigsten Werken unverzichtbar. Eine ideale Ergänzung stellt das Themenheft der Zeitschrift „Osteuropa“ dar (Die Macht der Musik. Mieczysław Weinberg: Eine Chronik in Tönen, hrsg. von Manfred Sapper und Volker Weichsel, 208 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3-8305-1710-8). Hier rücken einzelne Aspekte (etwa in Jascha Nemtsovs jüdische Elemente in den Blick nehmendem Beitrag über die „Gründe für M. Weinbergs Nicht-Rezeption“), zeitgeschichtliche Bezüge (Weinbergs Auseinandersetzung mit Krieg und Holocaust) und einzelne Werke oder Werkgruppen (die Streichquartette, „Die Passagierin“, Filmmusik) auf erhellende Weise in den Mittelpunkt. Beigelegt ist überdies eine CD mit der erwähnten Aufnahme des großartigen sechsten Streichquartetts und der Violasonate (siehe nmz 3-10).

Die Bregenzer Produktionen und Konzerte, die steigende Anzahl von Einspielungen (siehe auch die CD-Rezension auf Seite 44 dieser Ausgabe) und die genannten Buch-Veröffentlichungen sind beredte Zeugnisse dafür, dass der Entdeckung dieser zentralen Komponistenpersönlichkeit des 20. Jahrhunderts nichts mehr im Wege stehen sollte. Eine Zuschauerin sprach am Ende der „Passagierin“ wohl allen Anwesenden aus der Seele, als sie die atemlose Stille vor dem Applaus ohne Pathos, aber mit fest entschlossener Stimme unterbrach: „Bravo, Weinberg.“
 

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