Wenn das „Progressive“ zwar registriert aber abgelehnt wird – geschenkt, gehört dazu. Wenn es nicht verstanden wird – o.k., Ausweis eben seiner Fortschrittlichkeit. Wenn es attackiert wird und verfolgt: scheußlich, aber „irgendwie“ verständlich. Aber wenn das „Progressive“ als solches überhaupt nicht mehr wahrgenommen wird und in einem öffentlichen Diskurs für seine „Daseinsberechtigung“ erst kämpfen muss unter der Rechtfertigung, doch eigentlich von großer gesellschaftlicher Relevanz zu sein und an diese Behauptung Forderungen anschließt, es seien ihm Schutzräume zu reservieren, um überhaupt wahrgenommen zu werden und in seiner gesellschaftlichen Bedeutung zur Geltung kommen zu können – da ist doch einiges zumindest „dumm“ gelaufen, wenn nicht sogar schief, grundschief.
Dumm gelaufen, das könnte die Überschrift für so viele gesellschaftliche Entwicklungen sein, der letzten Jahre: Finanzmärkte, Eurostabilität, Prekariat, Privatfernsehen. Es sind die Läufe der Dummheit, die sich da verkörpern. In dem eben erschienen Suhrkamp-Band: „Blödmaschinen – über die gesellschaftliche Fabrikation der Stupidität“ geben die Autoren Markus Metz und Georg Seeßlen berückende Einblicke in ein komplexes und dialektisches Kraftwerk von verblödenden Klugheitsmaschinen und klugen Verblödungsapparaten. Wobei das Bild der „Maschine“ und des Apparats steht für die Herstellung einer „automatisierten“ Bereitschaft von Individuen, Gruppen oder Schichten, in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext sich (bereitwillig und unbemerkt) ein X für ein U vormachen zu lassen. Beispielsweise den „Nachrichten“ zu glauben, den Kapitalismus mit einem Naturgesetz zu verwechseln, „die“ Wissenschaft als Richtschnur für alle Lebenszusammenhänge zu akzeptieren, die „Ziehung der Lottozahlen“ mit den „Börsennachrichten“ gleich zu setzen (– und umgekehrt), oder ganz allgemein „Unbedeutendem“ „Bedeutung“ beizumessen, nur weil ein bestimmter Code der Kommunikation dies signalisiert. Mit der guten alten Kritik der Unterhaltungsindustrie und der Mediengesellschaft hat das alles (noch) zu tun – das Gewebe der gegenseitigen Abhängigkeit aber und des wechselseitigen Bedingens im stillschweigenden Einverständnis zwischen Produzent und Empfänger von Stupidität bedarf einer tieferen Analyse. In diesem gegenseitigen (und größtenteils) unbewussten Wechselspiel kann „Vernünftiges“ sehr schnell „dumm“ werden und „Dummes“ vernünftig erscheinen.
Was das alles mit der Situation Neuer Musik zu tun hat? Vielleicht mehr, als uns lieb ist. Denn ich befürchte, dass viele der vernünftigen Gründe, die uns bereitwillig Argumente suchen lassen auf die Frage „Wozu Neue Musik?“ im Kontext der herrschenden Kulturpolitischen „Blödmaschinen“ eben „dumm“ werden und möglicherweise dem Zweck mehr schaden als ihn befördern. Die herrschende kulturpolitische „Blödmaschine“ ist die Maschine, die kulturellen „Nutzen“ erwirtschaftet. Sie heißt mal Kreativwirtschaft, mal Musikförderung, sie heißt Kulturstiftung et cetera, sie argumentiert „vernünftig“, sie führt zu vernünftigen, sogar messbaren Ergebnissen („0,7 % der männlichen Bevölkerung unter 65 Jahren in Nordhessen können neun Wochen nach einer medialen Intervention im regionalen Fernsehen mit dem Begriff ‚Neue Musik‘ etwas anfangen“), letztlich macht sie Geist zu Geld, wer wollte das nicht?
Geist zu Geld
Wäre das nicht endlich eine Verheißung, der Neuen Musik wieder zu gesellschaftlicher Wahrnehmbarkeit zu verhelfen? (Denn nur was „sein Geld wert ist“, gilt.) „Neue Musik“ existiert in der gesellschaftlichen Wahrnehmung nicht – nur innerhalb des Kreises der Menschen, die mit ihr befasst sind. Medial schwappt zufällig immer mal wieder etwas über den Rand, dort versickert es, vertrocknet, vergeht. Es geht ihr im öffentlichen Bewusstsein schlechter als der katholischen Kirche. Aber – ist es nicht immer noch so? –, messen die „Propagandisten“ der Neuen Musik, zu denen ich mich leidenschaftlich rechnen mag, messen „wir“ ihr nicht immer noch wenigstens einen kleinen Abglanz der „Bedeutung“ zu, den „die Kirche“ einmal besessen hat? Ja, ein „Heilsversprechen“, ein säkulares? War es nicht das, was die „Neue Musik“ groß gemacht hat, „geistig“ groß, obwohl sie immer (gesellschaftlich) klein blieb? War das nicht das Siegel ihrer Bedeutung? Dem Hörer Neuer Musik eine neue Art der Selbstbegegnung zu ermöglichen, jenseits der eingeübten emotionalen und intellektuellen Klischees? Ging es nicht (Geht es nicht?) um „neue“ Wahr-Nehmung (des Selbst, der Gesellschaft, der Welt)? Ist es deshalb nichts als vernünftig, nachhaltig, sozial und mehr als angemessen, die Nische „Neue Musik“ offen zu halten, ihr einen Platz zu sichern im Getümmel der Öffentlichkeit? Also den Fetisch Kreativwirtschaft, in Gottes oder Teufels Namen, zu bemühen, um Stadträten, Sponsoren oder wem auch immer einen „Nutzen“ plausibel erscheinen zu lassen? Spricht nicht alles dafür, uns der Rechtfertigungs-Rhetorik des „Marktes“ zu unterwerfen und uns des Köders (der Wahrheit?) des gesellschaftlichen „Nutzens“ zu bedienen, um – zu überleben?
Der Preis
Sicher. Aber was ist der Preis? Wenn „wir“ uns darauf einlassen, die „Nützlichkeit“ von Neuer Musik zu beweisen und argumentativ abzustützen – dann haben wir uns freiwillig in den „Verblödungszusammenhang“ des wirtschaftlichen Nutzendenkens begeben. (Eine perfide Spezialität der „Blödmaschinen“ nach Metz und Seeßlen besteht gerade darin, dass sie immer – fast sieht es so aus: zu recht – sagen: Ohne mich geht’s nicht.) Ja, wie soll’s denn gehen, im demokratischen Konsens, wenn nicht über Argumente? Und dann mit öffentlichem Geld?
Noch einmal: Was ist der Preis? Es geht nicht darum, keinen Preis zu zahlen, sondern darum, zu wissen, welche Art von Preis zu entrichten ist. Eine Folge der Einwilligung in die (erwartete) Rechtfertigungs-Rhetorik: Wir beweisen durch „Nachhaltigkeitsanalysen“ die Notwendigkeit von Projektförderungen Neuer Musik, wir werden „Kreativ-Unternehmer“, die ihren Businessplan veröffentlichen, es mutieren die Komponisten zu „musischen Sozialarbeitern“ und holen in Schulen oder Kindergärten nach, was – wiederum „lediglich aus Nützlichkeitserwägungen“ – gerade in diesen Einrichtungen an musischer Bildung gestrichen wurde, es engagieren sich Orchestermusiker in Stadtteilzentren als Altentrainer et cetera. Wo sind wir gelandet? Jedenfalls nicht bei einer Kritik der herrschenden Zustände. Sondern bei deren Verfestigung. In unseren und in den Köpfen anderer.
Es geht mir nicht darum, hier, wo Antworten schwer sind, schlau zu sein. Ich bin es nicht. Ich spüre nur, dass Kunst und Nutzen in keiner Gleichung aufgehen, weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick (auch wenn es uns noch so oft beigebogen wird), dass aber sicher Kunst und (Selbst-)-Wert einer Gesellschaft (verstanden als freier Zusammenschluss freier Individuen) sehr wohl etwas miteinander zu tun haben. Dieser Wert ist aber nicht Geldeswert. Also ist er nur außerhalb dieses Geld-Zusammenhangs zu bestimmen beziehungsweise immanent nur in der klar artikulierten Kritik der Geld-„Wert“-Zusammenhänge zu diskutieren. Hier können und sollen alle, die die „Neue Musik“ lieben, sich zusammen tun, hier ist die „Gesellschaft für Neue Musik“ und alle ihre lokalen Gruppen aufgerufen, Foren zu bieten, nicht um Argumente zur Pfründeverteilung zu formulieren, sondern um eine – vielleicht altmodische – „Wertedebatte“ zu entfachen. Ich bin sicher: Eine Debatte, die den „Wert“ des kapitalistischen „Nutzen“-Fetisches analytisch bestimmt und seine inneren und äußeren Verheerungen benennt, ist alles andere als „altmodisch“.
Was tun?
Anfangen. Nicht hinterherlaufen. Genau hinschauen und hinhören, wenn einer mit „Nutzen“ kommt. Es muss Argumente geben, die besser klingen als eine in Geld gewogene „Nützlichkeit“. Ist ein „Kreativquartier“ und die kapitalistische Förderung der „Kreativwirtschaft“ die Lösung oder das Problem? Wo spielt die Musik und wie? Die Münchner Gesellschaft für Neue Musik wird am 10. Dezember im Orff-Zentrum ein Symposium veranstalten unter dem Titel: Lieder ohne Orte. Wir werden die „Neue-Musik-Stadt“ München unters Hörrohr nehmen. Werden wir ein Wimmern hören, ein Krächzen, ein Schluchzen? Oder ein stillvergnügtes Kichern?
Nikolaus Brass, Mitglied im Vorstand der Münchner Gesellschaft für Neue Musik (MGNM)