In den Köpfen vieler Politiker, Kulturmanager und sogar Rundfunkintendanten breitet sich mit wachsender Geschwindigkeit ein Virus aus, der den Namen „Kulturabbau“ trägt. In Duisburg will der Kulturreferent die Opernehe mit Düsseldorf aufkündigen, im Südwesten sollen die zwei profiliertesten Radiosinfonieorchester der ARD zur Unkenntlichkeit zwangsfusioniert werden. Die Versteppung der Theater-und Musiklandschaft in Mecklenburg-Vorpommern schreitet rasch voran, in Frankfurt am Main lehnt es die Stadt ab, für ihr Theater die gerade beschlossene Tariferhöhung im öffentlichen Dienst, wie bisher praktiziert, zu übernehmen. Für die überaus erfolgreiche Frankfurter Oper würde das bedeuten: Rund sechs Millionen Euro mehr für die Bediensteten des Hauses müssten dem künstlerischen Etat entnommen werden, dessen Planungen bereits für die nächsten drei, vier Jahre festgelegt sind. Allein die Auszahlungen an Solisten, Regisseure, Bühnenbildner dürften rasch Hunderttausende, wenn nicht sogar Millionen kosten, abgesehen davon, dass man mit einer Streichung von drei und mehr Neuproduktionen das Angebot drastisch verringert, wodurch wiederum weniger (neugierige) Musikfreunde die Oper besuchen würden – ein weiterer Einnahmeausfall.
Nicht nur Theater, Opern, Orchester sind von der allgemeinen Sparwut bedroht. Auch ein kleines Kammermusikfestival kann es treffen. Wenige Tage nur vor der Eröffnung der traditionsreichen Wittener Tage für neue Kammermusik erreichte die Stadt die Anordnung der regierungsamtlichen Finanzaufsicht, dass ab sofort kein Geld mehr ausgegeben werden darf. Witten ist pleite, wie viele andere Ruhrgebietsstädte auch.
Die Kammermusiktage absagen? Zwanzig und mehr neue Auftragswerke umsonst einstudiert und honoriert? In diesem Fall sprang der Mitveranstalter, der Westdeutsche Rundfunk, ein und legte die fehlenden rund 50.000 Euro vor – als Vorgriff auf den Neue-Musik-Etat der nächsten Saison, wo das Geld wiederum fehlen dürfte. Ein Teufelskreis mit grotesken Zügen, wozu auch gehört, dass das Land Nordrhein-Westfalen seinen Zuschuss nicht zu zahlen braucht, wenn die Stadt ihren eigenen nicht erbringen kann oder darf.
Für dieses Jahr waren die Kammermusiktage jedenfalls noch einmal gerettet. Das Programm konnte komplett ablaufen. Diesmal gab es keine spektakulären Außenauftritte wie die Musikdampfer-Fahrten auf der Ruhr oder Trompetensignale von hohen Burgen ins tiefe Flusstal. Kammermusikalische Konzentration, Verinnerlichung, Nachdenken über das Herstellen von Musik, über die Beziehungen zwischen äußeren Phänomenen und deren Verwandlungen in Klang und Musik standen mit Mittelpunkt vieler Werke.
Und auch die den Musiktagen beigeordnete Tagung der Universität Witten/Herdecke beschäftigte sich in Vorträgen und Diskussionen mit dem Thema „Musik als Material“. Dem ruhigen Grundklang des Programms entsprach auch die Wahl für den Porträtkomponisten. Der Däne Hans Abrahamsen, 1952 in Kopenhagen geboren, war mit einem halben Dutzend seiner Werke präsent. Abrahamsen verleugnet nicht seine musikalische Herkunft vom Horn: Fast schon verdächtig romantische Klänge in seinem Ensemblestück „Wald“ rufen Assoziationen an Schumann, Mahler, an Bruckners „Vierte“ und sogar den zweiten „Tristan“-Akt hervor. Aber Abrahamsens Qualitäten als Komponist liegen in der Verarbeitung des inspirierenden Materials. Sensibel eingefügte formale und strukturelle Elemente rücken die Musik in eine scheinbar künstliche Ferne. Romantische Sehnsucht? Das auch, aber sublimiert durch unsere heutigen Klangerfahrungen. Das prägte auch Abrahamsens Viertes Streichquartett. Vor 20 Jahren erhielt er dafür von den Wittener Tagen einen Auftrag, den er damals wegen einer persönlichen Krise nicht ausführen konnte. Jetzt war das Werk fertiggestellt: eine „ruhige und sanfte Musik“, wie der Komponist selbst sagt, irgendwie „hoch im Himmel gesungen“. Man versteht Abrahamsen besser, wenn man seine dänische Heimat kennt – den hohen hellen Himmel, die schnellen weißen Wolken, das sonnenglitzernde Meer um die vielen grünen Inseln. Abrahamsens Musik entlockt solcher Natur gewissermaßen den Grundklang, der berührt. Dass Abrahamsen eine äußerst lebhafte Klangimagination zu entfalten vermag, bewies er mit seinem 1999/2000 geschriebenen Klavierkonzert, das von der Pianistin Pauline Post und dem Asko|Schönberg Ensemble Amsterdam unter Reinbert de Leeuw gestenreich und klanglich hochdifferenziert dargeboten wurde. Eine fabelhafte Interpretation.
Überhaupt wird in Witten großer Wert auf adäquate Wiedergaben gelegt: das Beste ist gerade gut genug. Das Arditti String Quartet war gleich mehrfach beschäftigt. Wirkten die vier „Avantgardisten“ um Irvine Arditti bei Abrahamsens Viertem Streichquartett noch leicht indifferent, so blühten sie förmlich auf, als sie sich mit dem New Yorker Jack Quartet zu einem Oktett vereinigten. In Mauro Lanzas Oktett mit dem effektvollen Titel „Der Kampf zwischen Karneval und Fasten“ wird ein geradezu höllisches Breughel-Klang- und Schlachtbild entworfen, das seine vordergründige Wirkung voll ausspielt. Dieselbe Zwei-Streichquartett-Formation fand sich wieder in James Clarks „2012-S“ zusammen, ein Werk, das sich damit begnügt, die formalen Möglichkeiten der ungewöhnlichen Besetzung präzis und phantasievoll auszureizen.
Ungewöhnlich auch das Quartett Nr. 2 des dänischen Komponisten Simon Steen-Andersen für verstärkte Streicher und mit Tonabnehmern präparierte Bögen: das brillante Jack Quartet servierte das ungewöhnliche Stück mit entsprechender Wucht, auf jeden Fall effektvoll.
Materialforschung, Quellenbohrungen überall im perspektivisch reichen Programm. Brigitta Muntendorf griff in „Sweetheart, Goodbye“ auf ihre Taschenoper über ein Kapitel aus James Joyces „Ulysses“ zurück: Stimme, Lautsprecher und acht Instrumente zerlegen eine erotische Beziehung auf zwei Bahnen in Klang und Sprache, hochexpressiv und virtuos präsentiert, vor allem von der Schauspielerin Nicola Gründel.
Zu einem richtigen Festival-Modern gehört immer wieder auch eine Scelsi-Entdeckung. Der Nachlass des Komponisten erweist sich wahre Fundgrube. Im Jahr 1973 entstanden die „Quattro Incantesimi“. Das Werk basiert auf den früheren Klavierstücken „Incantesimi“ von 1953. Unter der Leitung von Rupert Huber gestaltete sich das für Stimmen, Bläser, Schlagzeug und verstärkte Ferninstrumente organisierte Werk zu einer imponierenden Aufführung. Dass dafür erstmals das WDR-Sinfonieorchester nach Witten kam, darf man als hoffnungsvolles Zeichen nehmen: Die Rundfunkorchester sollten sich so oft wie möglich für die Musik der Gegenwart einsetzen. Das ist ihre zentrale Aufgabe, die zugleich ihr Existenz rechtfertigt. Die drei „B’s“ (Beethoven, Brahms, Bruckner) kann man immer wieder auch von den Kulturorchestern hören. An der Scelsi-Premiere waren auch der bestens vorbereitete Rundfunkchor des WDR sowie das Experimentalstudio des SWR eindrucksvoll beteiligt. Wie es sich für ein anspruchsvolles Festival gehört, erklangen zuvor auch die „Cinque Incantesimi“ in der Klavierfassung von 1953, kompetent gespielt von der Tamara Stefanovich, die zu den brillantesten Pianisten für die Moderne zählt. Ihre Boulez-Interpretationen sind maßstabsetzend. „Ich suche nach Musik, in der Klang zum hörbar gemachten Atem, der Zeit wird“ – das sagt der Komponist Klaus Lang über sein Stück „vier linien, zweifaches weiß“ für Bläser, Klavier und Schlagzeug. Er zitiert dazu einen Satz von Giorgio Morandi: „Nichts ist abstrakter als die Realität.“ Die Realität ist zum Beispiel auch die Luft, die uns alltäglich umgibt. Wie aber komponiert man „Luft“? Klaus Lang betreibt dazu eine differenzierte Klangerforschung. Klänge werden nicht als vorgefertigt gesetzt, sondern, um im „Luftbild“ zu bleiben, gleichsam aus der Luft gefiltert: in einen subtilen Instrumentalklang überführt. Das hört sich komplizierter an, als es ist: Musiker des WDR-Sinfonieorchesters Köln unter Rupert Hubers Anleitung zauberten aus „linien“ und „zweifachem weiß“ eine fast „schöne“ Klang-Musik hervor.
Materialforschung, Quellenbohrung: die kompositorischen Verfahren ziehen sich durch viele der neuen Werke, die in Witten ihre Uraufführungen erfuhren. Walter Zimmermann adaptiert in seinem „Chantbook oft Modified Melodies“ für zwei Streichduos (wieder mit dem Jack Quartet) südindische Melodien, die er höchst kunstvoll in eine individuelle Komposition verwandelt: Schöne Musik auch hier. Stefan Wirth benutzt in einem ähnlichen Verfahren eine georgische Melodie, die sich wie von fern durch sein Stück „Enallagai“ (die Vertauschung von Wortzuordnungen besonders zwischen Adjektiv und Substantiv – ein Beispiel des Komponisten: „das blaue Lächeln ihrer Augen“) zieht. Wirth „jongliert“ gleichsam mit und zwischen melodischen und geräuschhaften Elementen, operiert mit Mehrklängen und Timbres, Intervallen und Rhythmen – das ist als strukturelle Anordnung äußerst interessant und auch wirkungsvoll. Das Collegium Novum aus Zürich unter Titus Engel wartete mit einer ausgefeilten Wiedergabe auf, ebenso wie in neuen Werken von Ann Cleare und Mark Bardem.
Zwei der Wittener Uraufführungen überzeugten am stärksten: Mark Andres „“S 1“ für zwei Klaviere und Emmanuel Nunes’ „Peter Kien – eine akustische Maske“. Bei Mark Andre begeistert immer wieder der Assoziationsreichtum, der einer Komposition vorangeht und sie begleitet: „S steht für Schwelle. Es geht um ‚Fortgang‘ oder ‚im Fortgehen sein‘. Das Stück ist eine Art Klangreise zwischen kompositorischen Situationen, die verschwinden, ohne Spuren zu hinterlassen.
‚S 1‘ gehört auch zu meinem Alltag in Berlin: Ich fahre oft S-Bahn.“ Soweit Mark Andre. Er sieht seine Komposition als „kleine metaphysische Meditation über das Verschwinden des Auferstandenen“. Das Faszinierende an diesem Werk wie überhaupt an Andres Komponieren ist die klare, von innen gespannte Übertragung der spirituellen Imaginationen in Musik, in Klänge, in erfüllte Pausen. Man spürt in jedem Augenblick, dass hier ein Komponist ist, der so etwas wie eine Utopie von Musik und ihrer Wirkungen besitzt. Das ist heute oft nicht mehr der Fall, wodurch sich häufig der Eindruck einer gewissen Beliebigkeit einstellt. Die Darstellung des Andre-Stücks durch Yukiko Sugawara und Tomoko Hemmi war grandios, von hoher Klangspannung erfüllt.
Emmanuel Nunes „Peter Kien – eine akustische Maske“ entstand nach Texten aus Elias Canettis „Blendung“ für Ensemble und Live-Elektronik. Vier Sätze, in denen Sprachphänomene, Sprachrhythmik, Sprachkommunikation, Sprachmelodik kompositorisch erkundet wird. Das ist mit einer bewundernswerten Souveränität und Eindringlichkeit in „Musik“, in Klang überführt. Nunes ist und bleibt einer der aufregendsten Komponisten unserer Zeit. Wieder dem Collegium Novum Zürich unter Titus Engel und dem SWR-Experimentalstudio des Südwestrundfunks unter Detlef Heusinger erreichten ein erstaunliches Maß an klanglicher Integrität zwischen instrumentalem und live-elektronischem Klang, die sicher bei der zweiten Aufführung in der Zürcher Tonhalle noch perfekter gelungen sein könnte.
Wittens Tage für neue Kammermusik 2012 fanden mit dem Nunes-Werk den krönenden Abschluss. Überhaupt wirkte das gesamte Programm dramaturgisch überlegt, perspektivenreich und in der Zusammenführung kompositorischer Temperamente kontrastreich. Der künstlerische Leiter der Musiktage, Harry Vogt, erkennt immer wieder interessante Tendenzen in der aktuellen Musik, für deren Umsetzung er mit sicherem Gespür die „richtigen“ Komponisten auswählt.
Über die finanzielle Absicherung der nächsten Tage sollte alsbald zwischen Sender, Stadt und Land eine tragfähige Lösung gefunden werden. An den derzeitigen Schwierigkeiten der Stadt Witten darf das neben Donaueschingen wichtigste Festival der Neuen Musik nicht scheitern.