Im April 1980 reiste ich als 18-Jähriger alleine nach Nepal. Unsere Maschine sollte in Delhi landen, doch aufgrund eines Sandsturms mussten wir nach Karachi abdrehen. Auf dem dortigen Flughafen saßen wir bei tropischer Hitze 40 Stunden fest, und fast alle Mitreisenden verfielen in völlige Apathie. Als großer Bewunderer der Gruppen Oregon und Shakti wollte ich die indische Musik kennenlernen, und da begegnete ich in der stillstehenden Zeit dieses Warteareals Ravi Shankar, der mit meiner Neugier sehr wohlwollend umging.
Der charismatische Meister ließ mich nicht nur wissen, wie wichtig es sei, dass Ost und West weit über die Musik hinaus voneinander lernen, sondern betonte auch, dass hier noch viele ungelüftete Geheimnisse zu entdecken seien. Gleich darauf erwarb ich in Kathmandu sein Buch „My Music, My Life“. Die Musik des Orients hat mich seither nicht mehr losgelassen, sei es in originaler Überlieferung, in Gurdjieff-Arrangements oder in westlichen Fusionsbestrebungen wie bei Peter Michael Hamel. Zugleich erschienen mir pauschale Behauptungen wie die von Peter Gradenwitz, Olivier Messiaen sei der erste gewesen, der sich ernsthaft mit der Musik des Ostens auseinandergesetzt habe, höchst unglaubwürdig, und dies nicht nur aufgrund der Existenz von Gustav Holst oder Colin McPhee.
Zwischen Orient und Okzident
Vor zwanzig Jahren wurde mir klar, wie lausig Gradenwitz seine „Musik zwischen Orient und Okzident“ zusammengeschrieben hatte, und wie wenig selbst unsere spezialisierten Fachleute über die Wechselwirkung zwischen orientalischer und westlicher Musik wissen, gerade in der Zeit der großen Umwälzungen – bis heute. Ich lernte, auf Hinweis eines aufgeweckten Freundes, Musik von John Foulds kennen, darunter Schlüsselwerke wie die „Three Mantras“, „Dynamic Triptych“, „Essays in the Modes“ oder das „Quartetto intimo“. Diese Werke waren erst wenige Jahre zuvor ersteingespielt worden und teilweise noch nie öffentlich erklungen. Bis dahin gab es von Foulds gar nichts, keiner kannte ihn, die Musikgeschichte war ohne ihn geschrieben worden.
Heute wissen wir, dass John Foulds der erste Europäer war, der bereits vor der Jahrhundertwende Vierteltöne verwendete; dass er ein Pionier der südindischen Raga-Modi war und in den zwanziger Jahren einige hochvirtuose Werke schrieb, die jeweils ohne jede Modifikation durchgehend in einem einzigen dieser Modi gehalten sind; dass er der kühnste Neuerer, brillanteste Orchestrator und vielseitigste Meis-ter war, den die neuere englische Musikgeschichte kennt; und wer sich tie-fer hinein begibt, erkennt, dass die einzigartige Strahlkraft von Foulds’ Musik der Tonsprache eines Debussy, Skrjabin, Ravel oder Bartók ebenbürtig ist, was Originalität, Tiefe der Empfindung, Spannweite des Ausdrucks, detaillierte handwerkliche Meisterschaft oder zusammenhängende Formung betrifft.
Transzendenter Eigenton
John Herbert Foulds wurde am 2. November 1880 in Manchester als Sohn eines Fagottisten des Hallé Orches-tra geboren. Er entwickelte sich zu einem exzellenten Cellisten, und seine ersten bemerkenswerten Kompositionen entstanden vor der Jahrhundertwende. Bald trat er mit ersten Orches-terwerken hervor, und obwohl durchaus noch viele Einflüsse zu vernehmen sind, darunter auch von Strauss, Debussy und Elgar, kommt bereits jener visionär transzendente Eigenton zum Vorschein, der stets alle Begrenzungen des Bewusstseins überschreiten möchte und für sein weiteres Schaffen so kennzeichnend ist. Sein Cellokonzert hat deutliche Züge einer eigenständigen Fortführung des damals noch neuen Dvorák’schen Konzerts, die Tondichtung „Mirage“ thematisiert die Transformation des Menschen.
1915 lernt er Maud MacCarthy (1882–1967) kennen, und sein Leben nimmt eine nachhaltige Wende. Die beiden verlieben sich sofort, erreichen eine einvernehmliche Regelung mit ihren bisherigen Ehepartnern und arbeiten gemeinsam an einem Projekt, das keine Vorgänger kennt und keinen Namen hat: 50 Jahre später sollte es, von Ravi Shankar und Yehudi Menuhin verwirklicht, „West Meets East“ heißen. Maud MacCarthy war kometenhaft zu Englands führender Geigerin aufgestiegen, konzertierte regelmäßig mit Donald Tovey und Percy Grainger, wurde bald als „legitimate successor to Joachim“ gepriesen und musste ihre Virtuosenkarriere aufgrund von Armbeschwerden abbrechen. 1907–09 ging sie nach Indien, wo sie zunächst in Madras, dann in Benares und Lahore studierte und sich als erste westliche Musikerin auch in den Augen ihrer Lehrer zu einer vollendeten Meisterin der süd- und nordindischen Ragamusik entwickelte, mit ihrer Mikrotonalität, die bis zu 20 Unterteilungen der Oktav kennt, und ihren komplexen rhythmischen Mustern. Zurück in Europa, gab sie Kurse und öffentliche Vorführungen. Und nun also, ab 1915, wirkt sie Seite an Seite mit John Foulds, der gerade an seinen „Recollections of Ancient Greek Music“ arbeitet, die fast wie eine Vorwegnahme des Gurdjieff/de Hartmann-Stils erscheinen und erst 2014 in München durch Amadeus Wiesensee uraufgeführt werden sollten.
Widerspruch zum Establishment
1918 bis 1921 komponiert Foulds sein panreligiöses „World Requiem“, zu welchem Maud die Texte zusammenstellt. Die Uraufführung am Armistice Day 1923 in der Royal Albert Hall ist nicht einfach ein grandioser Erfolg, sondern bewegt die Menschen zu Tränen und wird in den folgenden drei Jahren wiederholt. Doch das englische Establishment möchte kein „World Requiem“, das allen Kriegstoten huldigt, sondern ein nationales Werk. Einem Netz von Intrigen entrinnend, wandern John und Maud über Sizilien nach Paris aus. Dort schreibt John Foulds jene Werke, die ihn als einen der innovativsten und unkonventionellsten Meister seiner Epoche ausweisen: die „Essays in the Modes“ für Klavier solo, das Klavierkonzert „Dynamic Triptych“ und 1919 begonnen und 1930 vollendet die „Three Mantras“ für Orchester, Vorspiele zu den drei Akten seiner verschollenen Mysterienoper „Avatara“, die drei höhere Bewusstseinszustände widerspiegeln. Foulds kehrt zurück nach London, und erfolgreiche Aufführungen des „Dynamic Triptych“ und der lebenssprühenden Tondichtung „April-England“ geben Anlass zu Hoffnung. Doch innerhalb des zuständigen Komittees der BBC ist es beschlossene Sache, dass seine Musik zum Schweigen gebracht wird, wie Nalini Ghuman in ihrem exzellent recherchierten Buch „Resonances of the Raj“ nachweist. Man will Foulds nur als „Light Music Composer“ gelten lassen, wo er – wie einst Mozart, Schubert oder Beethoven – nicht weniger begabt, feinsinnig und erfinderisch ist als in anspruchsvolleren Schöpfungen. Und man will keine Kunst, die offenbart, dass auch der Westen vom Osten zu lernen hat.
1934 schreibt Foulds „Music To-Day“, das zu den reflektiertesten und gehaltvollsten Büchern über Musik im 20. Jahrhundert gehört. 1935 siedelt er mit Maud und ihren beiden Kindern im Gefolge eines erleuchteten Meisters nach Indien über, wo sie die ersten 18 Monate ohne Geld unter schwierigsten Bedingungen überleben. Dann wird er Direktor für europäische Musik bei All-India Radio in Delhi, initiiert die Sendereihe „Orpheus Abroad“ und gründet das Indo-European Orchestra mit indigenem indischen Instrumentarium. Am 25. April 1939 stirbt er plötzlich in Kalkutta an der Cholera, fern der in Punjab lebenden Familie. Die Welt treibt dem Zweiten Weltkrieg entgegen, von seinem Tod nimmt kaum jemand Kenntnis. Leider sind die meisten seiner in Indien entstandenen Werke verschollen, doch auf indirektem Wege wirkte Foulds’ Pioniertätigkeit weiter: durch Walter Kaufmann (1907–84), der in Bombay seine „Symphonic Studies“ uraufführte, 1957 Professor für Musikethnologie an der Indiana University wurde und die zwei Grundlagenbände über nord- und südindischen Raga verfasste; und durch Ravi Shankar, der von den im Rundfunk übertragenen Arrangements indischer Melodien von John Foulds inspiriert wurde und nach der indischen Unabhängigkeit in den 50er-Jahren die Idee des Indo-European Orchestra neu aufgriff und zu großer Popularität führte.
Das, was von Foulds’ Musik erhalten blieb, brachte seine Witwe später nach Europa zurück, wo man ihn völlig vergessen hatte. Der schottische Musikforscher Malcolm MacDonald und der Verleger Graham Hatton entdeckten sein Schaffen, und Ende der 70er-Jahre kam es zu ersten Wiederaufführungen. Foulds’ orchestrales Hauptwerk „Three Mantras“ wurde erst 67 Jahre nach Vollendung in Helsinki uraufgeführt. Es würde zu den Kultwerken der klassischen Moderne wie Strawinskys „Sacre“, Prokofieffs „Skythische Suite“, Bartóks „Mandarin“ oder Varèses „Arcana“ zählen, hätte man es seinerzeit zu hören bekommen. Sakari Oramo, der die Mantras dort hörte, brachte sie mit nach England, als man ihn in Birmingham zum Nachfolger Simon Rattles berief. Man produzierte zwei fulminante CDs für Warner Classics und präsentierte die Mantras – für Oramo „der Gipfel der britischen Orchestermusik zwischen den Weltkriegen“ – erstmals bei den Proms.
Nun spielt Ottavia Maria Maceratini am 24. Februar anlässlich ihres Deutschlandradio-Debüts in der Berliner Philharmonie mit dem Deutschen Sinfonie-Orchester unter Gustavo Gimeno die deutsche Erstaufführung von Foulds’ Klavierkonzert „Dynamic Trip-tych“ – wäre dieses Konzert nicht vor den beiden Ravel-Konzerten entstanden, so dürfte manch hellhöriger Kenner versucht sein, in der mystischen Ekstase des langsamen Satzes auf das Vorbild in Ravels G-Dur-Konzert zu verweisen. In den abgründig gleitenden Vierteltonpassagen ist es jedes Mal aufs Neue, als zöge man uns den Boden der Tonalität unter den Füßen weg. Und eine virilere, lebensfreudigere Musik als in den Ecksätzen des „Dynamic Triptych“ lässt sich nicht denken. Holen wir nach, was die Engländer jahrzehntelang versäumt haben, und freuen wir uns, dass mit John Foulds einer der größten Meister der Epoche zu entdecken ist.
Bücher und CDs
- John Foulds: Music To-Day Op. 92, Noverre Press, ISBN 9781906 830311
- Nalini Ghuman: Resonances of the Raj. India in the English Musical Imagination, 1897–1947, Oxford University Press, ISBN 978019 9314898
- Malcolm MacDonald: John Foulds and his Music, Kahn & Averill, ISBN 1871082048
- John Foulds Edition: Erstdrucke, Repertoire Explorer, www.musikmph.de
- John Foulds: 3 Mantras, Dynamic Triptych, April-England, Mirage etc., City of Birmingham SO, Sakari Oramo, Warner Classics 2564 645113 (2 CDs)
- John Foulds: Orchestral Music Vol. 1–4; BBC Concert Orchestra, Ronald Corp Dutton Epoch (harmonia mundi)