Berlin - Die meisten Menschen haben irgendwann in ihrem Leben mal ein Musikinstrument spielen gelernt oder doch zumindest gesungen. Der Musiker Bernhard König hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese verschütteten Talente bei alten Menschen aufzuspüren. Der anrührende Dokumentarfilm "Das Lied des Lebens" zeigt, dass dabei auch Rollstuhl, Blindheit und gar Schwerhörigkeit kein Hindernis darstellen. Und die oft zittrigen, brüchigen Stimmen verleihen auch bekannten Liedern eine bewegenden und tiefgründigen Klang.
Wohlgemerkt, es geht hier nicht um Leute wie den fast 70-jährigen Mick Jagger, der nimmermüde auf der Bühne den Hengst macht - oder, wie in dem in zwei Wochen anlaufenden Spielfilm "Quartett" um die Umtriebe in einem Altersheim für divenhafte Opernsänger. Dokumentarfilmerin Irene Langemann widmet sich stattdessen ebenso gebrechlichen wie unauffälligen Rentnern mit Mindestalter 70+ und keiner Grenze nach oben. König war schon früh von den "faltigen und knarrenden Stimmen" alter Menschen fasziniert. Für ein Forschungsprojekt reiste er zwischen einem Stuttgarter Seniorenheim und seinem "Experimentalchor für alte Stimmen" in Köln hin und her.
Oft mit Hilfe eines Vokalensembles erarbeitete er mit den Betagten kleine Musikstücke, die am Ende in einem Konzert in Essen aufgeführt werden. Naturgemäß gelingt das musikalische "brainstorming" am besten mit jenen, die beruflich Musiker waren oder für die Musik ein "Grundlebensmittel" darstellte. Und siehe da: Der ehemalige Akkordeonspieler Günther, nach einem Schlaganfall verstummt, greift dank Königs Überredungskunst in die Tasten. Auch die fast erblindete Frau Thost traut sich wieder ans Klavier. Selbst völlige Laien kann König mit einfühlsamen Gesprächen in seine Kompositionen einbinden.
Inspiriert von traumatischen Erinnerungen
Hier geht es kunstsinniger als im mitreißenden US-Dokumentarfilm "Young@Heart", in dem muntere Oldies Popsongs vertonten. Inspiriert von schlimmen Erinnerungen etwa an den Krieg und den Verlust geliebter Menschen komponiert König experimentelle Stücke mit Sprechgesang, dirigiert sphärische "Klangwolken", versucht das Zechensterben oder den kindlichen Ruf nach der toten Mutter musikalisch nachzuempfinden. Frau Wiesinger, die bei dem Lied "Kann denn Liebe Sünde sein?" besonders bewegt ist, entlockt er, dass der flotte Schlager die alte Dame an die traumatische Erfahrung ihrer frühen Schwangerschaft erinnert, die sie zur gesellschaftlich Geächteten machte.
Doch es wirkt etwas fragwürdig, wenn König im Psychotherapeuten-Duktus nach Emotionen bohrt, um sie künstlerisch verwerten zu können. Die Kölner Alten, besonders kregel, wehren sich prompt gegen sein suggestives Herumreiten auf existentiellen Ängsten - die von den aufgeräumten Best-Agers doch längst überwunden sind. Auch die elegischen Kamerablicke auf welke Blätter sind recht platt. Dennoch zeigt der Film, dass Kreativität kein Alter kennt - und ist ein weiteres Indiz für die Renaissance des Chorsingens, das, jenseits der traditionellen Gesangvereine und zumindest in Großstädten, bei jung und alt wieder sehr angesagt ist.
("Das Lied des Lebens", Dokumentation, Deutschland 2012, 89 Minuten, FSK: 0, Verleih: Lichtfilm, Regie: Irene Langemann, Darsteller: Bernhard König, Sigrid Thost, Magdalena Reisinger, Willi Günther, Alfred Amaszak, Olga Petersen u.a.)
Kinostart: 17. Januar 2013