Goethe hat seine Forderung: „Bilde Künstler, rede nicht“ zwar hinlänglich selbst widerlegt; gleichwohl hat der Satz seit jeher fatal die ästhetische Reflexion belastet, ja diskreditiert. Dabei haben gerade die Komponisten, Vertreter einer angeblich „sprach“-, erst recht „begriffslosen“ Kunst, schon seit der Renaissance über ihr Tun und seine Voraussetzungen nachgedacht: Schumann, Berlioz, Liszt, Wagner, Debussy, Busoni, Boulez, Nono, Henze, Schönberg, Stockhausen, Ligeti, Kagel, Ruzicka, Klaus Huber, Lachenmann und Wolfgang Rihm waren und sind als Theoretiker und Ästhetiker unverändert präsent. Ganz abgesehen von dem mehrere Generationen bis heute prägenden Einfluss Adornos, dem es darum ging, die fundamentalen Schwierigkeiten des Komponierens – also auch jeglicher Kunst – aus aktueller Sicht wie der eines imaginär utopischen Komponisten zu ergründen: ästhetische Theorie als produktiv kritischer Spiegel jeglicher Praxis – sofern diese nicht nur als begriffsloses „Machertum“ verstanden wird. Hegels These von der „Eule der Minerva“, die ihren Erkenntnis stiftenden Flug erst in der Dämmerung der festen, allzu festen Systeme wie Sachverhalte beginne, ist aus der Kunst der Moderne nicht wegzudenken.
Eben dieser Flügelschlag einer ihrer selbst bewusst werdenden Kunst wirkte weiter in der Arbeit eines Theoretikers, den man getrost eine epochale Figur nennen kann: Heinz-Klaus Metzger. Über ein halbes Jahrhundert hat er, phasenweise schier instanzhaft, das Denken über Musik mitbeeinflusst, mit radikalen Positionen als Pfahl im Fleische eines selbstgenügsamen Betriebs gewirkt, allzu stabile Weltbilder verunsichert – was sektiererhaft dogmatische Fixierungen ebenso wenig ausschloss wie Widersprüche und mitunter irritierende, ja irrlichternde Idol-Varianten. Mittlere Standpunkte waren seine Sache nicht.
Bestimmend für ihn waren Einflüsse, die nicht ohne weiteres auf einen Nenner zu bringen sind: die Schönberg-Schule und John Cage. Bei Max Deutsch hatte er in Paris Komposition studiert, von dem exemplarischen Geiger und Quartett-Primarius der Wiener Schule, Rudolf Kolisch, überaus traditionskritische Vorstellungen von „richtiger“ Interpretation gewonnen. Dass Metzgers Nähe zu Adorno eklatant war, versteht sich; gleichwohl schlug dessen Prinzip „immanenter Kritik“ auf das Haupt der „Frankfurter Schule“ quasi ödipal vatermörderisch selber zurück: Der Titel von Metzgers Essay „Das Altern der Philosophie der Neuen Musik“ paraphrasierte provokant gleich zwei zentrale, schier inkunabelhafte Texte Adornos. Zur entscheidenden Gegenfigur nämlich war John Cage geworden, dem Metzger schon 1958 mit „John Cage oder Die freigelassene Musik“ ein emphatisches geschichtsphilosophisch-musikästhetisches Entré bereitete, in dem er das endgültige Ende des geschlossenen Werkes, die allein sinnstiftende Macht der Zufalls-Anarchie beschwor. Noch vor Adornos „Negativer Dialektik“ proklamierte Metzger das Ideal einer „Musica negativa“, in der es weniger darauf ankomme, was geschaffen, als was „abgeschafft“ werde. Metzger wurde zum Propheten der „Unbestimmtheits“-Ästhetik, in der er idealistisch anarchistische Tendenzen der Neu England-Transzendentalisten, Thoreaus vor allem, mit grundsätzlich alle Herrschaft verweigernder gesellschaftlicher Utopie parallelisierte. Metzgers Fusion radikaler linker wie avantgardistischer Züge europäischer Provenienz mit amerikanischer Fundamental-Demokratie war eminent fruchtbar. Obwohl die transatlantischen Künstler bisweilen staunten, mit welch metaphysischer Bedeutung ihr Denken und ihre ästhetischen Operationen aufgeladen wurden.
Metzgers intellektueller Rigorismus führte zu manch erstaunlichem und verwirrendem nicht nur Kurs-, sondern vor allem auch Idol-Wechsel. Wobei der gewiss höchst heikle Begriff des „Verrats“ und „Verräters“ an der einzig wahren Sache keine geringe Rolle spielte. Komponisten wie Sylvano Bussotti, Hans-Joachim Hespos, auch Mauricio Kagel wurden als Garanten des Einspruchs wider alle falsche Tradition und eine insgesamt kommerziell verkommene Kulturindustrie gepriesen, dann beiseite geschoben, wenn nicht in Acht und Bann getan. Und vor harschen Verdikten scheute er keineswegs zurück: Boulez etwa wurde zum sterilen Techno- wie Machtbürokraten stilisiert. Und rigoros wehrte er sich, darin Adornos wie Cages Idiosykrasien gleichermaßen verpflichtet, gegen jegliches inhaltliches Engagement, alle nicht primär innerästhetische Programmatik: „Das Dilemma“ aller geistlichen und auch aller politisch ‚engagierten‘ Musik: den vermeinten Inhalt zwar durch die Wahl eines Titels oder eines vertonten Textes, nicht aber eigentlich musikalisch ausdrücken zu können, weil halt Noten weder katholisch noch kommunistisch sind.“ Das ging gleichermaßen rabiat gegen Penderecki wie Nono. Und Metzger zögerte nicht einmal, den frühen und mittleren „politischen“ Nono gar als „seriellen Pfitzner“ zu verunglimpfen. Erst 1980, nach dem „Wendepunkt Quartett“, fand Metzger zur geradezu emphatischen Identifikation mit Nono. Und dies wohl auch, weil er spürte, wie der „späte“ Nono mit seinen statischen Schwebezuständen, „Archipel“-Konzepten, der Anti-Dynamik des einst so vehement attackierten „Unbestimmtheits“-Zen-Mystikers Cage näher kam.
Denn stets aber ging es ihm um die Würde der Kunst als permanenter Einspruch wider die Fatalität des Weltenlaufs. Insofern blieb er der Anarchie treu. Doch ausgerechnet Metzger, Verächter alles Affirmativen, der selbst der „Durchsetzung“ Mahlers misstraute, integrierte sich aufs nachhaltigste in den Betrieb: Gemeinsam mit Rainer Riehn gab er von 1977 bis 2003 die Reihe der „Musik-Konzepte“ heraus, eine Zeitschrift, hauptsächlich auf Komponisten, vom frühen Mittelalter bis in die Gegenwart, fixiert, die nicht nur Maßstäbe der Genauigkeit und neuartigen Perspektivenvielfalt, sondern im Hinblick aufs Anarchie-Credo mit fast bestürzend einschüchternder Regelmäßigkeit erschien. Ob Perotinus, Monteverdi, Bach, Berlioz, Mussorgski, Verdi, Janácek, Schönberg, Varèse, Cage, Feldman, Nono oder Lachenmann – stets konnte man den Bänden außerordentliche Einsichten und kritische, widerständig produktive Perspektiven abgewinnen. Wobei Struktur-Analysen, übergreifender ästhetischer Diskurs, Opposition gegen nicht selten verhängnisvolle rezeptionsgeschichtliche Muster und psychoanalytische Erörterungen sich fruchtbar durchdrangen. Zur Radikalität des Ansatzes, gar nicht hoch genug zu schätzen, gehörten mitunter auch dogmatische Tendenzen. In der Frage der „richtigen“ Tempi bei Beethoven, also schneller als üblich, verfielen Metzger und Riehn, ausgehend von Kolischs Anregungen, ausgerechnet auf einen enzyklopädischen, minutiös pedantischen Metronomzahlen-Positivismus – vor dem es Adorno höchstwahrscheinlich gegraust hätte. Und in der Präferenz für die Komponisten waren nicht nur subjektive Vorlieben ablesbar, sondern weit darüber hinaus heikle Vorstellungen von ästhetischer Reinheit und Prinzipientreue. Die Idee einer „musica impura“, gar mit Ausblicken in die Trivialsphäre (Ives, Eisler, Berio, Henze, gar in Richtung Jazz oder Rock) wäre Metzger wie Riehn gewiss zuwider gewesen. Sie hielten es vielmehr, und nicht ohne guten Grund, mit dem dialektischen Ideal einer sich aller schlechten Realität versagenden „Negativität“ – duchaus auch im Sinne von Adornos „Negativer Dialektik“. So war denn auch der Name des von Metzger und Riehn 1969 gegründeten Ensemble „Musica Negativa“ mehr als nur Programm: Cage, Morton Feldman, Earle Brown, Christian Wolff, auch Hespos waren die Kronkomponisten, die es mit einer Art Partisanentaktik wider einen verrotteten Kulturbetrieb zu behaupten galt.
Dabei war „Praxis“ Metzger durchaus suspekt. Es gab sogar Zeiten, da er es verschmähte, überhaupt Konzerte oder Opernaufführungen zu besuchen oder auch nur Platten zu hören: lieber keine Musik als die falsche, besser keine Wiedergabe als eine verkehrte! Wenn Adorno einmal meinte, die letztlich authentischste Weise des Umgangs mit Musik sei die stumme Lektüre der Partitur, gar – so im Zusammenhang mit Mahlers Zehnter – einzig das ehrfürchtige behutsame Nachfahren der Notenlinien mit den Fingern, dann entsprach dies auch Metzgers Überzeugung. Und nicht selten hielt er es mit einem ganz besonderen credo quia absurdum: In einem längeren Essay zu Bachs Matthäus-Passion beharrte er auf der unentschuldbaren Fatalität einiger antisemitisch auslegbarer Text-Passagen, die allerdings zu entkräften wären, würde man das Werk nur musikalisch endlich einmal „richtig“ aufführen.
Gegen Widersprüche war er nicht gefeit. Und sogar im sonst so verabscheuten Opernbetrieb haben sich Metzger und Riehn erfolgreich-folgenreich engagiert, initierten sie doch unter Gary Bertini in Frankfurt die Uraufführung von John Cages „Europeras“: alsendgültigen Abgesang auf alle Tradition europäischen Musiktheaters. Dass kurz vor der Premiere das Frankfurter Opernhaus ausbrannte, war ein makabrer Zufall, wirkte indes geradezu als symbolische Vorwegnahme des rigorosen Ernstfalls, mit dem da der altehrwürdigen Gattung der Garaus gemacht wurde.
Gleichwohl war Metzger kein allzu rigider Dogmatiker, mochte sein Weltbild auch seit den siebziger Jahren einigermaßen konstant geblieben sein. Mitunter ertappte er sich wohl sogar selbst bei ihm nicht einmal unwillkommenen Abweichungen vom alleingültigen Weg konsequenter Verweigerung, begegnete ihm zufällig Musik, die seinem Verständnis zuwiderlief und ihn trotzdem ansprach. Da konnte er bisweilen auch überraschend spontan und witzig, schier eulenspiegelhaft (re-)agieren.
Grundsätzlich aber neigte er zu einer Art geschichtsphilosophischer Schwärzest-Sicht, felsenfest überzeugt vom unausweichlich endgültigen Untergang von Menschheit und Erde: eine nicht nur musikästhetische Kassandra. Doch nicht ohne narzistisches Behagen, dabei in Formulierungen, die selbst Adornos Sprache geradezu grobschlächtig wirken ließen, wurde er zur Diva der Negativität, ja zur Callas absoluten metaphysischen Desasters. So erschien er einem nicht selten als quasi scholastischer Musik-Denker: als zutiefst pessimistischer Schriftgelehrter, residierend im „Grandhotel Abgrund“ – und dennoch immer wieder verblüffend aktiv. Als man 2003 vernahm, dass der Verlag „text und kritik“ die Redaktion der „Musik-Konzepte“ an ein jüngeres Team um Ulrich Tadday übergab, war die Reaktion entsprechend ambivalent: Trauer über das Ende einer, aller Anarchie zum Trotz, enorm produktiven Epoche, Ausblick auf manch Neues, das nun auch in den Fokus geriet. Immerhin gelang es Metzger und Riehn, ihre Idee kompositorischer Monographien weiterzuführen. Im Stroemfeld-Verlag erschienen „musikalische konzepte“ mit dem nach wie vor subversiven Übertitel „querstand“.
Die drei ersten, sehr ergiebigen Bände erschienen 2006 und 2008, galten Messiaen, Janácek und Nono-Komponisten also, denen schon „Musik-Konzepte“ gewidmet waren. Ganz frei von „Kirchenväter“-Fixierung war Metzger nicht. Claus-Steffen Mahnkopf etwa hat denn auch in „Mythos Cage“ Metzgers Freiheits-Begriff einigermaßen gezaust, ohne indes den Stachel ganz entfernen zu können.
Das Wort unzeitgemäß, gar „anachronistisch“ sagt sich leicht, ist natürlich auch nicht ganz untriftig – und trifft die Figur Heinz-Klaus Metzgers dennoch nicht wirklich. Denn des immer noch arg unterschätzten Eduard Hanslick schöne Definition von Musik als „Schöpfung des Geistes aus geistfähigem Material“, also widerständig denkbar gegen schlechte Realität, lag auch Metzger nahe, gab seinem Denken eine, keineswegs nur donquichoteske, Würde. In Berlin ist er im Alter von siebenundsiebzig Jahren gestorben.