Dies ist kein klassischer Festivalbericht der Wittener Tage für Neue Kammermusik 2021. Vielmehr fahndet der Text nach Diskursen, welche „Witten21“ aufspannt zwischen „Musik und Medien“: So heißt der Lehrstuhl, den Golo Föllmer (gf) mit Anna Schürmer (as) und zwei weiteren Mitarbeitern seit kurzem an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg interdisziplinär zwischen Musik- und Medienwissenschaft etabliert. Im Dialog über „Witten21“ treten Motive zum Zusammenspiel von technischer Innovation und künstlerischen Strategien in Zeiten sozialer Distanzierung zutage (#1), gefolgt von konzeptionellen Überlegungen zu zwei Hauptwerken des Festivaljahrgangs 2021: „Vertigo / Infinite Screen“ von Brice Pauset und dem Künstlerduo Arotin & Serghei verschmilzt „Sound & Vision“ zu einem hybriden Gesamtkunstwerk (#2) während Mauro Lanzas Streichquartett-Zyklus „Aether is a haunted place“ nostalgische Referenzen aus gespenstischen Dimensionen sendet. (#3).
#1 – Kultur & Corona
Die Wittener Tage für Neue Kammermusik 2020 waren in der Frühzeit der Pandemie eines der ersten Festivals, die dennoch stattgefunden haben – online. Die Verlagerung unserer Kultur ins Digitale ist seitdem zum Status quo avanciert. Man könnte dementsprechend die These aufstellen, dass sich mit Corona die Wende in ein „Post-Präsentisches Zeitalter“ vollzogen hat: Eine Wortschöpfung, die sich in eine ganze Reihe von Corona-Neologismen einreihen könnte, die OWID – das „Online-Wortschatz-Informationssystem Deutsch“ – listet. Post-Präsentisch fungiert als Gegenbegriff zur performanztheoretischen Formel der körperlichen „Ko-Präsenz“, mit dem der spezifische Charakter der Aufführungskünste vor der pandemischen Entgrenzung gefasst wurde, was die Frage nahelegt: Wie kann sich die Musik als flüchtiges Phänomen und performative Aufführungskunst virtuell behaupten? (as)
Online-Konzerte haben unbestreitbare Vorteile, zum Beispiel die Aufhebung räumlich bedingter Einschränkungen: Lokalkonzerte müssen in meiner Stadt sein, ferner muss ich hinfahren und schließlich auch noch in den Raum reinpassen. Die drei Bedingungen treffen auf Online-Angebote nicht zu, die überdies oft kostenlos sind, oder auf Spendenbasis beziehungsweise im Modus „pay-what-you-may“ angeboten werden. Trotzdem zeigt der Zähler bei Youtube auch bei hochrangigen Konzerten – in der Nische zeitgenössische Musik – Live-Publikumszahlen unter 100. Hätte man da nicht mehr Zuspruch erwartet, gerade in dieser kulturell ausgehungerten Zeit? Dazu folgende Beobachtungen und Thesen: 1) Ablenkungen des persönlichen Umfelds zuhause verleiten in jeder langweiligen Passage dazu, eine Schraube festzudrehen oder selbst Trompete zu spielen. Die Zwangshörerschaft des physischen Konzertsaals erweist sich damit als Trutzburg gegen das Zeitalter der Sensationslust und der verkürzten Aufmerksamkeit. 2) Die Vorteile der Zeitautonomie von On-Demand-Angeboten lässt speziell vor dem Computer-Bildschirm lineare Angebote aus der Zeit fallen. Beim Berliner Hörspielfestival 2020 waren über vier Tage mit jeweils ca. vier Stunden Programm im Durchschnitt nur um die 60 Geräte in den Stream eingeloggt. Am Ende gaben die Statistiken aber überraschend mehr als 5.000 Aufrufe an. Hört ein großer Teil des Publikums nur ein paar Minuten rein? Lassen andere den Stream laufen und sind mental woanders? Ist den Statistiken von Youtube und Facebook zu trauen? Wo befindet sich das Publikum zwischen der kurzen Bindungszeit von Online-Streams und dem Wunsch nach Zeitautonomie bei der Rezeption von Online-Inhalten? 3) Im Rezeptionsverhalten ist ein Trend zu ganz kleinen Veranstaltungen im Netz erkennbar. Da wäre nun die ganze Welt als Publikum in Reichweite, und dem entgegen geben renommierte Musiker*innen wie das Duo Robyn Schulkowsky und Joey Baron Küchenkonzerte aus dem Hinterhaus vor 50 Online-Zuhörer*innen. Eine Erklärung wäre, dass das Defizit an persönlichen Kontakten nicht zu Massenveranstaltungen verlockt, da online menschliche und künstlerische Begegnungen noch weniger spürbar sind, als sie es eh schon sind, wenn man beispielsweise in Reihe 38 eines großen Hauses sitzt. (gf)
Kann man in den Angeboten von Online-Formaten aus dem letzten Jahr ästhetische beziehungsweise kuratorische Strategien im Umgang mit der digitalen Entgrenzung der Musikkultur ablesen? Tatsächlich scheint mir die Realisierung von „Witten21“ eine Evolution „post-präsentischer“ Kulturangebote seit Beginn der Pandemie nahezulegen, indem sich die digitale Präsentation der Konzerte professionalisiert und ausdifferenziert hat. So wurden die Festivalbeiträge nicht einfach im Radio übertragen, sondern auf der Webseite des WDR eine Art virtueller Festival-Space kreiert, der Bild, Schrift und Klang trimedial verbindet. Und auch die Konzerte selbst wurden nicht einfach eins-zu-eins gestreamt, sondern mit Anmoderationen und O-Tönen versehen sowie mit aussagekräftigen Bildern und Annotationen angeteasert. Darüber hinaus lässt sich feststellen, dass auch das Programm auffällig multimedial ausgerichtet war. Konzerte sind in der Entgrenzung eben nicht mehr nur Klang, sondern erhalten auch eine betont visuelle Ebene. (as)
Die televisionäre Online-Inszenierung von „Witten21“ kommt dem medialen Dispositiv entgegen, welches das Publikum auf seinem Sofa gewohnt ist. In Fernsehaufmachung führen Moderator*innen aus einem ortlosen Studioambiente in die Werke ein und adressieren damit die Sitzplätze im Wohnzimmer vor dem TV-Gerät. Das ist eine gute Idee und keine Selbstverständlichkeit. Beispielsweise hatte das Konzert „Voice Affairs“ beim ECLAT-Festival im Februar 2021 nichts Schlüssiges im Angebot, um die Konzepte und Kontexte der sieben unterschiedlichen Stücke während des Abends zu vermitteln. Hätte man sich die Programmtexte vorher ausdrucken sollen? Oder parallel am Handy lesen? Das ist wenig einladend, wenn man sich auf dem Sofa vor Stereoanlage und dem größten Bildschirm des Hauses das Konzert-Dispositiv nachgebastelt hat. – Witten und sein WDR lösten das Problem mit einem klassischen Rundfunkansatz, eigentlich sogar einem radiophonen, indem durchdachte Moderationen mit ergänzenden O-Tönen das Programmheft ersetzten, in dem man vor und während des Konzerts sowie in den Pausen des Konzerts blättern würde. Über den linearen one-to-many Ansatz des Rundfunks reichte das aber nicht hinaus. Im Online-Zeitalter ist auch der WDR nicht angekommen. Weder die Stücke in ihren audiovisuellen Inszenierungen noch das kommunikative Setting besaßen auch nur Andeutungen non-linearer oder partizipativer Settings. In der Pressemitteilung hieß es daher korrekt: „WDR 3 filmt alle beteiligten Ensembles und sendet 30 Uraufführungen ...“. Einem ganz und gar online stattfindenden Festival hätten offene Strukturen und partizipative Elemente (und sei es nur ein Chat-Kanal) gutgetan. Als das Berliner Hörspielfestival in Kooperation mit der Akademie der Künste im Mai 2020 sein Event ins Netz verlagern musste, wurde live moderiert, Autoren wurden zugeschaltet und Publikumskommentare, die über die Sendekanäle YouTube und Facebook einliefen, konnten in der Moderation aufgegriffen werden. Ein nicht unerhebliches Stück mehr Event, Gemeinschaft und Begegnung wurden da spürbar. Übertragen auf „Witten21“ hätte das zum Beispiel in Live-Gespräche mit Komponist*innen, die an die Stücke anschließen, einfließen können. Beim Eröffnungskonzert der MaerzMusik 2021 konnte man dem Ensemble Phoenix 16 entweder durch die Linse eines Kameramenschen folgen – oder sich alternativ auf eine zentral positionierte 3D-Kamera zuschalten, an der man selbst die Blickrichtung auswählen konnte. Diese interaktive Fassung funktionierte aber nicht im Live-Stream, sondern nur in der aufgezeichneten Filmfassung, vermutlich aus technischen Gründen. Manche veränderten Erwartungshaltungen an mediale Settings in Online-Medien sind womöglich noch längst nicht für alle Kommunikationsformen und Inhalte so umsetzbar, dass die Aktualisierung beziehungsweise die sogenannte „strukturelle Wiederauffüllung“ des vormaligen Dispositivs, hier der Konzertsituation, sowohl technisch machbar als auch konzeptionell sinnvoll wird. (gf)
#2 – Sound & Vision
In der digitalen Entgrenzung von Konzertereignissen scheint der reine Klang etwas verloren: Wenn Raum und Setting im präsentischen Konzertbetrieb als Atmosphäre stiftende Elemente wirken, lenkt die mediale Übertragung der visuellen Umgebung das Auge auf das eigentlich Nebensächliche – in Live-Streams aus dem Klassik-Bereich oft auf sehr statische Weise und mit scheinbar nur zwei Einstellungen: Totale und Nahaufnahme. Deshalb scheint es folgerichtig, dass viele Künstler*innen heute das Visuelle mitkomponieren: „Sound & Vision“ also (… um an dieser Stelle David Bowie zu zitieren – dessen Textzeilen „Waiting for the gift of sound and vision / Drifting into my solitude / Over my head“ gerade in dieser Zeit seltsam passend scheinen …). Aber um auf die Wittener Audio-Visionen zurückzukommen: Da entwarfen etwa Sabine Maier und Klaus Lang mit Nirgends eine audiovisuell berauschende „Lichtspielszene“ aus gleißenden Projektionen und raumfüllendem Klang. „Sound & Vision“ gehen auch in „Vertigo / Infinite Screen“, einer Kollaboration von Brice Pauset mit den Videokünstlern Arotin & Serghei, eine Liaison ein. Der intermedialen Komposition für Ensemble in 6 Gruppen, 18 Bild-Module und Elektronik sowie Video-Projektion hat Alfred Hitchcocks legendärer Film des Jahres 1958 Pate gestanden – wodurch sich eine paradoxe Melange aus retromantischer Nostalgie und hochmoderner Technologie aufspannt. (as)
Bei der Rahmung und Inszenierung von Brice Pausets „Vertigo“ fällt mir zum einen die Betonung des Werkcharakters auf. Die Moderatorin Martina Seeber verweist auf die großformatigen Formskizzen; Pauset selbst erzählt von einem Blitz-Moment, in dem er den Klang des gesamten Stückes vor Ohren hatte. Die visuelle Inszenierung des Streams untermauert diesen Anspruch: sie lässt den Eindruck entstehen, da wäre das Klangforum Wien auf der Bühne und spiele das Stück mit Elektronik live zum Videobild, so wie es für die präsentische Form vorgesehen war.
Tatsächlich erklärt Martina Seeber im Vorspann das Gegenteil: Das Klangforum Wien spielte im Konzerthaus Wien vor laufender Kamera die Partitur ein. Alle elektronischen Elemente wurden aber erst später im Pariser IRCAM zu den aufgezeichneten Dateien hinzugefügt. Die Visuals entstanden noch einmal später im Berliner Studio von Arotin und Serghei. Solch ein sequenzielles Produzieren ist heute in vielen Zusammenhängen üblich, etwa im gesamten Bereich der Musikproduktion für Tonträger beziehungsweise Online-Releases. Die dadurch ausgelöste Änderung kreativer Prozessabläufe ist tiefgreifend. Das entstandene Fernsehbild erweckt aber den Eindruck einer synchronen Produktion aller drei Ebenen vor Publikum. Noch wilder: Der Stream beginnt mit einer regelrechten Inszenierung, welche die gleichzeitige Anwesenheit der Beteiligten behauptet und regelrecht beschwörend glorifiziert: Wir sehen zuerst, wie der Dirigent Titus Engel seinen Blick nach rechts hinten wendet; Schnitt ins Studio von Arotin und Serghei, die den Blick hebend scheinbar ihr Einverständnis geben, und zurück zu Engel, der seinen Kopf wieder den Musikern zuwendet – und beginnt: „Here we are, doing this together“, sagt die Sequenz. Ist das Corona-Ironie? Denn zu normalen Zeiten wären ja alle drei Ebenen synchron und live im Konzertsaal gespielt worden. Oder ist es die Abwesenheit eines Präsenz- und Raumkonzeptes für die digitale Sphäre, wo Teilprozesse in unterschiedlicher zeitlicher Abfolge stattfinden können, wo jede Begegnung möglich aber keine berührend ist und wo der euklidische Raum sich auflöst, wo also Distanz und Nähe identisch werden. Müsste sich visuelle Räumlichkeit dort nicht vom Tableau der (im Filmbild nur simulierten) Leinwand über den Köpfen der Musiker*innen lösen? (gf)
Mit Blick auf den visuellen Bildrahmen der Inszenierung lohnt der Blick auf den zweiten Titel-Bestandteil des Werks, also „Infinite Screen“. Diese digitale Variante eines Spiegelkabinetts bezeichnen Arotin & Serghei als „die Bildmatrix unserer Zeit“ – und in der Tat zeigt sich gerade in der pandemischen Entgrenzung, dass allein die neuen Technologien die (pseudopräsentische) Kommunikation aufrechterhalten. Noch spannender allerdings scheint mir die Assoziation der Leinwand, die Arotin & Serghei als schwarzes Quadrat bezeichnen, als „Black Mirror“: der kalte, glänzende Bildschirm der Computer oder Smartphones, die zugleich Aufnahme- und Abspielgerät, Fotoapparat und Videokamera sind und uns alle immer und überall verbinden. In den Worten des österreichisch-russischen Künstlerduos: „Ein ,schwarzer Spiegel‘, der kein analoges materielles Bild von uns widerspiegelt“ unterstützt „ein Eintauchen in die Mehrdeutigkeit der Zeichen“ – das schließt an den Begriff der „Immersion“ an, das Ein- und Abtauchen in künstl(er)i(s)che Welten, was laut Arotin & Serghei eine „Transition des Bewusstseinszustandes“ signalisiert. (as)
Und doch bleiben Arotin und Serghei für überraschende 95 Prozent des Stücks bei der Leinwand. Am Schluss aber gibt es dann doch die Ahnung einer transitorischen Loslösung vom Tableau, als eben jenes rotierend aus dem Bildrahmen fliegt und zurückkehrt als dreidimensional gekrümmtes Objekt: als Kugel, wie sie in den psychedelischen Passagen von Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“ die Begegnung mit einer anderen Dimension, Intelligenz oder Wahrnehmungsweise verkörpert. (gf)
Die Erwähnung von Stanley Kubricks Sci-Fi-Klassiker aus dem Jahr 1968 lässt mich mit Ohrenmerk auf „Vertigo / Infinite Screen“ über das in der Regel antagonistische Verhältnis von Neuer- und Filmmusik nachdenken: György Ligeti hat vorgemacht, wie atmosphärisch gerade avancierte Musik auf der Leinwand wirksam werden kann; Brice Pauset macht im kollaborativen Schulterschluss mit Arotin & Serghei die Verschmelzung von „Sound & Vision“ weiter fruchtbar. Was mich schon wieder zu Bowie bringt, der einmal mit Blick auf Kubricks filmische Audiovision ein Gefühl der Zukunftslosigkeit thematisiert hat, das unter dem Eindruck von COVID wiederum seltsam aktuell erscheint: „Es herrschte das allgemeine Gefühl, dass es keine ‚Wahrheit‘ mehr gäbe und dass die Zukunft nicht so klar umrissen sei, wie man gedacht hatte. Die Vergangenheit übrigens auch nicht […]. Die Plattform dafür […] sollte lauten ‚We Are The Future, Now‘.“ Gerade die Flucht in extraterrestrische und virtuelle Umgebungen, wie sie ja auch Kubrick mit „2001: Odyssee im Weltraum“ thematisierte, scheint der Stoff zu sein, aus dem damals wie heute Utopien gemacht werden. (as)
Musik und Video von „Vertigo / Infinite Screen“ weisen enge Verbindungen zu Mauro Lanzas Motiv einer medial getragenen Hauntology auf, wie wir sie unten beschreiben. Passagen aus der Originaleinspielung von Bernard Herrmanns Filmmusik tauchen in Brice Pausets Klangschichten in changierend gefilterter, zerstückelter Form auf, wie sie bei schlechtem Radioempfang über weite räumliche (oder auch zeitliche, das heißt Erinnerungs-)Entfernungen auftreten können. Die Störungen hören wir als analoge Drop-outs, und die kurz aufscheinenden Klänge damit als ihr Gegenteil: analoge Drop-ins. Sie sind technische Metaphern für das Aufblitzen traumatischer Erinnerungen, von „haunting memories“. (gf)
Das Stichwort des Traum(a)s führt uns in diesem Diskursfeld um die Mixed-Media-Komposition „Vertigo / Infinite Screen“ zur Wechselwirkung von Psychoanalyse und Kino, die Hitchcocks Kinoklassiker für Brice Pauset repräsentiert – und die ja schon Slavoj Žižek in seinem „Pervert’s Guide to Cinema“ pop-philosophisch vorgeführt hat: das Un(ter)bewusste, der und das Traum/a, die (Ver)Störung, das Un/Heimliche schwingen auf Bild- wie Tonebene beständig mit, aber auch psychoakustische Erfahrungen des Schwindels und der Täuschung werden audiovisuell getriggert – indem elektronisch verarbeitete Klänge den Bezug zu ihrem Ursprung verlieren, während sich auf visueller Ebene Farben und Licht surreal überlagern und der „Rätselcharakter“ des Kunstwerks als ästhetische Erfahrung inszeniert wird.(as)
Sie gilt es sprachlich und audiovisuell (und in neueren Schulen tiefenpsychologischer Therapie auch ganzkörperlich) zu reaktivieren, weil die durch die Traumata ins menschliche System implantierte Angst nur zu lösen ist, wenn deren Ursachen als real, präsent und wirksam anerkannt werden. Im Video „Infinite Screen“, das ebenfalls Originalszenen und formale Replikate aus dem Film verwendet, findet diese Metapher ihr Pendant in einem Flackern und Schimmern, in einem Zittern der Bilder nach rechts und links sowie in Streifenblenden, die nur Teile des Bildmaterials erkennen lassen, etwa unvollständige Erinnerungsbilder unter anderem von Kim Novaks Augen in Großaufnahme oder James Stewart über dem Abgrund. Wenn Pauset später auch das Ensemble die typischen mehrdeutigen Harmonien und harmonischen Wendungen Bernard Herrmanns spielen lässt, sind die haunting memories im tiefenpsychologischen therapeutischen Prozess greifbarer geworden, halten sich nachdrücklich im Vordergrund, können studiert, dekonstruiert und womöglich entkräftet werden. Wendet man das Bild der Psychoanalyse konsequent an, spiegelt die Lösung der Visuals aus dem starren Bildrahmen am Ende auch den Schritt der Lösung vom Trauma. (gf)
#3 – Nostalgie & Hauntology: Aether is a haunted place
Ein weiteres prominentes Motiv der Psychoanalyse ist das Un/Heimliche – das Harry Vogt im Programmbuch mit Blick auf die postpräsentischen Dimensionen von „Witten21“ thematisiert: „Ohne Publikum gleicht das Festival einer Geisterbahn.“ Damit weist er den Weg zu einem weiteren Diskursfeld, das sich um „Witten21“ rankt und das auch Mauro Lanza in der Werkbeschreibung seines Zyklus für Streichquartett und Elektronik „Aether is a haunted place“ annonciert: „Die Zukunft scheint unwiderruflich verloren, aber ihr Geist verfolgt uns.“ – Damit weist der italienische Komponist unverkennbar auf eine Denkfigur, die seit einiger Zeit durch Medien und Kultur geistert … (as)
Lanzas Titel verweist auf das Konzept der „Hauntology“ – ein Kompositum aus Spuk und Ontologie. Der Begriff bezeichnet den Übergriff von etwas Vergangenem oder anderweitig Abwesenden in die erlebte Gegenwart – und zwar sowohl physisch, vor allem aber auch psychisch. Befreit man das Konzept von seiner psychoanalytischen Aufladung, erfolgt demnach jede musikalische Erfahrung wie überhaupt jegliche Sinneserfahrung im Kontext massiver kultureller Vorerfahrungen, eigene wie auch fremde, die werkseitig und hörseitig die aktuelle Musikerfahrung prägen und oft auch einen medialen Ursprung haben … (gf)
Geprägt hat den Begriff Jacques Derrida 1993 in seinem Buch „Spectres of Marx“. In den 2000er Jahren wurde der Begriff in Bezug auf Paradoxien der Spätmoderne vom britischen Kulturjournalisten und -theoretiker Mark Fisher aufgegriffen und insbesondere angewendet auf unheimliche Sounds und Verdrängtes in alten Klangstrukturen: „This is nowhere, and it’s forever“ schreibt er zu Beginn seiner Essaysammlung „Ghosts of my Life“ – und diese depressive Haltung gegenüber dem Verlust von Utopien besitzt Symbolcharakter für unsere gelähmte Gegenwart und ist durchtränkt von einer retromantischen Nostalgie – die sich beim Blick auf das Wittener Gesamtprogramm etwa in der auffällig häufigen Verhandlung alter Sounds und Klangerzeuger zeigt: namentlich das Radio, das Lanza mit dem ersten Titelbestandteil und in der Werkbeschreibung anruft: „Dass es im Äther spukt, ist nicht unwahrscheinlich. Schließlich ist die Substanz nur eine von der Wissenschaft längst überholte Imagination eines geheimnisvollen Mediums.“ (as)
Im Fall des Äthers, also dem fiktionalen „Trägerstoff“ der Radiowellen und der Sphäre zwischen Diesseits und Jenseits, verweist das Medium in einen ungreifbaren Raum, der die unmittelbare Gegenwarts-Realität übersteigt, moduliert, transzendiert. Lanza greift sich in den drei Streichquartetten des Zyklus Beispiele heraus, die man mit dem Äther in Verbindung bringen kann: 1) Die medialen Artefakte der Funkübertragung, die viele als charismatischen Kern des Radios erlebt haben („The 1987 Max Headroom Broadcast Incident“); 2) akustische Kommunikate aus dem Raum der Satelliten, der in der Antike eben in jenem Äther-Bereich oberhalb der Erdatmosphäre gesehen wurde („Memories of the Space Age“); und 3) die Begegnung und Transkommunikation mit dem Reich der Toten, die über das Medium Äther hergestellt wird („The voices didn’t stop after the war“). (gf)
#4 – Finis
Das hauntologische Denken spiegelt sich in Lanzas Zyklus in der „Faszination für elektromagnetische wie übersinnliche Kräfte“, aber auch in seinem Faible für „Fehlfunktionen von Technologie und Trugbildern“ und nicht zuletzt in einer „nostalgischen Hommage an veraltete oder schnell alternde Technologien sowie an die mit ihnen assoziierten Zukunftsvisionen.“ Auf musikalischer Ebene spiegelt sich das in einer von nostalgischem Knistern und Störgeräuschen durchzogenen Klang-Atmosphäre – eine zugleich organische und technologische Soundscape, in der man nicht weiß, was analog und was technisch erzeugt ist.
Radioklänge und musikalische Sounds greifen ineinander, teils flirrend wie die „Sphärenharmonie“, während sich in Frequenzstörungen unheimliche Stimmen aus dem Jenseits mitteilen. Anklänge an die „Cyberpunk-Science-Fiction der 1980er Jahre“ führen vor Ohren, wie sich die „Verwandlung des vormals utopischen in dystopisches Denken“ vollzogen haben: Wie aussagekräftig und zukunftsträchtig ist das für unsere Gegenwart, die ja ein Stückweit von der pandemischen Endzeit eingeholt wurde? Und – eröffnet nicht gerade die unter pandemischen Vorzeichen Fakt gewordene Dystopie neue Räume für utopisches Denken mittels avancierter Zukunftsmusik? (as)
Der Text entstand in Koproduktion von Anna Schürmer und Golo Föllmer