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Viele Kinder, mit denen wir heute an Musikschulen zusammenkommen, haben zunehmend mehr Störungen im Bereich der Sprache, bei der Koordination und im allgemeinen Verhalten. Wir haben dafür eine vereinfachte, aber im Ansatz richtige Erklärung: Kinder bewegen sich zuwenig, es wird mit ihnen nicht genug gesprochen und vor allem nicht genug gesungen. All die Dinge, die früher selbstverständlich von Eltern und Großeltern an die Kinder weitergegeben wurden - Fingerspiele, Kniereiter, Lieder, Reime, einfache tänzerische Formen und vieles andere - müssen heute auf Umwegen wieder in die Familien gebracht werden. Denn all dies ist vielen jungen Eltern heute nicht mehr bekannt oder gar vertraut. Durch unsere Arbeits- und Medienwelt ist vieles untergegangen, in den Schulen wird es nicht mehr gelehrt, vieles gilt als nicht mehr zeitgemäß. Stattdessen konsumieren die Kinder Sprache und Musik, es wächst eine sitzende, passive Gesellschaft heran, die zunehmend an allem Kreativen verarmt. Dieser Entwicklung wollen wir entgegentreten.
Das Konzept „Gemeinsam musizieren mit Eltern und Kleinkindern“ (oder „Musikgarten“), das von Prof. Lorna Lutz Heyge aufgrund jahrzehntelanger Erfahrungen in Amerika entwickelt worden ist, ist gedacht für Eltern mit Kleinkindern zwischen 18 Monaten und 3 Jahren. Es wird ihnen damit eine Hilfe gereicht, sich mit ihren Kindern spielend musikalisch-rhythmisch zu beschäftigen -wohlgemerkt: den Eltern. Es muß betont werden, daß in den Unterrichtsstunden alle Aktivitäten zunächst von den Eltern aufgenommen werden. Die Kinder sind erst einmal die staunenden Beobachter und machen nur zögernd ihre Mama oder ihren Papa nach, aber das bedeutet ja Lernen: Beobachten, Horchen, Aufnehmen, Nachmachen. Und gerade dieses Erlebnis, der Anblick und die Beobachtung der kleinen Kinder, die beim zweiten Mal schon selbst einiges wagten und offensichtlich sehr viel Spaß hatten, war für mich so beglückend, daß meine anfängliche Skepsis gegenüber diesem Konzept der Überzeugung wich, hier wirklich einen neuen Weg der Musikalisierung unserer Kinder zu sehen.
Als ich die erste Gruppe an unserer Musikschule anbot, wurde ich die einmal gerufenen Geister nicht wieder los. Wir hatten nicht absehen können, welcher Bedarf bestand, in welche Marktlücke wir da gestoßen waren. Auch in anderen Einrichtungen werden ja Mutter-Kind-Gruppen angeboten, sie sind aber mit dem Angebot der Musikschule nicht vergleichbar, da verschiedene Akzente gesetzt werden. Der musikalische Hintergrund, der zu diesem Konzept gehört, kann nicht ohne eine entsprechende Vorbildung und deshalb kaum von einer anderen Institution geboten werden. Nur äußerlich gesehen könnte jede Erzieherin mit einer guten Stimme nach diesem Konzept arbeiten, aber wir vermitteln es doch im Wissen und im Hinblick auf größere musikalische Zusammenhänge. Kinder sollen schon im Kleinkindalter mit ihren Eltern Musik live erleben, damit sie später selbstverständlich(er) und ihrem Alter gemäß mit Musik umgehen können. Sie sollen einfache Lieder singen und auf unkomplizierten Instrumenten musizieren lernen.
Wir sollten es uns als Musikschule nicht nehmen lassen, diese elementare Vermittlung von rhythmischen, musikalischen Bausteinen selbst in die Hand zu nehmen. Und die Musikschule kann mit ihren vielseitigen Angeboten durchaus auch weiterreichendes Interesse abdecken. Die Eltern verpflichten sich eigentlich nur für ein halbes Jahr, dann können sie wieder aussteigen. Die Erfahrung zeigt aber, daß kaum jemand vor Ablauf von eineinhalb Jahren aufhört und dann auch versucht, den Anschlußkurs weiterhin zu besuchen. Auch dieser findet noch mit den Eltern gemeinsam statt, bis die Kinder schließlich vier Jahre alt sind und ohne die Eltern in die regulären Gruppen der elementaren Musikerziehung einsteigen können.
[nmz1997/nmz9707/dossier/vorlage.htm]