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150 Jahre Laienmusizieren: Das Orchester Berliner Musikfreunde 1924 und heute. Fotos: OBM
150 Jahre Laienmusizieren: Das Orchester Berliner Musikfreunde 1924 und heute. Fotos: OBM
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Mozart mit Tanz bis fünf Uhr früh

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Das „Orchester Berliner Musikfreunde“ feiert sein 150-jähriges Bestehen
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Die Überreste des Wortes „Kammermusiksaal“ sind noch zu entziffern über dem Eingang des Askanischen Gymnasiums, einem denkmalgeschützten Gründerzeitbau in Berlin-Kreuzberg. In der Trümmerlandschaft der Nachkriegszeit fanden in der frisch renovierten ehemaligen Aula, „im schönsten und würdigsten Konzertraum Groß-Berlins“, wie es seinerzeit in einer Anzeige hieß, Kammerkonzerte statt. Und das „Orchester Berliner Musikfreude“, kurz OBM, fand hier nach dem Krieg seine Heimstätte. Im Keller des Gebäudes, das heute von einer Grundschule genutzt wird, lagert das Notenarchiv. Die Aula liegt im dritten Stock, kein Aufzug. Jeden Donnerstagabend tragen um die 60 Musiker ihre Instrumente treppau:, Flöte, Trompete, Kontrabass.

An diesem Abend, Sonnenstrahlen fallen schräg durch die hohen Fenster, liegt auf den Notenständern die „Akademische Festouvertüre“ von Johannes Brahms, Teil des Festkonzerts im Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Am Dirigentenpult steht die Japanerin Yukari Ishimoto, zierlich, energisch, akkurate Bewegungen. Seit 13 Jahren ist sie Chefin des OBM. Buchstäblich über Nacht war sie eingesprungen, als der damalige Dirigent schwer krank wurde, auch da stand Brahms auf dem Programm, die Erste Sinfonie. Und es muss Liebe auf den ersten Blick gewesen sein: Wenig später wählte das OMB sie zu seiner Leiterin.

Konzentriert, aber entspannt ist die Probenatmosphäre, es wird viel gelacht. Yukari Ishimoto feilt an Klang, Intonation, Artikulation, lässt mal die Celli alleine spielen – „habt ihr gehört, wie die Geigen gespielt haben? Nicht so locker, viel intensiver!“ – mal das tiefe Blech. „Du hast da ein bisschen zu viele Noten gespielt“, ist einer ihrer typischen freundlich-knappen Kommentare, an die Paukistin gerichtet. Roswitha de la Chevallerie legt die Paukenschlegel zur Seite und schaut aufmerksam in die Noten. Im Pensionsalter hat die ehemalige Musiklehrerin, die früher Geige spielte, das Instrument für sich entdeckt, seither schlägt das Herz der mittlerweile 80-Jährigen für die Pauke.

In gewisser Weise ist sie der Prototyp des OBM-Mitglieds: Freude an der Musik wird großgeschrieben. Jeder, der mitmachen möchte, ist willkommen. Es gibt keine Altersgrenze und kein Probespiel – wer dem anspruchsvollen Repertoire nicht gewachsen ist, bleibt bald von alleine weg, meint der der Klarinettist Rainer Vogt, der lange Jahre Vorstandsvorsitzender war. Der Jüngste ist gerade mal 15, die Ältesten sind jenseits der 80. Gerne erzählt wird die Geschichte von dem betagten Bratschisten, dem die Bratsche die Treppe hochgetragen wurde, weil er sich mit einer Hand am Geländer hochziehen musste und in der anderen den Krückstock hielt. Er saß am ersten Pult, „neben ihm ein Kollege, der ihm das Ins­trument stimmte, auch gelegentlich den Finger auf der Saite verrutschte.Und die Ehefrau des damaligen Dirigenten hat ihm, weil er finanziell nicht gut gestellt war, Batterien für sein Hörgerät gekauft“ – und er spielte bis zu seinem Lebensende in der Bratschengruppe mit. Eine Anekdote, die aus der Sicht von Rainer Vogt den Geist des Orchesters auf den Punkt bringt.

Vogt ist so etwas wie das lebende Gedächtnis des OBM: Der pensionierte Musiklehrer ist seit 1969 dabei und damit einer der Dienstältesten. Und seit er sich für’s 125-jährige Jubiläum 1991 durch’s Archiv gewühlt hat, kennt er es wie kaum ein anderer: Programmzettel, Zeitungsausschnitte, Fotos aus der frühen Orchestergeschichte von ernst dreinblickenden Herren in dunklen Anzügen – Frauen wurden ab 1906 zugelassen –, Platzkarten, die einst festlegten, an welchem Pult ein Orchestermitglied sitzen durfte, und die auch die „Platz- und Notenordnung“ erhielten: „Bei Unpünktlichkeit und wiederholtem unentschuldigten Fehlen kann dem Inhaber der feste Platz entzogen werden“, heißt es da, und: „Nach Schluß des Spielabends sind die Noten geordnet in die Pultmappe zu legen und die Mappe zu schließen.“ Deutsche Gründlichkeit im Laienorchesterleben.

Traditionslinien

Überhaupt blättert sich beim Blick in die Dokumente, von denen Rainer Vogt und seine Mitstreiter viele in der lesenswerten Festschrift zusammengetragen haben, ein Bilderbogen der Berliner Kultur- und Sozialgeschichte auf. Die ersten reichen in eine Zeit zurück, in der das bürgerliche Musikleben in Berlin mächtig Fahrt aufnahm: Die Hofkapelle veranstaltete „Symphonie-Soiréen“ für ein Abonnentenpublikum, überall in der Stadt konnte man Kammermusik hören, Hotelsäle, Vereinsräume, Privatsalons wurden zu Konzertsälen. Mitte des 19. Jahrhunderts verschonte das grassierende Klavierfieber kaum ein Wohnzimmer, Notenverleiher machten gute Geschäfte – das „Musikalien-Leih-Institut“ der Berliner Firma Bote und Bock hatte um 1860 rund 40.000 Titel im Sortiment –, eine musikalische Ausbildung gehörte nicht nur für die sprichwörtlichen „höheren Töchter“ zum guten Ton. Ein fruchtbares musikalisches Klima also, in dem das OBM 1866 als „Berliner Dilettanten Orchester Verein“ gegründet wurde. Seine Wurzeln reichen sogar noch weiter zurück, ins Umfeld der Sing-Akademie zu Berlin: der erste gemischte Chor der Welt, gegründet 1791 und bald weit über die Stadt hinaus für seine hervorragenden Bach-Aufführungen bekannt. Bei chorsinfonischen Werken stand der Sing-Akademie die Philharmonische Gesellschaft, ein Zusammenschluss von professionellen Musikern und fähigen Amateuren, zur Seite, auch bei jenem denkwürdigen Konzert, in dem Felix Mendelssohn die Matthäuspas­sion wieder ans Licht holte. Und als sich die Philharmonische Gesellschaft 1872 auflöste, schlossen sich viele Mitglieder dem „Berliner Dilettanten Orchester Verein“ an, weswegen sich das heutige OBM stolz auf eine Ahnengalerie bis hin zu Mendelssohn berufen kann.

Auch sonst fallen beim Blick in die Geschichte große Namen ins Auge: Joseph Joachim, Freund von Johannes Brahms und einer der renommiertesten Geiger seiner Zeit, trat als Solist mit dem Orchester auf, später das geigende Wunderkind Mischa Elman. Und 1941 übernahm ein später berühmter Student der Hochschule für Musik den Dirigentenstab: Sergiu Celibidache. Seine Arbeit mit dem Orchester blieb ein Intermezzo, dem das Kriegsgeschehen ein Ende setzte. Aber als Carl A. Bünte, später Leiter der Berliner Symphoniker, 1950 ans Pult trat, wurde die Tradition des OBM nahtlos wieder aufgenommen.  In vielem ist sich das Orches­ter seit den Anfangsgründen treu geblieben. So ging die Hochkultur seit jeher eine zwanglose Verbindung mit der Unterhaltung ein. Ein Plakat von 1899 kündigt „nach dem concert gemüth­liches Beisammensein mit Tanz“ an, und in den 1920ern vermerkt das Programm eines Mozart-Konzerts mit anschließendem Ball: „Schluß um fünf Uhr morgens“. Heute gehört, etwas weniger ausschweifend, für viele Orchestermusiker der Besuch beim Griechen um die Ecke zum festen Donnerstagabend-Ritual.

Auch Wohltätigkeitsveranstaltungen waren von Beginn an fester Bestandteil der Orchesteraktivitäten. Anfang des 20. Jahrhunderts spielte man „zum Besten der Freiwilligen Erziehungsberatung für schulentlassene Waisen“, während des Ersten Weltkriegs für die „Beschaffung von Liebesgaben für das im Felde stehende Reserve-Infanterie-Regiment No. 93“. Im 21. Jahrhundert gelten Benefizkonzerte den Opfern des Tsunamis von 2005 oder der Atomkatas­trophe von Japan 2011, man lädt UNICEF zum Spendensammeln ein und unterstützt mit dem traditionellen Sommerkonzert die örtliche Kirchengemeinde.

Alles in allem eine erstaunliche Kontinuität angesichts der Umwälzungen, die auch aus der Musikwelt in anderthalb Jahrhunderten eine andere gemacht haben: Als das „Orchester Berliner Musikfreunde“ gegründet wurde, war von den Berliner Philharmonikern noch nichts zu sehen, sie erblickten erst 1882 das Licht der Welt, von Rundfunkorchestern ganz zu schweigen. Und der Phonograph, der einige Jahre später Musik in die Wohnzimmer bringen sollte, war noch nicht erfunden. Heute offerieren in Berlin acht professionelle Sinfonieorchester allabendlich musikalischen Hochgenuss, via Internet ist nahezu jedes gewünschte Musikstück in Sekundenschnelle verfügbar.

Lebendige Spezies

Und dennoch sind Laienorches­ter wie das OBM keineswegs eine aussterbende Gattung, im Gegenteil: Im „Bundesverband Deutscher Liebhaberorches­ter“ sind derzeit 812 Orchester vereint, „mit steigender Tendenz“. Dazu kommen nach Schätzungen des Geschäftsführers Torsten Tannenberg mindestens 300 weitere Orchester, etwa an Schulen und Musikschulen. Und sie bilden einen wichtigen Nährboden für das reichhaltige musikalische Leben in Deutschland. „Es ist ein großer Unterschied, ob man Musik hört, also passiv konsumiert, oder Musik macht“, meint der Klarinettist Rainer Vogt, der auch Vorsitzender des Landesverbandes Berlin-Brandenburgischer Liebhaberorches­ter ist. „Dadurch dringt man viel tie­fer in die Musik ein, auch wenn das, was man dann macht, nicht zur Spitzenqualität gehört.“ Auf den Programmen der Amateure findet sich auch abgelegenes, wenig verkaufsträchtiges Repertoire – beim OBM in den letzten Jahren etwa das Doppelkonzert für Klarinette und Viola von Max Bruch oder die Erste Orgelsinfonie des französischen Romantikers Alexandre Guilmant. Die Musiker erreichen über ihre persönlichen Kontakte Zuhörer, die sonst selten den Weg in den Konzertsaal finden. Und nicht zuletzt bieten Laienorchester dem Nachwuchs ein Forum. Das OBM lädt neben namhaften Profis immer wieder junge Musiker am Beginn ihrer Karriere als Solisten ein; eine unschätzbare Gelegenheit, Erfahrungen vor dem Orchester zu sammeln und sich in gro­ßen Sälen wie der Berliner Philharmonie vorzustellen.

All das ist nur möglich, dank des Engagements der Mitglieder. Denn das OBM muss ohne Zuschüsse und Sponsoren auskommen, und so stemmen die Musiker alles selbst: von der Beschaffung der Noten bis zum Instrumententransport, vom Entwurf der Handzettel, die beim Supermarkt, beim Arzt, in der Bücherei um die Ecke ausgelegt werden, bis zum Kartenverkauf im Bekanntenkreis – den Rekord, so ist zu vernehmen, hält ein über 80-jähriger Schlagzeuger, der für ein Konzert schon mal 200 Karten an den Mann brachte. Vor allem für die Vorstandsvorsitzende, die Cellistin Evelyne Kuß, ist die Arbeit „vergleichbar mit einer Halbtagstätigkeit in einem normalen Job“. Entschädigt werden sie und ihre Kollegen durch die Freude an der Musik – und die Begeisterung des Publikums: Von einer Auslastung von um die 80 Prozent in der Berliner Philharmonie, wie das OBM sie einmal im Jahr zustande bringt, können so manche Profis nur träumen.In diesem Sinne sind dem OBM noch 150 weitere glückliche Jahre zu wünschen – mindestens!

Die Festschrift ist zum Preis von 3,00 Euro zuzügl. Versandkosten bei der Geschäftsstelle des OBM erhältlich: www.obm-ev.de

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