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Musikerziehung ist eine europäische Aufgabe. Noch ehe sich hier nationale musikalische Strömungen ausbildeten – die meisten diesbezüglichen Identitätsbildungen sind in den Zeitraum zwischen dem 18. und dem 20. Jahrhundert anzusiedeln, einzelne Länder wie etwa die baltischen sind sogar noch dabei – gab es den Einheitsgedanken.
Im 13. Jahrhundert gingen Komponisten zur Ausbildung nach Frankreich, später dann in die Niederlande oder nach Italien, um Neuerungen kennenzulernen und in der Heimat zu verbreiten. Durch solche Austauschbewegungen wuchs ein kultureller Raum zusammen, in dem es zwar nationale Differenzierungen gab, die aber alle auf einer festen Basis ruhten. Die Schrift, die Notenaufzeichnung mit allen ihren Implikationen (Unterscheidung von Vertikale und Horizontale, Takt und Metrik, die chromatisch erweiterte Siebentonskala) bildete ein straff vereinheitlichendes Band. Sprachbarrieren wurden – zumindest in der „höheren“ geistlichen Musik – durch die Verwendung von Latein überwunden. Der Austausch von Musikern über nationale Grenzen hinweg war keine Seltenheit. Eine Einheit war entstanden, die erst Jahrhunderte später aufgebrochen wurde. Politisch war die Zeit noch nicht reif für die Aus- und Weiterbildung eines integrativen Bewußtseins.
Heute, nach zwei verheerenden in-nereuropäisch dominierten Weltkriegen, scheint sie es zu sein. Die Wirtschaft verlangt nach konzentrierten Großräumen, die in multinationalen Konzernen bereits vorweggenommen sind. Die Kultur zieht, verschämt wie so häufig, zögernd nach. Der ausgelobte Betrag zur europäischen Kulturförderung ist nachgerade lächerlich, und wenn ein Projekt dann Förderung erlangt, dann scheint dies über ominöse Wege erreicht worden zu sein. Die Mittel werden bürokratisch nach Punktesystemen verteilt, die, so die Logik, europäische Gesichtspunkte besonders berücksichtigen. Für einen Antragsteller wäre es im Grunde besser, nicht sein Projekt zu beschreiben, sondern sich den Punktekatalog zu besorgen (und manche wissen da anscheinend recht gut bescheid). Dann sollte er sein Projekt hinsichtlich dieser Bewertungsskala auslegen oder zurechtbiegen. Förderung ist dann (fast) garantiert. Daß man aber auf diesem Wege kaum europäische Identitäten stiften wird können, scheint selbstverständlich. Wieder einmal greifen gut geölte PR-Maschinerien. Großevents, die meisten sind bekanntlich ohne Sinn und Verstand, haben hier die besten Karten in der Hand.
Daß man aufbauend auf der großen europäischen Kultur- oder Musiktradition das Eigene suchen könnte, das Europa von der tonangebenden amerikanischen Kulturindustrie, aber auch von Afrika oder Asien unterscheidet, das aber wert ist, vor einer allgemeinen Verwässerung in obskurer Welt-Kultur gerettet zu werden, hat man noch kaum begriffen. Zu denken wäre etwa an die Tradition des Humanismus, der sich neben der Philosophie besonders in den kulturellen Taten wiederspiegelt, wohl auch an die positiven As-pekte der Aufklärung. Wenn es Europa nicht schafft, ein kulturelles Bewußtsein in dieser Richtung aufzubauen, zu fördern und zu entwickeln, dann wird auch das wirtschaftlich angestrebte Ziel des engeren Zusammenwachsens zumindest teilweise auf der Strecke bleiben. Daß in dieser Hinsicht aus gesamteuropäischer Warte nur wenig nachgedacht wurde, läßt die europäische Kulturförderung zu einem Bakschisch aus einem schlechten Gewissen heraus (hier sollte auch was getan werden, aber wir wissen nicht wie) verkommen.
Freilich hat diese ratlose Zurückhaltung ihre Gründe. Sie liegen insbesondere in der Angst einiger Nationalitäten begründet, kulturell noch mehr als bisher von einem Mainstream vereinnahmt zu werden – ein Mainstream der durchaus auch stark deutsche Züge tragen könnte. Stärker als bisher also sollte bewußt gemacht werden, daß europäische Identität, die, wie schon dargestellt, eine geschichtlich gewordene und teilweise verschüttete ist, nur zu einer wirklichen Kraft werden kann, wenn in ihr die nationalen Individualitäten im dreifachen Sinne Hegels aufgehoben (bewahrt, höher gehoben, abgeschafft) sind.
In bezug auf die Musik und besonders auf die musikalische Ausbildung haben einige Länder die Zeichen der Zeit erkannt, während andere auf Erreichtem im Dornröschenschlaf verharren. Besonders die romanischen Länder, Frankreich seit etwa zwanzig Jahren, Spanien jetzt, in Italien sind Ansätze wahrnehmbar, scheinen massiv Versäumtes aufholen zu wollen und sind in Sachen neuer musikpädagogischer Aktivitäten (von Ausbildungsstätten bis hin etwa zu Wettbewerben) außerordentlich rege. Offensichtlich sucht man, in den europäischen Einigungsprozeß gestärkt einzutreten – sowohl was die nationale Eigenart als auch, was die gesamteuropäische Konkurrenzsituation auf einem offenen Arbeitsmarkt betrifft, der man selbstbewußt begegnen möchte. Hierzulande hingegen haben wir zur Zeit vornehmlich um den Erhalt erreichter Positionen zu kämpfen – und öfter waren, betrachten wir etwa die schulische Musikbildung oder auch die Unterstützung von außerschulischen musikpädagogischen Einrichtungen durch die öffentliche Hand, herbe Niederlagen zu verzeichnen.
Das Musikland Deutschland könnte, geht es so weiter, in seiner Position gefährdet sein. Was die nationale Eigenart, ein gewiß markanter Mosaikstein auf europäischem Parkett, betrifft, muß in bezug auf die Musik eine Kehrtwendung des Denkens eingeleitet werden. Aber auch im Nachdenken über notwendige Aufgaben bezüglich eines kulturell und speziell musikkulturell vereinigtes Europa hält man sich eher bedeckt. Hier wäre aus unserer Warte insbesondere der Deutsche Musikrat gefordert (und zwar nicht als national wirkungsarmer innerhalb eines noch wirkungsärmeren europäischen Musikrates).
Denn als zu leistende Arbeit steht an, eine Bastion des Bewußtseins gegen die alles mit radikaler ökonomischer Rationalität vereinnahmenden Großkonzerne aufzubauen. Nicht alles, was sich gut verkauft, was sich rechnet ist auch geeignet, den Prozeß europäischer Identität voranzutreiben. Diese Rasenmäher der Kultur setzen doch in erster Linie auf ein für sie gut bespielbares Grün, auf dem alle individuellen Köpfe abgeschnitten sind. Diese Bedrohung, die schon im Nationalen immer verheerender spürbar wird, bekommt in Europa ein noch größeres und, wenn man sich nicht wappnet, unüberschaubareres Terrain. Aber gerade wird noch vieles verschlafen – nicht freilich von den Konzernen, die neue Luft und Neuland wittern, sondern seitens derer, die Verantwortung in höherem Sinne zu tragen hätten.
Die nmz will sich im Folgenden (und dieses Dossier soll nur einen Anfang bilden) in den Prozeß der Debatten einbringen und ihn, wo nötig, entfachen. Eine Standortbestimmung, also vorab auch eine Sichtung der nationalen musikpädagogischen Aktivitäten, erscheint dafür unerläßlich. Denn nur von hier aus, von Defiziten und Errungenschaften sind weiterführende Schritte zu denken. Ein vereinigtes Europa, das sich kulturell als ratlos präsentiert, wäre ein schlimmes, durchaus aber mögliches Ergebnis. So weit sollte es nicht kommen.