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Utopie polyästhetischer Vereinigung: Alexander Skrjabin (1872–1915)
Utopie polyästhetischer Vereinigung: Alexander Skrjabin (1872–1915)
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Musik als Mysterium und Ekstase

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Zum 100. Todestag des Komponisten und Visionärs Alexander Skrjabin
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Als Mischung aus den verstaubten Archiven Chopins und der Sonne van Goghs beschrieb der Schriftsteller Boris Pasternak einmal die Musik seines Landsmanns Alexander Skrjabin. Bei Henry Miller erzeugte sie Empfindungszauber aus Eisbad, Kokain und Regenbogen. Woher kommt diese suggestive, geradezu körperliche Reizwirkung? Skrjabin war nicht nur Komponist einer Musik, die – besonders auf dem Klavier – Grenzen überschreitet. Er war zugleich ein Mystiker und Prophet, der die Welt mit seiner Kunst in einen Zustand ekstatischer Verwandlung versetzen wollte. Das belegen seine mystisch-dichterischen Schriften, aber auch zahlreiche programmatische Überschriften in seinen Partituren. Sie verweisen auf die enge Verbindung von Musik und Mystik und kreisen um drei zentrale Motive: Die Sehnsucht nach Ekstase, die Sphäre des Negativen und deren Überwindung sowie das rauschhafte Erreichen der Ekstase.

Spätestens seit der Zeit seiner Aufenthalte in der Schweiz, also etwa seit dem Jahr 1904, beschäftigte sich Skrjabin intensiv mit der Formulierung seiner Ekstaseidee. Wie bei den Dichtern des russischen Symbolismus mischten sich dabei eschatologische Vorstellungen mit einem geradezu messianischen Sendungsbewusstsein. Besonders beeinflusst wurde Skrjabin durch die intensive Lektüre von Arthur Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“, Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ und von der Geheimlehre der Theosophin Helena Blavatsky. Die Ekstase war für ihn letztes Ziel und Erlösung des Daseins. Im Unterschied zum asketischen Ideal Schopenhauers dachte Skrjabin sich die Ekstase allerdings höchst erotisch, nämlich als kosmischen Liebesakt, den seine Kunst auslösen sollte.

Mit seinem 1908 uraufgeführten Orchesterwerk „Le poème de l’extase“ hat Skrjabin nicht nur zu einer von der Ekstaseidee durchdrungenen musikalischen Sprache gefunden, sondern in der gleichnamigen Dichtung auch seine Vorstellung von der Ekstaseentwicklung in anschaulicher Weise formuliert: Von schöpferischer Sehnsucht getrieben, erschafft sich der Geist da eine Zauberwelt aus sehnsüchtigen Träumen und gerät nach der Überwindung drohender Mächte in einen ekstatisch-chaotischen Freudentaumel. Danach beginnt diese Entwicklung auf einer höheren Stufe von neuem. Der dritte, wiederum gesteigerte Entwicklungsumlauf kulminiert schließlich in der kosmischen Vereinigung, im alles umfassenden Liebesbrand. Die in Skrjabins „Gedicht der Ekstase“ beschriebene Entwicklung lässt sich am ehesten als Spiralverlauf zu immer höherer Steigerung und gleichzeitiger Rückkehr charakterisieren. Auch das einsätzige, in freier Sonatensatzform angelegte Orchesterwerk „Poème de l’extase“ entspricht dieser spiralförmigen Entwicklung. Der musikalische Verlauf schraubt sich gleichsam in mehreren Umdrehungen der mystischen Dramaturgie „Sehnsucht–Kampf–Ekstase“ auf immer höhere Stufen.

Töne, Farben, Düfte

Skrjabin wollte die Ekstase aber nicht nur ästhetisch symbolisieren. Er wollte sie mit seiner Kunst tatsächlich verwirklichen. So plante er als letztes und größtes Projekt ein Mys­terium, eine Art synästhetisches Ritual aus Tönen, Farben, Düften, Geschmacksempfindungen, Bewegungen und Körperkontakten. Das Mysterium sollte in einem orgiastischen Tanz seiner Teilnehmer kulminieren und die kosmische Ekstase auslösen. Im Orchesterwerk „Prometheus“ von 1911 hatte sich Skrjabin mit der Verbindung von farbigem Licht und einer eigenen Klangzentrenharmonik erstmals um die Realisation seiner synästhetischen Visionen bemüht. Der Plan zu einem zweiten multimedialen Werk mit dem Titel „L’Acte préalable“ (Vorbereitende Handlung) signalisiert allerdings ein Aufschieben der eigentlichen Mysteriumsidee. Dieses im Sommer 1913, also zwei Jahre vor seinem Tod, begonnene Werk sollte lediglich die Entwicklung zur Ekstase imaginieren und der Vorbereitung des „Mysteriums“ dienen. Die dazu erhaltenen Textfragmente zeigen deutlich, dass Skrjabin die Ekstase als einen finalen „All-Orgasmus“ verstand, als die erotisch-spirituelle Metamorphose aller materiellen Existenz in reine Energie. Der von Skrjabin noch als Mysteriums-Vorzeichen begrüßte Ausbruch des Ersten Weltkriegs, vor allem aber sein früher Tod im Jahr 1915 setzten den Mysteriums-Plänen ein jähes Ende. Es ist tragikomisch, dass der sich als gottgleich empfindende Skrjabin ausgerechnet an einem kleinen Lippenfurunkel mit anschließender Blutvergiftung gestorben ist.

Entfaltung, Steigerung, Rückkehr

1914, etwa ein Jahr vor seinem Tod, komponierte er eines seiner letzten musikalischen Werke: das Klavierpoème „Vers la flamme“. Dieses Werk verleiht seiner Ekstasevision auf einzigartige Weise musikalischen Ausdruck. Entfaltung, Steigerung und Rückkehr verbinden sich hier beispielhaft in einer spiralförmigen Entwicklung, wo nichts so bleibt, wie es am Anfang war, und wo alles in höherer Entfaltung wiederkehrt. Schon durch den Titel „Vers la flamme“, aber auch einer Äußerung Skrjabins entsprechend, nach der hier „alles nach und nach aufblüht“ und aus „Nebel zu blendendem Licht“ sich entwickelt, verweist das Werk auf die Feuer- und Lichtmetaphorik seiner Ekstasevorstellung. Harmonisch folgt das Poème dem von Skrjabin selbst entwickelten Modell des aus Quarten gebildeten Klangzentrums. Die in „Vers la flamme“ auch auf der motivischen Ebene erkennbare Tendenz zur Verwirklichung eines organischen, an Goethes Metamorphose der „Urpflanze“ erinnernden „Alles aus Einem“ sollte über die Reihen- und seriellen Techniken bis in die Formel-Kompositionen eines Karlheinz Stockhausen aktuell bleiben. Bis zum Schluss des Poèmes wird ein charakteristischer Kleinsekundschritt wie eine rituelle Beschwörungsformel durchgehalten und dabei im Ausdruck immerzu gesteigert. Die verschiedenen Phasen dieser Entwicklung mit ihrer brodelnden Polyrhythmik, ihren flirrenden Akkordtremoli und schwirrenden Trillerketten sind nicht starr voneinander getrennt, sondern verbinden sich zu immer umfassenderen Synthesen. Dabei trans-zendieren sie gleichsam den Horizont des Klavierklangs. Sie drängen weit über die fixierten Tonhöhen des Klaviers hinaus zu klangfarblichen oder rhythmischen Wirkungen, wie sie später bei Henry Cowell, George Antheil oder John Cage zum Einsatz kommen sollten. Nach mehreren Steigerungsphasen kulminiert das Klavierstück schließlich in einem rauschhaft-triumphalen Aufflug, in dem sich das musikalische Geschehen analog zur Entmaterialisierung in Skrjabins Ekstasevorstellung auflöst.

Auch wenn Skrjabins Ekstasevisionen über die Ebene einer künstlerischen Symbolisierung nicht hinauskamen, verdanken wir ihnen doch höchst eigenwillige Werke von irritierender Suggestivkraft. Sie inspirierten spätere ekstatische Grenzüberschreitungen wie das „Orgien-Mysterien-Theater“ des Hermann Nitsch oder den kosmologisch-kunstreligiösen „Licht“-Zyklus von Karlheinz Stockhausen. Zukunftsweisend waren auch Skrjabins synästhetische Vorhaben, die sich erst mit Hilfe heutiger Medientechnologien wie Laserprojektionen und Computeranimationen adäquat realisieren lassen. Und nicht zuletzt antizipierte der russische Komponist und Mystiker mit seiner Utopie einer universalen, polyästhetischen Vereinigung und Transformation das heutige Multimedia-Zeitalter mit den Perspektiven einer zunehmenden Vernetzung und Virtualisierung unserer gesamten Lebenswelt.

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