„Ich habe versucht, Musik in Energie zu übersetzen und sie unter dem physikalischen Aspekt zu betrachten“, beschreibt der Berliner Komponist und Pianist Boris Bergmann seine Vision für das Projekt „The Richter Scale“ – und das hat längst weitere Kreise gezogen über den physischen Tonträger hinaus, der im Jahr 2023 auf dem Heresy-Label erschienen ist.
Das Erdbeben austanzen
Diese neuartige, kolossale Klaviermusik ist grenzensprengend in ihrer dynamischen Wucht. Es beginnt mit einem sensiblen, zuweilen an John Cage oder Morton Feldman erinnernden Spiel mit Skalen und Texturen, verleibt sich danach viele Einflüsse aus klassischen, romantischen oder barocken Stilistiken ein, um dann zunehmend die Klangmassen eines großen Konzertflügels zu einer riesigen „seismografischen“ Erschütterung aufzutürmen.
Boris Bergmann beschreibt diesen Prozess im angeregten Gespräch als eine Art Allegorie: „Die verschiedenen Arten von Erdbebenwellen und auch die Resonanzen im Boden habe ich mit verschiedenen Klängen dargestellt.“ Ihn faszinierte der energetische Aspekt von Erdbeben, ebenso die Person von Charles Francis Richter, der die exponentiell wachsende Skala zur Kategorisierung von Erdbeben geschaffen hat. Zuhauf sammelte Bergmann historisches Material über die Auswirkungen jener entfesselten Urkräfte unseres Planeten, dem gegenüber Menschen bei allem Hochmut immer Unterlegende bleiben werden: „Ich möchte, dass die Hörer die Verbindung zwischen Physik und Emotion spüren und eine emotionale Reise erleben.“ Die elf Stücke vereinen sich zu einem musikalischen Episodenfilm. Eines der Stücke ist von einem Überwachungskamera-Video inspiriert, in welchem viele große Einrichtungsgegenstände durcheinander fliegen. Ein beängstigender Zustand in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist.
Selbstspiel-Piano
Dass dieses Unterfangen die Grenzen menschlicher Spielbarkeit hinter sich lässt, war einkalkuliert. Das Werkzeug dafür ist ein Steinway Spirio, das mit immer mehr Material gefüttert wurde. Bei Steinway-Spirios handelt es sich um die neueste Generation von Selbstspiel-Pianos. Schon vor 100 Jahren konnten die pneumatischen Welte-Mignon-Reproduktionsklaviere den Spielstil eines Rachmaninoff oder Debussy unsterblich machen. Als Luxusspielzeuge sind Spirios heute vor allem in den USA ein Verkaufsrenner. Für Boris Bergmann ging es aber um die aktive Inanspruchnahme für neue künstlerische Verfahren. Damit betrat er zu seinem eigenen Erstaunen noch weitgehend Neuland. Aber das Potenzial ist immens: „Das Spirio ermöglichte mir, meine Kompositionen aufzunehmen und immer wieder anzuhören. Dadurch konnte ich die Stücke weiterentwickeln und verbessern.“
Zugleich aber bespielt der chinesische Pianist Ji Liu (ein Steinway-Artist überdies) den Spirio-Flügel live. Mit der Maschine, aber auch gegen sie. Auf Tasten spielen zu müssen, die zum Teil selbsttätig agieren, war für Ji Liu eine schwierige Erfahrung, wie Boris Bergmann im Gepräch zu berichten weiß. Vielleicht so ähnlich, wie wenn man bei einem Erdbeben den festen Boden unter den Füßen verliert? Boris Bergmann lacht: „Ji Liu musste das Erdbeben sozusagen austanzen.“
Der wilde Lauf im neunten Stück, den Boris Bergmann „Kadenz“ nennt, ist komplett programmiert, denn das kann kein Mensch mehr selber spielen. Stück 10 gebärdet sich dann wieder ganz zart, wenn es zum Abschluss sogar Bach zitiert – allerdings rückwärts. Vielleicht fliegt diese Musik einmal als „Golden Record“ durchs Universum, sozusagen als letzte Platte der Menschheit in post-apokalyptischer Zeit?
Die Texturen, Stilzitate und Tonakzente dieser Komposition entfalten einen hypnotischen Sog, der auch gut an die Beatstrukturen elektronischer Musik andockt. Zum Anliegen des Berliner Musikers gehört es, Gegenwartsmusik sozial zugänglich zu machen.Bergmann wünscht sich Veranstaltungen, in denen nach dem Recital die Stühle herausgeräumt werden. So kann der Tanz auf den seismografischen Wellen beginnen. „Das wäre mein Traum von einem interdisziplinären Kunstereignis.“ Bereits vor der Entstehung des CD-Albums gab er verschiedene Teile der Komposition an DJs und Technoproduzenten weiter, die erste „Pre-Mix“-Versionen daraus entwickelten. Weitere Remixe entwickeln den perkussiven Aspekt von Boris Bergmanns virtuosen Klaviertexturen weiter. Ende nach oben hin offen.
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