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Musik ist eine realistische Kunst – und oft auch etwas mehr

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Ein Symposium beim Frankfurter „Auftakt“-Festival beschäftigt sich mit dem Schaffen Mauricio Kagels
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Wenn es nicht so bedrückend und traurig wäre, man könnte es für eine finale Eulenspiegelei des Komponisten halten: Das „Auftakt“-Festival der Alten Oper Frankfurt hatte Mauricio Kagel zum diesjährigen Residenz-Komponisten gewählt. Kagel sollte mehrere Konzerte mit eigenen Werken mit dem Ensemble Modern dirigieren, außerdem an einem zweitägigen Symposium teilnehmen, bei dem ein Dutzend renommierter Kagel-Experten das Schaffen des Komponisten aus vielerlei Blickwinkeln beleuchten sollten.

Zwei Tage vor Beginn des Symposiums starb Mauricio Kagel. Das Syposium wurde gleichsam zu einem Nachruf der besonderen Art: Mit elf Referaten und mehreren Diskussionsrunden wurde quasi die historisch-kritische Nachbereitung des Schaffens Mauricio Kagels eingeleitet.

Hans-Klaus Jungheinrich, unermüdlicher Organisator und Moderator der Frankfurter „Auftakt“-Begegnungen, fand bei allem Respekt vor der unerwarteten Situation auch das Positive: Die Abwesenheit des Komponisten nahm den Gesprächsteilnehmern jede Scheu, auch kritische Einwände zum Schaffen Kagels zu äußern. Einig waren sich alle aber darin, dass mit Mauricio Kagel eine der wichtigsten, interessantesten, phantasievollsten und kritisch-engagiertesten Komponisten der Nachkriegsjahrzehnte bis zum heutigen Tag dahingegangen ist.

Die Perspektivenvielfalt des Kagel’-schen Komponierens konne man bereits an den Titeln der Referate ablesen. „Musik ist eine realistische Kunst“ – über die „Manifestationen der Wirklichkeit im Werk von Mauricio Kagel“ sprach Werner Klüppelholz, Jürg Stenzl untersuchte Kagels Zeit zwischen den „Palimpsestos“ in Buenos Aires 1950 und dem „Anagramm“ 1957 in Köln. Barbara Zuber beschrieb anschaulich die „Dekonstruktion der Oper“ anhand von Kagels „Staatstheater“, Martin Zenck vertiefte sich in „Die andere Romantik“ in Kagels Liederoper „Aus Deutschland“. Max Nyffeler referierte höchst anspruchsvoll über Kagels „Kunst der kalkulierten Abweichung“ am Exempel der „Heterophonie“, Björn Heile hatte sich für „Kagel in Darmstadt“ fleißig in Dokumente und Kontexte vertieft. Hartmut Lück nahm sich ausführlich die „Stücke der Windrose“ vor, Manuela Schwartz referierte informativ über den Musik-therapeuten Mauricio Kagel. Gerhard R. Kochs Referat über „Kagel und die Musikkritik“ weitete sich kenntnisreich zu einem eigenen Symposium über die kritischen Implikationen im Werk des Komponisten, Martin Kassel beschrieb anschaulich Kagels Werke mit „Experimentellen Klangerzeugern“.

Schließlich blieb es Clytus Gottwald vorbehalten, die tieferen Dimensionen in Kagels Schaffen auszuloten. Sein Vortrag über „Kagels Erschöpfung der Welt als negative Theodizee“ wies alle naseweisen Kritiker in die Schranken, die in Kagel vorwiegend den Spaßvogel sehen. Gottwald zitierte dazu einen Ausspruch Kagels aus einem Gespräch mit dem Komponisten: „Mein Humor ist Bestandteil meiner Melancholie.“ Gottwald zeigte die psychischen Dimensionen in Kagels Schaffen auf. Barockes spielt da gewichtig herein, auch Existentielles: Gott ist tot, lasst uns ihn anbeten. Mauricio Kagels Werk, so scheint es, könnte sich für uns Nachfahren zunächst einmal immer stärker verrätseln.

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