Weniger eindeutig fallen die Antworten aus, wenn man Vertretern aus der Wirtschaft die gleiche Frage stellt. In Personalabteilungen von Unternehmen erntet man nicht selten ein gleichgültiges Achselzucken oder die lapidare Bemerkung, es sei völlig schnurz, ob ein Mitarbeiter jemals mit Musikunterricht in Berührung kam. Musikalische Ausbildung scheint für viele Bereiche der Wirtschaft nicht von Bedeutung zu sein, im Idealfall ist sie ein gern gesehenes Bildungsrelikt.
* höre auch taktlos # 26 real-audio Fragt man einen Schulmusiker nach der Bedeutung des schulischen Musikunterrichts für die Gesellschaft, dürfte die Antwort klar sein. Nicht nur aus Überzeugung, sondern auch aus purem Selbsterhaltungstrieb. Weniger eindeutig fallen die Antworten aus, wenn man Vertretern aus der Wirtschaft die gleiche Frage stellt. In Personalabteilungen von Unternehmen erntet man nicht selten ein gleichgültiges Achselzucken oder die lapidare Bemerkung, es sei völlig schnurz, ob ein Mitarbeiter jemals mit Musikunterricht in Berührung kam. Musikalische Ausbildung scheint für viele Bereiche der Wirtschaft nicht von Bedeutung zu sein, im Idealfall ist sie ein gern gesehenes Bildungsrelikt. Headhunter Klaus Leciejewski bringt dieses Phänomen auf den Punkt: „Es ist sozusagen wieder ‚in‘, eine breite humanistische Bildung zu haben. Im mittleren und oberen Management werden auch wieder sehr stark Konzerte frequentiert. Das gehört einerseits zum guten Ton, andererseits entspricht es aber auch einem tiefen Bedürfnis unserer Zeit, in der auch die Manager ungeheuer vielen Einflüssen tagtäglich ausgesetzt sind, und Musikerlebnisse spielen dabei die Rolle eines ruhenden Punktes, eines Ausgleiches, quasi eines Kurzurlaubes, aber auch eines mentalen Erlebnisses, das hilft, diese Informationsflut und die Entscheidungszwänge, unter denen ein Manager steht, zu bewältigen.“Musik also quasi als gesellschaftsfähige Selbsttherapie gestresster Manager? Kein besonders schlagkräftiges Argument für die Notwendigkeit von schulischem Musikunterricht für das Arbeitsleben. Stellen wir uns doch einmal ganz einfach die Frage: Ist Musikunterricht überhaupt notwendig? Sollte nicht derjenige, der Interesse daran hat, zur Musikschule gehen und dort ein Instrument oder das Noten lesen lernen? Nur ein geringer Prozentsatz der Schüler ergreift den Beruf des Musikers oder eine andere künstlerische Profession, warum sollte der Musikunterricht also nicht abgeschafft werden? Man mag einwenden, die Aneignung des kulturellen Erbes unserer abendländischen Geschichte sei wichtig sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft als Ganzes. Aber seien wir doch einmal ehrlich: Haben wir uns in fast allen Bereichen der Ausbildung nicht schon längst von diesem humanistischen Ideal der allgemeinen Menschenbildung verabschieden müssen? Warum sollten wir der Schulmusik also einen pädagogischen Schonraum gönnen?
Diese Fragestellung betrifft sicherlich nicht nur den Musikunterricht. Führt man den Gedankengang weiter, muss man auch nach der Berechtigung von Sportunterricht, Kunstunterricht und sogar Geschichtsunterricht fragen. So gesehen könnte man die Schulausbildung auf die Aneignung für das Arbeitsleben notwendiger Kompetenzen beschränken, das heißt Lesen, Schreiben, Rechnen – und im Zeitalter des World Wide Web natürlich Computer und Internet. Aber: Sind in unserer modernen Arbeitswelt, in der es immer mehr auf Ideen, schnelle Reaktionen und Kommunikation ankommt, nicht andere Kompetenzen ebenso wichtig? Wie sieht es mit interdisziplinärem Denken, Kreativität, Konzentrationsvermögen oder sozialer Kompetenz aus?
Für Personalberater Claus Harten ist die Rolle der musikalischen Ausbildung dabei von zentraler Bedeutung: „Sich ausdrücken lernen, auch emotionale Inhalte ausdrücken lernen, alles, was mit nonverbaler Kommunikation zu tun hat, aber auch mit Konzentration, Disziplin, Ausdauer, Kreativität, Zielorientierung, Motorik – das ist genau das Besondere an der Musik. Sie bringt Emotion, Intellekt, und Körper zusammen und in die persönliche Entwicklung hinein. Das ist genau das, was in der Wirtschaft heute von sehr fortschrittlichen Führungskräften verlangt wird. Aber das müsste der Öffentlichkeit viel deutlicher gemacht werden und auch in der Wirtschaft viel bekannter sein. Sonst geht es der Schulmusik eines Tages so wie dem Griechisch-Unterricht, dessen gesellschaftliche Notwendigkeit einfach nicht mehr erkannt wurde und der jetzt bis auf ganz wenige Gymnasien irgendwo im Lande abgebaut ist.“
Die Zeit drängt. Es muss ein Bewusstsein in der Gesellschaft und insbesondere in der Wirtschaft geweckt werden. Die Schulmusik darf nicht aus ihrer Nische heraus abwarten, bis engagierte Politiker für ihre Belange Partei ergreifen. Sie muss einerseits selbstbewusst dem kulturpolitischen Rotstift entgegentreten, sich andererseits aber auch selbst an die Nase fassen und über ihre nicht selten veralteten Unterrichtsformen nachdenken. Wo sich Musikunterricht auf reines Rezipieren sogenannter Meisterwerke der Musikgeschichte, stereotype Notenlernübungen oder kollektives Volksliedsingen beschränkt, hat er tatsächlich seine Berechtigung eingebüßt. Themen wie Neue Musik, Improvisation, Tanz oder Filmmusik müssten in den Unterricht einfließen.
Claus Hartens Einstellung zum heute praktizierten Musikunterricht ist radikal und visionär gleichzeitig: „Ich würde den Musikunterricht, so wie er jetzt ist, abschaffen. Ich sehe die Schulmusik als Koordinationsstelle für eine Art musikalischen Pflichtfachunterricht. Es geht heute im Grunde genommen darum, den Kindern ein Netzwerk anzubieten. Das heißt, ein musikalisches Fach könnte Pflicht sein, aber ob das an der Schule stattfindet oder ob ich es in der Musikschule mache, ist zweitrangig. Ein solches Netzwerk böte dann auch die Möglichkeit, sehr genau die Dinge, die Kinder sich musikalisch holen können, die sie auch gebrauchen können, herauszufiltern und anzubieten. Denn der musikalische Standard der Schüler ist natürlich unterschiedlich und dem wird der Schulmusikunterricht leider nicht immer gerecht.“
Der schulische Musikunterricht als Lenkstelle für ein Netzwerk kultureller Ausbildung? Ist das vielleicht das zeitgemäße Modell für die Musikausbildung der Zukunft?