Beck-Neckermann, J.: Handbuch der musikalischen Früherziehung. Theorie und Praxis für die Arbeit in Kindertagesstätten; Verlag Herder; Freiburg im Breisgau 2002.
Beck-Neckermann, J.: Handbuch der musikalischen Früherziehung. Theorie und Praxis für die Arbeit in Kindertagesstätten; Verlag Herder; Freiburg im Breisgau 2002.Ein Anliegen des Handbuchs, so Beck-Neckermann im Vorwort (S. 8), ist es, „Erzieherinnen zu unterstützen, die Gelegenheiten, Möglichkeiten und Potenziale des Spielens mit Musik im elementarpädagogischen Alltag zu entdecken und für ihre pädagogische Arbeit zu nutzen.“ Dabei geht es nicht darum Musik zu lehren, sondern zu ermuntern, Spiele mit Musik wahrzunehmen, anzubieten und in Spielhandlungen zu integrieren, was sich für ihn in der Formulierung „Spielen mit Musik“ (S. 9) widerspiegelt. Mit dieser Sichtweise will sich Beck-Neckermann bewusst von der Vorstellung der musikalischen Früherziehung, wie sie von den Musikschulen angeboten werden, begrenzen. Letztere verfolgt für ihn „einen eindeutigen musikpädagogischen Auftrag“ (ebd.), den er allerdings nicht näher erläutert. Spielen mit Musik oder „elementarpädagogische Arbeit mit Musik“ (ebd.) stellt dagegen nur einen Aspekt pädagogischer Handlungsmöglichkeiten dar. Das, was er unter musikalischer Früherziehung versteht, lässt sich also als elementarpädagogische Arbeit mit Musik bezeichnen. „Im Zentrum der hier vertretenen elementarpädagogischen Arbeit mit Kindern steht das Erleben der Kinder“ (S. 134), die Wirkungen der Musik und das eigene musikbezogene Handeln. Das musizierende Kind wird mit seinen emotionalen, sozialen, kognitiven und motorischen Fähigkeiten zum wesentlichen Moment des Spielens mit Musik (vgl. ebd.). Ein zweites Anliegen des Buches besteht darin, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie „das Spielen mit Musik in den elementarpädagogischen Alltag integriert werden kann“ (S. 9). Dieses verweist auf die folgenden Kapitel.Spielen mit Musik
Im ersten Kapitel geht es um das „Spielen mit Musik in Kindertagesstätten“. Beck-Neckermann hebt hier hervor, dass sich die Art und Weise der Integration eines Spielens mit Musik nach den jeweiligen Gegebenheiten der einzelnen Einrichtung zu orientieren hat. Zum einen sind damit äußerliche Gegebenheiten gemeint, zum anderen aber geht es um die Profilbildung, die innere Gestaltung der jeweiligen Konzeption einzelner Einrichtungen. Neben diesem Aspekt spielt aber auch der Entwicklungsstand der einzelnen Kinder und der Gruppen eine wesentliche Rolle. So kommt er zu einem ersten „Leitbild elementarpädagogischer Arbeit mit Musik“ (S. 22), das genau diese Entwicklungsfrage beinhaltet: „Ausgangs- und Bezugspunkt für das Spiel mit Musik sind die einzelnen Kinder in ihrer individuellen Entwicklung und der Entwicklungsprozess der jeweiligen Kindergruppe“ (ebd.). Spiele mit Musik haben diese Entwicklungsprozesse „zu begleiten, zu unterstützen und zu fördern“ (ebd.).
Entwicklungstheorie
Die entwicklungstheoretischen Hintergründe zu beleuchten ist Aufgabe des zweiten Teils des ersten Kapitels. Dabei leitet Beck-Neckermann sein Bild vom Kind aus fünf Annahmen zur Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung ab: a) Kinder gestalten ihre Entwicklung von Geburt an aktiv mit; b) Persönlichkeitsentwicklung ist ein ganzheitlicher und individueller Prozess; c) Identitätsentwicklung basiert auf Beziehungen; d) Spielen ist ein wesentlicher Motor kindlicher Entwicklung und e) Persönlichkeitsentwicklung ist ein lebenslanger Prozess (vgl. S. 25). Die hier gegebenen Einblicke sind sehr kurz und müssten durch weiterführende Literatur ergänzt werden. Was mir dagegen gefällt, ist dass der Leser nach jedem Punkt aufgefordert wird, von dem entwicklungspsychologischen Blick aus auf den Bereich Spielen mit Musik zu reflektieren.
Das zweite Kapitel „Musik als Spiel-, Erfahrungs- und Gestaltungsfeld“ geht von verschiedenen Perspektiven aus, die sich aus dem musikalischen Handeln der Kinder ergeben. Beck-Neckermann unterscheidet hier zwischen der prozess- und erlebnisorientierten, der persönlichkeits- und entwicklungsorientierten und der werk- und ergebniszentrierten Perspektive (vgl. S. 43 ff.). Aus der ersten Perspektive heraus geht es darum, das Verbindende gemeinsamer Aktivitäten, etwa im Erstellen von Klanggeschichten, zu verdeutlichen. Unter Berücksichtigung der zweiten Perspektive, der Beobachtung momentanen Verhaltens, gilt es, geeignete Musikangebote zu machen. Aus der dritten Perspektive heraus würde man etwa dem Instrumentenselbstbau, der konkreten Gestaltung eines Musikstücks, vielleicht aber auch dem Werkhören mit anschließender Reflexion den Vorzug geben. Letztlich geht es darum, Einblicke zu bekommen in die Beziehungen zwischen den Kindern und deren Lebenswelt.
Situations-Analysen
Aus dem musikalischen Handeln heraus lassen sich nach Beck-Neckermann vier verschiedene Situations-Ansätze für das Spielen mit Musik herauslösen: Spiel und Musik als Wahrnehmungssituation, als Ausdrucks- und Kommunikationssituation, als emotionales Geschehen und/oder als Spiel- und Gestaltungssituation (vgl. S. 47). Alle vier Ansätze werden im Folgenden ausführlich dargestellt. Wichtig erscheint mir, was auch von Beck-Neckermann betont wird, dass diese Ansätze nicht zusammenhangslos nebeneinander stehen, sondern sich wechselseitig durchdringen. Es lassen sich also aus beobachtbaren Situationen unterschiedliche Schwerpunkte für nachfolgendes Handeln ableiten.
Kapitel 3 beschäftigt sich ausführlich mit den „Erlebnisfelder(n) elementarpädagogischer Arbeit mit Musik“. Es entsteht im günstigsten Fall eine Art Landkarte, die alle Möglichkeiten des Spielens mit Musik aufzeigt und die je nach Vorstellung, Wunsch oder Bedarf bereist werden kann. Als Erlebnisfelder erscheinen Beck-Neckermann die Wahrnehmungs-, die Ausdrucks-, die Reflektionsfähigkeit, Kommunikation und Interaktion, Emotion, Ästhetik, Kreativität, soziales Handeln und der Sach-, Themen- und Weltkontakt (vgl. S. 87 ff.). Doch vor den Erlebnisfeldern steht der Prozess der Zielfindung und -setzung, denn jedes pädagogische Handeln basiert bewusst oder unbewusst auf Zielvorstellungen. Pädagogischen Zielsetzungen liegen Entscheidungen zugrunde, einzelne Aspekte zu fokussieren. Diese Entscheidungen basieren ihrerseits unter Umständen auf der Wahrnehmung einer Situation, die ich durch eine Zielsetzung strukturieren möchte, der ich (für mich, eventuell auch für den anderen) einen Sinn geben will. Meine Zielsetzungen haben dabei unterschiedliche Reichweiten und sie geben Entwicklungsrichtungen vor. All das wird von Beck-Neckermann sehr anschaulich beschrieben. Zielsetzungen ergeben sich nicht von selbst, sondern sie müssen „kontext-, situationsbezogen und kindzentriert entwickelt werden“ (S. 77). Hinzu kommt, dass diese Zielsetzungen, sollen sie nicht entmündigend wirken, eine gewisse Transparenz für alle beteiligten Personen brauchen. Die Zielsetzungsprozesse, die der Autor hier beschreibt, machen deutlich, dass Musik hier nur als ein mögliches Medium gesehen wird, die Ziele zu erreichen. In Beck-Neckermanns Beispielen zeigt sich für mich der Unterschied zwischen musikalischer Früherziehung in Kindertagesstätten und in der Musikschule.
Spiel mit Musik begleiten
„Das Spiel mit Musik begleiten“ ist das zentrale Anliegen des vierten Kapitels. Es geht hier um eine Entwicklungsbegleitung der Kinder. Um diese realisieren zu können, sind eine einfühlsame Beobachtung, eine anschließende Reflexion, eine Planung, die Impulse setzt, und eine erneute Reflexion von Nöten. Diesen Aspekten widmet sich der erste Teil des Kapitels. Es folgt ein Fallbeispiel, um die Handlungsmöglichkeiten der Erzieher/-innen aufzuzeigen. Gerade der Abschnitt über die Wahrnehmung und die Beobachtung der Spielwelt der Kinder enthält sehr viele Sachverhalte, die sich differenziert beobachten lassen. Dabei stellt der Bereich „Spiele mit Musik“ nur einen speziellen Bereich dar. Ganz wesentlich scheint mir dabei zu sein, dass Spielangebote, ob nun mit oder ohne Musik, nicht an den Kindern vorbeigeplant werden.
Methodische Grundlagen
Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit den „methodische(n) Grundlagen des Spielens mit Musik“. Diese lassen sich nicht aus der Theorie auf die Praxis übertragen, sondern sie sollen an der Praxis, aus dem Kontakt zu den Kindern heraus entwickelt und ausprobiert werden. Theoretische Überlegungen können deshalb immer nur modellhaften Charakter haben. Dennoch stellt der Autor sechs „Orientierungsmarken für das Anleiten und Begleiten des Spielens mit Musik“ (S. 109) heraus. Eine dieser Orientierungsmarken ist das intermediäre Spiel. Das Spiel selbst ist grenzüberschreitend, es besitzt einen „Drang zur Integration unterschiedlicher Ausdrucksmedien“ (S. 110), was wiederum auch für die Musik zutrifft. Was also liegt näher als in Spielhandlungen auch Spiele mit Musik einfließen zu lassen. Neben theoretischen Reflexionen gibt Beck-Neckermann hier auch „eine Auswahl intermedialer Spielformen“ (S. 114). Da ist zunächst das Musik- und Bewegungsspiel, dessen Beziehungen vielfältig und unterschiedlich akzentuiert und differenziert sein können. Auch zum Musik- und Sprachspiel werden verschiede Perspektiven angeboten. Ebenso zum Musik- und Farbspiel, wie auch zum Musik- und Figurenspiel. „Intermediale Quergänge dienen dazu, die Wahrnehmungs- und Ausdrucksmöglichkeiten der Kinder zu erweitern und deren Erleben beim Spiel zu vertiefen“ (S. 117). Dies gilt für alle Spiele und für musikbetonte Spiele besonders. Eine weitere Orientierungsmarke betrifft das Anleiten musikalischer Spielprozesse, was nach Meinung des Autors ein hohes Maß an Sensibilität und Flexibilität erfordert, will man seine eigenen Handlungsimpulse und die der Kinder unter einen Hut bringen. Als Unterscheidungskriterien bietet er hier den Ausdrucks-, den Struktur- und/oder den Prozessaspekt von musikalischen Spielsituationen an, die dann eben auch die Perspektiven bieten, auf denen Spiele initiiert werden können. Das Spiel mit Polaritäten (vgl. S. 124 ff) stellt eine weitere Orientierungsmarke dar. Unter Polaritäten versteht der Autor „eine Beziehung zwischen sich ergänzenden Gegensätzen“ (S. 124). Angesprochen ist hier der Umgang mit den musikalischen Parametern ebenso wie die Sozialform des Spiels. Eine weitere Orientierungsmarke fragt nach den Themen und den Materialien des musikalischen Spiels, die wiederum sehr vielfältig sind, die sich aber nicht von dem unterscheiden, was dem kundigen Leser ohnehin schon bekannt ist. Eine fünfte Orientierungsmarke stellen die räumlichen und zeitlichen Möglichkeiten für das Spielen mit Musik dar (vgl. S. 135 ff.). Die hier vorgetragenen Ideen basieren auf dem Umstand, dass in Kindertagesstätten Spiele mit Musik „keine Sonderveranstaltung, sondern alltäglicher Bestandteil“ (S. 135) der Arbeit sind. Dazu passt auch die letzte Orientierungsmarke, wonach über musikalisches Erleben kommuniziert wird.
Die folgenden 90 Seiten geben Einblicke in die praktische Arbeit des Spielens mit Musik. Die hier angeführten und vielfältig reflektierten Beispiele beziehen sich auf erste Kontakte zu Musikinstrumenten, auf Spiele mit der Stimme, die hier nicht nur das Singen von Liedern umfassen, auf das Entwickeln und den Umgang mit graphischer Notation, auf stimmliche und instrumentale Klangexperimente, auf Klangspiele und Klanggeschichten und auf Bewegungsbegleitung.
Einem kurzen Schlusswort folgt ein, bezogen auf die Qualität eines Handbuchs unvollständiges Literaturverzeichnis und eine kurze, meiner Meinung nach überflüssige Adressenliste für den Instrumenteneinkauf. Was mir auch fehlt, ist die historische Entwicklung des Fachs. Auch sie gehört zu einem Handbuch dazu. Wenn Beck-Neckermann sein Buch Handbuch der musikalischen Früherziehung nennt, so geht das begriffliche Verwirrspiel von ihm aus. Warum nennt er es nicht Handbuch der elementarpädagogischen Arbeit mit Musik? Warum überhaupt der Versuch, sich abzugrenzen, wo doch der Tatbestand der Elementaren Musikpädagogik sowohl für Erzieher/-innen als auch für Musikschullehrer/-innen Gelegenheit böte, auf einem gemeinsamen Fundament eigene Schwerpunkte zu setzen.
Trotz der eben angesprochenen Mängel und einer letztlich doch wohlwollenden Kritik: Das Handbuch ist sicherlich nicht nur interessant für Erzieher/-innen, sondern auch für Musikschullehrer/-innen. Dies bezieht sich sowohl auf den theoretischen als auch auf den praktischen Teil.