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Typische Instrumente der Musiktherapie. Fotos: Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft
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Musiktherapie an Musikschulen

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Musiktherapeut*innen beherrschen durch ihre akademische Ausbildung die Kunst, die Wirkungen von Musik gezielt und professionell für nicht-musikalische Zielsetzungen einzusetzen. Diese Expertise, an welche auch ein grundlegendes Verständnis über gelingende und gestörte Entwicklungsprozesse bei Kindern und Jugendlichen sowie vertiefte Kenntnisse über psychosomatische Krankheitsbilder und Behinderungsformen gekoppelt ist, wird seit den 1970er-Jahren in manchen Musikschulen Deutschlands als Bereicherung und sinnvolle Ergänzung im musikpädagogischen Umfeld erlebt und angeboten (z.B. in Mannheim, Stuttgart, Hamburg, usw.). Musikschulleiter*innen erkannten hier – lange bevor Inklusion in aller Munde war – den Bedarf, den Menschen mit seinen individuellen Bedürfnissen in den Mittelpunkt zu stellen: unabhängig von Alter, bestimmten Einschränkungen oder kulturell-sprachlichem Hintergrund. Musiktherapeut*innen an Musikschulen sollten ein fachlich profundes Angebot machen für Kinder, Jugendliche oder Erwachsene, welche Musik machen und erleben möchten, um emotional-soziale Krisen zu überwinden oder bestimmte, in ihrer Entwicklung verzögerte Wahrnehmungsbereiche oder Fähigkeiten fokussiert zu fördern.

Die zunehmende Etablierung des Fachs Musiktherapie an Musikschulen fand zunächst sehr individuell und relativ unabhängig von der parallel ebenso stattfindenden Entwicklung und Implementierung sonderpädagogischer Angebote an Musikschulen statt (Fachausschuss im VdM für Instrumentalunterricht mit Menschen mit Behinderung, heute Fachausschuss Inklusion). Hier ging es ja explizit darum, Menschen mit Beeinträchtigungen in ihrem Recht auf „normalen“ Musikschulunterricht jenseits von (inflationärer, unreflektierter) Therapeutisierung zu stärken und passende Unterrichtsformate und Methoden zur Verfügung zu stellen.

2002 gründete sich in Mannheim auf Initiative von Marjolein Kok (MS Mannheim) und Gisela Peters (JMS Hamburg) der Bundesweite Arbeitskreis Musiktherapie an Musikschulen (BAMMS). Ziel war es, die bereits an Musikschulen arbeitenden Musiktherapeut*innen zu vernetzen (zu diesem Zeitpunkt waren bereits 44 Kolleg*innen bekannt), Rahmenbedingungen auszutauschen sowie im Sinne von Qualitätssicherung zu standardisieren. Außerdem sollten Evaluationen musiktherapeutischer Angebote an weiteren deutschen Musikschulen und die Anbindung an den VdM sowie die Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft (DMtG) vorangetrieben werden (2004 waren bereits über 80 Musikschulen mit Musiktherapie registriert).

Im Jahr 2002 fand eine vom VdM organisierte gemeinsame Fachtagung mit den (sonder-)musikpädagogischen Kolleg*innen in Loccum statt, mit dem Titel „Instrumentalspiel mit Behinderten und/oder Musiktherapie an Musikschulen“. Hier wurde in zahlreichen Fachvorträgen und inspirierenden Workshops bereits sehr deutlich, dass sich beide Arbeitsfelder trotz einiger Gemeinsamkeiten bezüglich der humanistischen Haltung, mancher Methoden (Lieder, Spielvorschläge, etc.) und Verantwortungsübernahme gegenüber Menschen jenseits des musikschulischen „Mainstreams“ jedoch im jeweiligen Auftrag ganz prinzipiell und klar abgrenzbar unterscheiden. Und dass keiner der beiden Bereiche den jeweils anderen ersetzen kann – und jeder eine eigene Qualifikation erfordert.

Entscheidend ist, ob das Ziel das Erleben von Musik und den Erwerb von instrumental-/gesangstechnischen Fähigkeiten darstellt (a Unterricht) oder die gezielte Förderung von nicht-musikalischen Zielsetzungen mit Hilfe des wirksamen Ausdrucks- und Kommunikationsmittels Musik (a Musiktherapie). Der Schweregrad der Erkrankung, Beeinträchtigung oder Behinderung spielt hier nicht die entscheidende Rolle, da auch pädagogische Konzepte für Menschen mit schwerer Mehrfachbehinderung vorliegen und in der Musiktherapie auch Kinder und Jugendliche therapeutisch begleitet werden, welche keine offensichtlichen Einschränkungen haben.

Verkürzt und plakativ ausgedrückt: Nicht jeder Mensch mit Behinderung braucht Therapie – und Musiktherapie an Musikschulen ist keinesfalls nur ein Angebot für Menschen mit Behinderung, bei denen eine spezielle therapeutische Indikation besteht. Durch das Angebot Musiktherapie sollen in Musikschulen vielmehr Räume geschaffen werden, in denen auch jene Kinder und Jugendliche niederschwellig und fachlich versiert aufgefangen werden, welche sich in persönlichen oder familiär/schulisch/sozial bedingten Entwicklungskrisen befinden und von therapeutischer Unterstützung profitieren, bevor sich schwerwiegendere Fehlentwicklungen oder Störungen manifestieren. Hier leisten Musikschulen, welche das Angebot Musiktherapie in ihren Fächerkatalog aufgenommen haben, einen gezielten Beitrag zu sekundärer Prävention (a Fehlentwicklungen/Auffälligkeiten/Symptome frühzeitig erkennen und professionell begleiten, bevor eine ambulante/stationäre Behandlung in kinderpsychiatrischen Ambulanzen oder Kliniken greift).

2017 feierte der Bundesweite Arbeitskreis Musiktherapie an Musikschulen sein 15-jähriges Jubiläum und konnte im Rahmen einer beeindruckenden Fachtagung die Vielfalt und die bereits erfolgte Ausdifferenzierung seines Arbeitsfeldes darstellen. Dadurch inspiriert, gibt der VdM, welcher bereits 2008 Musiktherapie als sinnvolles Ergänzungsfach an Musikschulen in seinen Fächerkatalog aufgenommen hat, aktuell eine eigene Veröffentlichung heraus, welche im Rahmen seiner Buchreihe „Arbeitshilfen“ unter dem Titel „Spektrum Musiktherapie an Musikschulen“ in diesem Sommer erscheinen wird: Von zahlreichen, erfahrenen musiktherapeutischen Kolleg*innen werden bundesweit Einzelfallbeispiele skizziert von Kindern und Jugendlichen mit Autismus, Aufmerksamkeits- oder Affektregulationsdefiziten, sozialem Rückzug beziehungsweise depressiver Entwicklung oder in persönlichen Krisen sowie von Erwachsenen mit schwerer Mehrfachbehinderung oder nach Schlaganfall. Und es werden die umfangreichen, über viele Jahre etablierten und bewährten Kooperationen aufsuchender musiktherapeutischer Angebote vorgestellt, zum Beispiel mit Grundschulförderklassen, SBBZs (Sonderpädagogische Bildungs- und Beratungszentren) und ReBBZ (Regionale Bildungs- und Beratungszentren), mit Wohnheimen für Menschen mit Unterstützungsbedarf, Unterkünften für Geflüchtete, Frauenhäusern, Alten- und Pflegeheimen, et cetera.

Die nachhaltige und engagierte berufspolitische Arbeit des BAMMS, welcher in diesem Jahr mit seinem 18jährigen Bestehen buchstäblich erwachsen beziehungsweise volljährig wird, hat sich gelohnt und trägt Früchte: als der VdM 2014 seine Potsdamer Erklärung verfasste und sich dem Ziel verpflichtete, Inklusion an Musikschulen voranzutreiben, so dass diese wahrlich Orte werden von gesellschaftlicher Vielfalt und barrierefreier Breitenarbeit, wurde Musiktherapie als ein hilfreicher Beitrag auf diesem Weg definiert (VdM 2014, S.3). Denn das Fach Musiktherapie unterstützt Musikschulen effektiv und differenziert darin, persönlich-innerpsychische, emotionale, soziale und kognitive Barrieren abzubauen und Empowerment (Selbstermächtigung) von Menschen zu stärken, so dass diese ihre Teilhabemöglichkeiten auch tatsächlich in Anspruch nehmen und ausschöpfen können.

Dabei ist der interdisziplinäre Austausch mit unseren inklusiv-pädagogischen Kolleg*innen und dem Fachausschuss für Inklusion im VdM unter der Leitung von Robert Wagner längst von gegenseitig wertschätzender Zusammenarbeit gekennzeichnet. Hand in Hand verwirklichen wir in Anerkennung unserer jeweils unterschiedlichen Professionen im angeregten Diskurs das gemeinsame Ziel einer Musikschule für alle – und damit modellhaft einer Gesellschaft, in der jeder Mensch mit seinem So-Sein anerkannt wird und sein in ihm wohnendes Potenzial selbstwirksam entfalten kann.

  • Cordula Reiner-Wormit ist Dipl.-Musiktherapeutin mit Heilbefugnis für Psychotherapie (HPrG) an der Musikschule Waghäusel-Hambrücken e.V. (seit 1999) und leitet dort den Fachbereich Inklusion & Musiktherapie. Sie ist Ansprechperson im BAMMS und wurde 2016 in den Fachausschuss Inklusion des VdM berufen.

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