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Musik – erst recht für Erwachsene

Untertitel
Eine empirische Untersuchung zum Musik-Erleben erwachsener Laienmusiker
Publikationsdatum
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Während meiner mittlerweile mehr als zwanzigjährigen Tätigkeit als Dozent für Saxophon, Big Band und Chor in der Erwachsenenarbeit ist mir immer wieder aufgefallen, wie gestandene Hausfrauen, Regierungsräte, Staatssekretäre und Straßenbahnschaffner, Oberstudienräte und Sekretärinnen, kurzum Menschen aus allen Berufsgruppen anfingen zu weinen oder zu strahlen oder beides gleichzeitig taten, wenn sie zum ersten Mal in ihrem Leben einem Instrument einen halbwegs vernünftigen Ton entlockt hatten.

Menschen, die in ihrem Berufsleben häufig leitende und verantwortliche Positionen eingenommen hatten, wurden im Chor oder am Instrument zu glücklichen, in gewisser Weise einfältigen Kindern. In kaum einer anderen Lebenssituation habe ich Menschen so entspannt, kommunikativ, sozial, kreativ und heiter erlebt, wie beim Musizieren oder danach.

Entscheidend war dabei allerdings zweierlei. Das Musizieren war immer stärker lust- als leistungsorientiert und der Weg war wirklich wichtiger als das Ziel. So konnten Erwachsene eine völlig neue Art des „nur im Jetzt sein“ erfahren.

In Zeiten, in denen die Lebensarbeitszeitverlängerung und die Verlängerung der Wochenarbeitszeit tagtäglich diskutiert werden, kann ein kreativer Ausgleich zu zermürbenden Alltagstätigkeiten gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Allerdings verstehe ich Musik und Musik-Erleben nicht als Regenerationszone, in der die Menschen für das Berufsleben fit gemacht werden sollen, sondern als lebenswichtige, eigenvalente Bereiche die dem Menschen die Möglichkeit lassen, inmitten der unendlichen Vielfalt der menschlichen Existenz immer auch „homo ludens“ zu sein. Erstaunt hat mich das Fehlen methodisch-didaktischer Literatur, die diese hedonistische Musikpädagogik aufgreift. Im eigenen Bemühen, diese „Didaktik der lustbetonten Musik für erwachsene Laien“ zu schreiben, bin ich nun bei dieser Untersuchung stehen geblieben, da ich mir selbst die empirischen Grundlagen für dieses Unterfangen verschaffen wollte.

Der nächste unerlässliche Schritt wäre nun das Erstellen einer solchen Didaktik der Musik für Erwachsene.

Ich hoffe mit dieser Untersuchung einen Einblick in das Musik-Erleben erwachsener Laien verschafft zu haben, das sich, wie die Untersuchung eindrucksvoll gezeigt hat, auffällig von dem von Kindern, Heranwachsenden und jungen Erwachsenen unterscheidet.

Warum eine empirische Untersuchung zum Musik-Erleben Erwachsener?

Im Wesentlichen haben mich zwei Phänomene dazu veranlasst, diese Untersuchung durchzuführen: die sich verschiebende Alterspyramide in Deutschland und ein subjektorientierter Musikbegriff, wie er beeinflusst von konstruktivistischen Ideen in der Sozialen Arbeit leitend ist.

In der vorliegenden Untersuchung wurden etwa 1.100 Personen – überwiegend Laienmusikerinnen und Laienmusiker im Erwachsenenalter (über 18 Jahre) mittels eines Internetfragebogens zu 180 Aspekten ihres Musik-Erlebens befragt. Insgesamt wurden etwa 200.000 Antworten ausgewertet.

Die Fragen bezogen sich auf folgende Bereiche:

• Soziologische Daten
• Vokales Musizieren und Instrumentalspiel
• Musikunterricht
• Übeverhalten
• Musikalische Präferenzen
• Emotionale Bedeutung von Musik

Mein Forschungsinteresse bezog sich auch auf die Beziehung zwischen bestimmten soziologischen und individuellen Merkmalen und deren Ausprägung im musikalischen Verhalten.

Grundaussagen

Die Ergebnisse dieser Untersuchung lassen folgende Grundaussagen zu:
a) Musikhören und Musikausübung haben eine große, nicht zu unterschätzende positive Bedeutung für die Lebensgestaltung und das Lebensgefühl von erwachsenen Menschen.
b) Das Musik-Erleben nimmt im Alltagsleben und in der Alltagsgestaltung erwachsener Menschen eine wichtige Rolle ein.
c) Musikausübung korreliert positiv mit anderen außermusikalischen Interessengebieten wie Sport, Kultur, Theater und Politik.
d) Musikhören und Musikausübung korrelieren stark mit einem positiven und aktiven Lebensgefühl.
e) Musikhören und Musikausübung führen zu einer positiven Selbstwahrnehmung und zu einer positiven Wahrnehmung der Selbstwirksamkeit.

Zur Durchführung der Untersuchung

Dem Verfasser standen etwa 5.000 E-Mail-Adressen, darunter 3.000 Adressen des auf dem deutschen Markt größten Veranstalters im Bereich Musikferien „musica viva“ zur Verfügung. Die Adressaten wurden in einem einheitlichen Anschreiben aufgefordert, sich an der Untersuchung zu beteiligen.

Durch Anklicken eines Links im Anschreiben gelangten die Versuchspersonen auf den Fragebogen: Die Grundgesamtheit der Befragten definierte sich auf Grund der Fragestellung und der Vorgehensweise als die Personen, die
• über einen Internetanschluss verfügen • über 18 Jahre alt sind und • Musikinstrumente spielen und/oder singen. Von den insgesamt etwa 5.000 angeschriebenen Personen antworteten insgesamt 1.108 im Zeitraum von vier Monaten, davon über 70 Prozent in den ersten drei Wochen der Befragung. Nach einer nochmaligen Erinnerung antworteten dann in einem Zeitraum von weiteren drei Wochen die restlichen 30 Prozent. Dies ist eine Rücklaufquote von insgesamt 22 Prozent.

Bei der Entwicklung der Fragen zu den Stammdaten der Befragten habe ich mich an den gebräuchlichen Vorgehensweisen der empirischen Sozialforschung orientiert (vgl. Dieckmann 2002, S. 410 ff.).

Die Antwortmöglichkeiten bei der Frage nach den Motiven für das Erlernen eines Instrumentes wurden auf Grund der Ergebnisse eines Prätests entwickelt. Bei den Prätests war diese Frage noch offen gestellt worden. Die am häufigsten vorkommenden Antworten wurden dann als Antwortmöglichkeit ausgesucht.

Die Geschlechtsverteilung mit 62 Prozent Frauen zu 38 Prozent Männern weicht zu Gunsten der weiblichen Versuchsteilnehmer vom Bundesdurchschnitt ab.

Die Altersstruktur entspricht der Normalverteilung. Der Altersdurchschnitt aller Versuchsteilnehmer war 42,4 Jahre, hierbei waren die Abweichungen zwischen Männern und Frauen minimal.

Die Ergebnisse der vorgestellten Untersuchung weisen auf eine Fülle von Besonderheiten im Musik-Erleben Erwachsener hin.

Zunächst sei noch einmal auf die Schwierigkeiten der Durchführung einer Internetbefragung und die damit verbundenen Probleme der Repräsentativität hingewiesen. Selbst bei einer von einem professionellen Marktforschungsunternehmen durchgeführten Stichprobe mit N = 1.028 würde die zu untersuchende Personengruppe kaum in Erscheinung treten, da ihr Anteil an der Bevölkerung vermutlich um fünf Prozent liegt. Insofern war die Möglichkeit des Zugriffs auf die Adressen eines großen Veranstalters im Bereich Musikpädagogik mit Erwachsenen ein Glücksfall.

Nicht zu übersehen war der hohe Anteil der Personen mit einem höheren Bildungsabschluss. Unter 1.098 Untersuchungsteilnehmern war ein einziger ohne Abschluss und lediglich 20 Personen mit Hauptschulabschluss. Auch die Bandbreite und Varianz der Interessen der befragten Personen war außerordentlich groß. So kann abschließend gesagt werden, dass das Interesse für Musik, sei es lediglich als Hörer oder auch als Spieler oft einhergeht mit Interessen für andere Bereiche. Besonders häufig wurden hier genannt Literatur, Kino, Sport und Reisen. Diese Antworten sind natürlich angesichts des Bildungsgrades der Befragten nicht verwunderlich.

Erstaunlich war jedoch, dass das Interesse für andere künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten wie Theater und Bildende Kunst vergleichsweise gering war.

Die Instrumentenwahl der Befragten zeigte eine deutliche Bevorzugung des Instrumentes Stimme gefolgt von den Blech- und Holzblasinstrumenten. Ebenso verhält es sich mit der Mitgliedschaft in Ensembles. Hier wird das Chorsingen eindeutig vor Band und Orchester bevorzugt.

Die Tatsache, dass die Liebe zur Musik, eine sinnvolle Freizeitgestaltung und Entspannung als Hauptmotive für die Instrumentenwahl genannt werden, zeigt überaus deutlich den Unterschied zu Berufsmusikern. Hier steht wirklich das lustbetonte Musik-Erleben im Vordergrund. Auch die häufige Erwähnung der Erfüllung eines Jugendtraums als ausschlaggebend für die Wahl eines konkreten Instrumentes deutet in diese Richtung. Erstaunlicherweise spielten und spielen die Eltern immer noch eine große Rolle bei der Entscheidungsfindung für ein konkretes Instrument. Überaus nachdenklich sollte stimmen, dass 80 Prozent der Befragten bereits ein Instrument gespielt hatten und dieses wieder aufgaben. Dies ist ein erschreckendes Ergebnis und sollte unbedingt zum Nachdenken und zur Verbesserung des Instrumentalunterrichts führen, vor allem angesichts der Begründung des Abbruchs. Hier nennen ungefähr 40 Prozent der Befragten solche Motive wie „schlechter Lehrer“ oder „unattraktives Unterrichtsangebot.“

Ebenso nachdenklich sollte die Kritik am bestehenden Unterricht machen. Die Hauptkritik bezog sich auf fehlende Improvisation. Dies wurde von 60 Prozent der Befragten bemängelt. Rhythmusarbeit und Hörerziehung vermisste knapp die Hälfte der Befragten. Schließlich wünschten jeweils ein Drittel eine stärkere Berücksichtigung der Aspekte Blattspiel, Musiktheorie, Körperarbeit und Freies Spiel.

Musikalische Präferenzen der Probanden

In engem Zusammenhang zur Bildungsschicht müssen die Antworten zu den musikalischen Präferenzen gedeutet werden, da hier – in starker Abweichung vom deutschen Durchschnittsgeschmack – die „klassische“ Musik und der Jazz deutlich favorisiert wurden.
Als ebenso untypisch muss die deutliche Ablehnung volkstümlicher Musik gesehen werden.

Die bezüglich des Musikhörens geäußerten Präferenzen bestätigen sich im Wesentlichen beim Musizieren.

Freude, Liebe, Entspannung, Leidenschaft und Sehnsucht waren die zentralen Begriffe, die von den Befragten genannt wurden, wenn es um die emotionalen Qualitäten ihres Musikerlebens ging. Dies traf sowohl auf das Musikhören als auch auf das Instrumentalspiel und Singen gleichermaßen zu.

Eine überwältigende Anzahl der Befragten, nämlich ungefähr 80 Prozent gab an, dass das Musikhören und das Instrumentalspiel beziehungsweise das Singen für ihr Leben wichtig bis lebenswichtig sei.

Dies zeigte sich auch in der täglichen bewussten Beschäftigung mit Musik von durchschnittlich 2,5 Stunden pro Tag. Gerade in Zeiten des kollektiven Lamentos sei auf das überaus positive Lebensgefühl der Befragten hingewiesen. Musik kann hier durchaus als wichtige Lebensmotivation gesehen werden.

Die Ergebnisse der Korrelationsberechnungen deuten darauf hin, dass die oben beschriebenen Merkmale besonders deutlich bei Sängerinnen und Sängern auftreten.

Am Ende wurde auch nach Stücken gefragt, die für absolutes Glück beziehungsweise große Trauer stehen. Die Nennung der gleichen Titel sowohl in der Glücks- wie auch in der Trauerkategorie bestätigt meine eigene Grundauffassung von Musik als äußerst subjektiv geprägtem Erlebnisinhalt.

Die nun erhobenen Daten sollten als Grundlage für die Entwicklung eines ausgereiften musikalischen Konzeptes für Erwachsene dienen, die in höherem Alter ein Instrument oder das Singen (wieder)erlernen wollen. Dies bedeutet für viele Menschen eine erhebliche Verbesserung ihrer Lebensqualität.

Die Schwerpunkte eines solchen Konzeptes seien hier noch einmal angeführt:

  • Bewegung und Rhythmus als Ausgangspunkt des musikalischen Arbeitens
  • Aufgabe der Vorherrschaft notierter Musik zu Gunsten oral tradierter Musikstile
  • Improvisation und spontanes Musizieren als Erweiterung des musikalischen Erfahrungsraums
  • ganzheitliche Verknüpfung unterschiedlicher Lehr- Lernmethoden im Prozess der Aneignung
  • Betonung der leistungsfreien Aspekte zu Gunsten der sozialen, kreativen und kommunikativen Aspekte des Musikerlebens.

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