Der Deutsche Städtetag empfiehlt die Entwicklung „Kommunaler Bildungslandschaften“. Bildung sei mehr als Schulunterricht. Die allgemein bildende Schule habe nicht mehr das Informationsmonopol, öffne sich zu neuen, gemeinsamen Strukturen von Schule und außerschulischen Bildungsanbietern. „Das Klassenzimmer der Zukunft hat keine Wände!“ Mehr Bildungsqualität, weniger Selektion und Ausgrenzung, mehr Chancengerechtigkeit, auch mehr barrierearme Teilhabe am kulturellen Leben sind die Ziele.
Das bisherige duale kulturelle Bildungssystem mit den Elementen schulischer und außerschulischer kultureller Bildung wird nicht mehr als ausreichend angesehen. Kulturelle Bildung soll stärker als bisher Bestandteil einer ganzheitlichen Bildung werden. In der (Pflicht-)Schule soll es nicht so überwiegend um Sprechen, Lesen, Schreiben und Rechnen gehen, sondern auch um andere Kompetenzen, z.B. die ästhetischen. Schon Johannes Rau mahnte 2003: „Die PISA-Studie ist missverstanden, wenn wir jetzt das Pauken anfangen und das Musizieren ausfallen lassen“.
Klassische kulturelle Bildungseinrichtungen wie Musikschulen, Jugendkunstschulen, Bibliotheken und Museen erreichen traditionell nur einen kleinen Teil der Bevölkerung. Etwas 10 Prozent einer Altersgruppe von Kindern erlernt bis zum 18. Lebensjahr mehr oder weniger intensiv ein Instrument. In aller Regel sind es Kinder der bildungsinteressierten, deutschstämmigen Mittelschicht. Deshalb sollen Bildungskonzepte vernetzt werden. Im Ergebnis soll sich ein neues, integriertes System von Erziehung, Betreuung und eben Bildung entwickeln, das Kindertagesstätten, Vorschulklassen, Schulen und außerschulische Bildungsanbieter wie z.B. Musikschulen zusammenführt.
Laut einer aktuellen Untersuchung der Fachgruppe Musik der Gewerkschaft ver.di („Öffentliche Musikschulen: Für Kultur und Gesellschaft unverzichtbar“, Juni 2009) arbeiten bereits 30 Prozent der Musikschullehrerinnen und Lehrer in Kooperationen mit Schulen und anderen Bildungseinrichtungen. Nur 8,5 Prozent der Kollegenschaft würde Kooperationen grundsätzlich ablehnen. Nicht nur die Fachgruppe Musik von ver.di sieht allerdings die Gefahr, „dass (instrumentale und vokale) Grundlagen nicht ebenso sorgfältig und professionell gelegt werden, wie mit erprobten Unterrichtsformen an der Musikschule“. Die Instrumentalausbildungen müssten „von Anfang an auf die individuellen Voraussetzungen eines Schülers“ eingehen können. „Hierzu sind Großgruppenprojekte nicht geeignet, da pro Schüler zu wenig Unterrichtszeit zur Verfügung steht“ (ebd.).
Die Skepsis vieler Fachkollegen dem Jeki-Projekt gegenüber ist nicht zu überhören. Kaum eine/r hat das Unterrichten von Großgruppen gelernt. Die Jubelreden der Politiker zu „Jeki“ dagegen wirken wie von einem anderen Stern kommend. Außerdem befürchtet ver.di nicht ganz zu unrecht, dass die Musikschule dabei gezwungen sein könnte, „sich an ihrer Abschaffung aktiv zu beteiligen, indem sie immer mehr die oben genannten Projekte bedienen muss und so immer weniger ihrer eigentlichen Aufgabe (Instrumentalunterricht, individuell …) nachkommen kann“ (ebenda).
Selbst aus Berlin, von dessen Musikschulpolitik es z.Zt. leider nur Grausliches zu hören gibt, kommt dazu ein Satz, der aufhorchen lässt. Der Berliner „Leistungs- und Qualitätsentwicklungsbericht zur Arbeit der Musikschulen Bildung für Berlin“ (Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2008) stellt fest: „Die Entwicklung neuer Aufgabenfelder der Musikschulen erfordert zusätzliche Ressourcen. In dem bildungspolitisch wichtigen Aufgabenfeld der Kooperation mit Ganztagsschulen können die Ausgaben nicht allein aus Elternentgelten gedeckt werden. …Es bedarf zusätzlicher Landesmittel (= Personalmittel, der Verf.), um die vernetzte Arbeit zu entwickeln und auszubauen“. Die Kritik aus der Elternschaft, dass Kinder aufgrund der wachsenden Zahl der Kooperationen keinen Unterrichtsplatz am Nachmittag bzw. keine Anschlussförderung in der Musikschule mehr erhalten, hat an manchen Orten bereits bemerkenswerte Ausmaße erreicht.
Wie könnten kommunale Bildungslandschaften aussehen? Wie kann der sehr zu begrüßende Impuls der Politik, die musikalische Breitenarbeit zu intensivieren und mehr Kinder als bisher für ein Instrumentalspiel zu begeistern, in Kooperation mit den Musikschulen realisiert werden, ohne dass dadurch die individuelle Einzelförderung in der Musikschule gefährdet wird? Wie könnte sich die Zusammenarbeit zwischen Musikschulen, Kindertagesstätten und Schulen in einer „Kommunalen Bildungslandschaft“ sinnvoll entwickeln?
Die Zukunft?
Die Musikschule der Zukunft hat zwei Standbeine, unterrichtet „drinnen und draußen“. Zum Grundfachbereich der Musikschule kommt ein äußerer Unterrichtsbereich, der Kooperationsbereich, der Unterricht in den Schulen und Kindertagestätten. Dazu können auch gehören „Musikvermittlung“, Kinderkonzerte, punktuelle Aktivitäten „vor Ort“, auf der Straße, in den Siedlungen, aus denen sonst keine Musikschulschüler kommen.
Der Tübinger Bildungsforscher Ulrich Herrmann sagt, bevor „gefördert und gefordert“ werden kann, müsse man zunächst einmal „füttern und finden“. „Man kann nicht ernten wollen, ohne gesät und gedüngt zu haben“, es gehe darum, „diejenigen Potentiale zu finden, deren ‚Fütterung’ die Grundlage für nachfolgendes Fördern und Fordern ist“. Wie richtig.
„Draußen“, im äußeren Unterrichtsbereich in den Kitas und Schulen unterstützt die Musikschule Erzieherinnen und Schulmusikerschaft beim „Füttern und Finden“. Sie wirkt mit bei der musikalischen Breitenbildung, bei einer ganzheitlichen Bildung, engagiert sich dafür, mehr Kinder für einen aktiven und kreativen Umgang mit der Musik zu begeistern, hilft mit, musikalische Begabungen eher zu entdecken.
Besonders die Kindertagesstätten werden immer wichtiger. Schule beginnt viel zu spät. Je eher die Kinder Musik erleben, desto wirksamer.
„Drinnen“ in der Musikschule wird traditionell immer bereits „gefüttert und gefunden“, in der musikalischen Frühförderung, in den Eltern-Kind-Kursen, bei der vokalen und instrumentalen Frühförderung, in der Rhythmik, bei der Bewegungserziehung und beim Kindertanz. Im ersten Instrumental-, Gesangs- und Tanzunterricht vermittelt die Musikschule immer schon Grundlagen, Motivation, Breitenbildung. In der „Kommunalen Bildungslandschaft“ weiten die Musikschulen nun das „Füttern und Finden“ aus, mit dem zusätzlichen Kooperationsstandbein „draußen“.
Für viele sind Projekte wie die seit 1996 bestehende Kooperation der Staatlichen Jugendmusikschule Hamburg mit den Grundschulen bereits Beispiele dieser neuartigen Vernetzungen. Musikschulkräfte gehen in die Schulen, unterrichten halbe oder ganze Klassen allein oder in Zusammenarbeit mit Schullehrkräften, und das entgeltfrei. An vielen Orten gibt es bereits die Streicher-, Bläser-, Perkussions-, Gitarrenklassen etc., bei denen ein Schulmusiker und eine Musikschulkraft zusammen unterrichten. In den letzten Jahren dazugekommen sind die Projekte „Jedem Kind ein Instrument“, das „Monheimer Modell“ oder „Jedem Kind seine Stimme“. Auch hier arbeiten Schulen und Musikschulen zusammen. Es geht um Instrumentenmotivation oder „schulischen Instrumentalunterricht“ bzw. um grundlegende Singförderung.
Faktische Kooperationen gab es schon immer, auch wenn sie meist nicht so genannt wurden, z.B. die Zusammenarbeit der Musikschulen mit den Schulen bei den Schulorchestern, wo Musikschulen die Instrumentalisten ausbilden, die die Schulmusiker zum Schulorchester zusammenfassen.
Zur Zeit entwickeln sich auch verschiedene Mitwirkungsmöglichkeiten der Musikschulen in den Kindertagesstätten: dort gibt es nicht nur Musikschulkurse in der Kita, sondern auch Fortbildung in anlassbezogener Musikalisierung im Kitaalltag („Kita macht Musik“) oder Coaching für Erzieherinnen, Kita-Patenschaften und Kita-Konzerte etc.
„Drinnen“ in der Musikschule werden die jungen Instrumentalisten, Sänger und Tanzbegeisterten, werden die Talente, die draußen entdeckt werden, dann „gefördert und gefordert“. Auf den grundlegenden unterrichtlichen Aktivitäten „drinnen und draußen“ baut das komplexe Unterrichtsprogramm der öffentlichen Musikschule auf: die „fördernde und fordernde“ Einzelförderung bzw. Individualisierung („Ungleiches ungleich behandeln“), der Leistungsunterricht, der gestufte Ensembleunterricht, der Unterricht in den Ergänzungsfächern, die Schülerkonzerte bzw. das Lernen von Auftritten, die Begabtenförderung und die Studienvorbereitende Ausbildung. Selbst den Grundfachunterricht kann bereits eine Hochbegabtenförderung ergänzen.
Ich rede von den Kernaufgaben, den Alleinstellungsmerkmalen der öffentlichen Musikschule, von ihrem trotz aller Kooperationsprojekte unverzichtbaren komplexen Leistungspaket, das durch Zusammenarbeit in einem Musikschulkollegium entsteht. „Füttern und Finden“ und „Fördern und Fordern“ bauen aufeinander auf bzw. stärken sich wechselseitig.
Was ist zu tun?
Nicht nur der Musikunterricht der Schulen und die außerschulischen Musik-Bildungsanbieter, auch die musikpädagogischen Verbände sollten jetzt enger zusammenrücken, um die Entwicklung zu unterstützen. Wollen wir nicht e i n e n Musikpädagogik-Dachverband gründen, um stärker auftreten zu können?
Der Schulbereich muss inhaltlich, organisatorisch und finanziell mehr zum Gelingen der Kooperationen beitragen. Bildungskonzepte sind gemeinsam zu entwickeln und zu verantworten. Muss die hohe Schülergrundstundenzahl, die die Schüler des verkürzten Gymnasiums so sehr am Besuch des privaten Instrumentalunterrichts hindert, wirklich sein? Wir brauchen echte Rhythmisierungen des Schulalltags, Einzelunterricht am Vormittag (!), Anrechenbarkeit des Besuchs bei außerschulischen Bildungsanbietern, ausbildungsangemessene Vergütungen für die Instrumental-, Gesangs- und Tanzpädagogen und längerfristige Beschäftigungsperspektiven. Dazu Qualitätssicherung. Die kommunalen, öffentlichen Musikschulen sind die Kompetenzzentren, sie sollen die Instrumental-, Gesangs- und Tanzpädagogen für die Kooperationen aussuchen und die Fachaufsicht ausüben.
Kinder mit bildungsfernem Familienhintergrund können aufgrund einer Gebühren- bzw. Entgeltpflicht meist nicht erreicht werden. Hier sollten die bestehenden Kooperationen in Hamburg, Berlin und anderswo, die gebührenfrei stattfinden, Vorbild sein.
Da sich die verlängerten Aufenthalte der Schüler in der allgemein bildenden Schule durch den Ganztagsbetrieb negativ auf Musikschulunterrichtsbesuche, auf häusliches Üben und auf die Ensemblearbeit von Schule und Musikschule auswirken, brauchen wir geeignete Rahmenbedingungen, Kooperationsvereinbarungen, garantierte Zeitfenster und garantierte Unterrichtsräume. Die zunehmenden außerschulischen Aufgaben der Musikschulen dürfen nicht zu Lasten der Kernaufgaben gehen. Für die neuen Kooperationen müssen zusätzliche Personalmitteln ausgebracht werden.
In den Ausbildungsstätten sollten die zukünftigen Musikschulkräfte auf die aktuellen Aufgaben hin vorbereitet werden, auf den Unterricht mit größeren Schülergruppen und auf kooperatives Unterrichten. Die späteren Kooperationen werden erfolgreicher sein, wenn bereits im Studium entsprechende Vorerfahrungen gemacht wurden. Auch zukünftige Schulmusikerinnen und Schulmusiker sollten bereits während des Studiums auf Kooperationen hin ausgebildet werden.
Wie müssen die Fortbildungen für die Musikschulkräfte beschaffen sein?
Beispiel: In der Landesmusikakademie Hamburg, der Vernetzung der Fortbildungsabteilungen der beiden VdM-Musikschulen Staatliche Jugendmusikschule und Hamburger Konservatorium, werden die Musikschullehrkräfte vor allem für die augenblicklichen Veränderungen in der Bildungslandschaft fortgebildet. 75 Prozent der Fortbildungen gehen auf die aktuellen Anforderungen ein: Frühförderung, Gruppenunterricht, Klassenunterricht, Unterricht mit Schulklassen, Kooperationsprojekte, populäre Musik, andere Musikkulturen.
Das Hamburger Landesinstitut (Li) für Lehrerbildung und die Landesmusikakademie entwickeln gemeinsam Angebote. Das Li ist dabei für die Inhalte und Methoden des allgemein bildenden Schulunterrichts zuständig, die Landesmusikakademie für den instrumental-, vokal- und tanzpädagogischen Unterricht. Man ergänzt sich gut. Auf jeden Fall, vor dem Hintergrund der vielen neuen unterrichtlichen Anforderungen und der Forderung nach hoher Veränderungsbereitschaft müssen den Lehrkräften erheblich mehr Fortbildungen als bisher angeboten werden, auch Supervision und weitere Förder- und Unterstützungsangebote.
Wichtig sind jetzt Maßnahmen, die eine gemeinsame Ideenfindung in Gang setzen und die bisher sehr unterschiedlichen Systeme der schulischen und der außerschulischen Musikbildung in neue Strukturen überführen: „Runde Tische“ aller Beteiligten, institutionalisierte Zusammenarbeit, Kooperationsbeauftragte. Der beste Weg geht sicher über eine gute Kommunikation zwischen allen Beteiligten.