Dieses Frühjahr wird in die Geschichte von „Jugend musiziert“ eingehen, denn zum ersten Mal in beinahe 60 Jahren wurde ein Bundeswettbewerb abgesagt. Die Nachrichten waren seit Februar voll mit Berichten über ein hochinfektiöses Virus, das im fernen China seinen Ausgang genommen hatte und zunächst so gar nichts mit Europa oder Deutschland zu tun zu haben schien. Die steigenden Infektionszahlen in Fernost wurden aufmerksam, aber mit Distanz zur Kennntnis genommen. Aber ab dem 8. März überschlugen sich die Ereignisse: denn das Virus rückte Tag für Tag näher und staatliche Einrichtungen in Deutschland und anderen europäischen Staaten schränkten die Bewegungsfreiheit der Menschen immer mehr ein, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen.
Zeitgleich bereiteten sich, wie jedes Jahr, Tausende junger Leute in allen Teilen Deutschlands und an 35 Deutschen Schulen in 22 Staaten auf die Landeswettbewerbe „Jugend musiziert“ vor. Sie finden traditionell im März und April statt. Die Organisatoren des Landeswettbewerbs der Deutschen Schulen „Nord-/Osteuropa“ traf es am 8. März als erste: Aus 12 Staaten hatten sich Jugendliche für die Teilnahme am Landeswettbewerb qualifiziert, er sollte an der Deutschen Schule Warschau ausgetragen werden. Das länderübergreifende Reiseverbot stoppte alle weiteren Planungen an der ausrichtenden Deutschen Schule.
Die nächste, diesmal innerdeutsche, vom Virus betroffene Region war der Großraum Südbaden, und so verfügte die Stadt Tuttlingen am 12. März die Schließung aller öffentlichen Gebäude – das Aus für den Landeswettbewerb Baden-Württemberg, der mit seinen fast 2.000 Teilnehmer*innen beim besten Willen und in so kurzer Zeit keinen alternativen Austragungsort hätte finden können. Ohnehin ein sinnloses Unternehmen, wie sich sehr schnell zeigte, denn nun trafen die Absagen für alle Großveranstaltungen reihenweise weitere Städte und Kommunen; in Bayern, Berlin, Sachsen-Anhalt, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Thüringen, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern, das Saarland, Hessen, Hamburg und schließlich Brandenburg schlossen Schulen, Hochschulen, öffentliche Gebäude. Wer den Musiker*innen seines Bundeslandes bis zum Schluss Mut machte, dass eine Durchführung des Landeswettbewerbs doch noch irgendwie denkbar sei, denn schließlich lockte ja der Bundeswettbewerb im Mai in Freiburg, dessen Hoffnungen wurden am Freitag, den 13. März endgültig begraben, als eine Pressemitteilung des Deutschen Musikrates die Absage aller musikratseigenen Veranstaltungen bis 7. Juni verkündete und somit auch für den Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“.
„Die Absage beziehungsweise Verschiebung sämtlicher Veranstaltungen ist vor dem Hintergrund der dynamischen Entwicklung des Corona-Virus die einzig verantwortbare Entscheidung. Die Aufforderung der Bundeskanzlerin, Sozialkontakte wo immer zu vermeiden, nehmen wir für die Tausenden Teilnehmerinnen und Teilnehmer unserer Veranstaltungen wie für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehr ernst, sie ist für den Deutschen Musikrat handlungsleitend.“, so Generalsekretär Prof. Christian Höppner und Geschäftsführer Stefan Piendl in der Pressemitteilung.
Ein Wettbewerb, der ein bundesweites Forum des Vergleichs miteinander sein soll, der herausragende Musiker*innen für acht Tage aus allen Teilen der Bundesrepublik und aus zahlreichen europäischen Staaten einlädt, einander zuzuhören, und im Rahmen dieses großen Musikfestes neue Freundschaften zu knüpfen und der nun unversehens ohne Teilnehmer*innen dasteht? Die für die Planung des Bundeswettbewerbs „Jugend musiziert“ Verantwortlichen zogen daraufhin die Konsequenzen und sagten den Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“, geplant von 28. Mai bis 4. Juni, in Freiburg/Br., ab.
Weit größer als die bundesweite Vorfreude auf Landeswettbewerbe und womöglich gar Bundeswettbewerb ist seither die Enttäuschung, sie ist schier grenzenlos. Der Landesausschuss-Vorsitzende Bayern, Wolfgang Graef, fasste die Stimmungslage im Schreiben an „seine“ Teilnehmer und Juroren zusammen, so oder so ähnlich ist die Lage in allen Bundesländern: „Der Landeswettbewerb ‚Jugend musiziert‘ ist einer unser aller Höhenpunkte im musikalischen Jahresablauf. Ebenso wie Ihr Euch, liebe Teilnehmer*innen vorbereitet, probt, euch in Regionalwettbewerben qualifizieren müsst, bereiten Sie sich liebe Juror*innen durch Workshops, Terminvorhaltungen und Ausrichtung privater und künstlerischer Termine um den Wettbewerb ‚Jugend musiziert‘ herum auf den Landeswettbewerb vor. Im Bewusstsein der großen persönlichen Enttäuschungen eines jeden Teilnehmers, einer jeden Teilnehmerin und Ernüchterung nach dem Höhenflug der Regionalwettbewerbe fällt es uns sehr schwer, bekanntzugeben, dass der Landeswettbewerb Bayern ‚Jugend musiziert‘ zum ersten Mal in seiner 57-jährigen Geschichte abgesagt werden muss. (…) Ich bitte Euch alle, Euren Zielen und Träumen treu zu bleiben, weiterhin Euer Möglichstes so oft zu probieren, bis das ‚Unmögliche‘ möglich wird, Musizieren als Lebensfreude zu begreifen und die Absage als kleinen ‚Knick‘ abzutun, keinesfalls als ‚Abbruch‘. Das Leben wird weitergehen, es ist wichtiger, dass wir alle gesund bleiben, als den Wettbewerb mit großem Risiko und schlechtem Gewissen durchzuführen.“
Planung rückwärts
Derweil begann in der Bundesgeschäftsstelle „Jugend musiziert“ die Rückabwicklung aller Aktivitäten rund um den Bundeswettbewerb, und sie dauern an. Als die Gastgeberstadt Freiburg im Breisgau „Jugend musiziert“ eingeladen hatte, war das vor dem Hintergrund des 900. Stadtjubiläums geschehen. Die Stadt hatte dafür finanzielle Mittel in Höhe von 200.000 Euro zugesagt, das Land Baden-Württemberg hatte seinerseits die finanziellen Mittel um den gleichen Betrag ergänzt. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und der Hauptsponsor von „Jugend musiziert“, die Sparkassen-Finanzgruppe, ergänzen als ständige Förderer die Mittel für die Durchführung des Bundeswettbewerbs. In Freiburg selbst müssen bereits bestehende Absprachen und Verträge mit rund 30 Institutionen wie Schulen, Theatern, der Musikhochschule und dem Konzerthaus gelöst werden. Die Stadt Freiburg begegnet wie selten eine Gastgeberstadt zuvor der Bundesgeschäftsstelle mit großem Verständnis und Mitgefühl. Dazu Bürgermeister Ulrich von Kirchbach: „Auch wenn die Absage des Bundeswettbewerbs vor dem Hintergrund der grassierenden Corona-Infektionswelle die einzig vernünftige Maßnahme ist, bedauern wir diesen Schritt zutiefst. Denn die Musik so vieler ausgezeichneter junger Leute hätte dem Kulturleben der Stadt Freiburg zusätzlichen Glanz verliehen. Gleichzeitig hätte sich Freiburg seinen Gästen als Kulturmetropole empfohlen. Die Stadt hält ihre Gastgeberrolle als Austragungsort für den Bundeswettbewerb jedoch weiterhin aufrecht: Wir werden in enger Abstimmung mit dem Deutschen Musikrat einen neuen Termin suchen und finden.“
„Jugend musiziert“ wird auf allen drei Ebenen in enger Kooperation mit kommunalen Einrichtungen veranstaltet. Der Wettbewerb lebt vom öffentlichen Charakter seiner Wertungsspiele und Konzerte. Wird, wie aktuell, die Schließung von Gebäuden angeordnet und die Begegnung miteinander unterbunden, muss man die Durchführung des Wettbewerbs in diesem Jahr hinterfragen.
Wesentlich ist der Live-Charakter
Prof. Ulrich Rademacher, der Vorsitzende von „Jugend musiziert“, fasste die zurückliegenden Entscheidungen in einer Presseerklärung nochmals zusammen: „Die Fürsorgepflicht den ‚Jugend musiziert‘-Gästen gegenüber gebietet es, den Bundeswettbewerb ‚Jugend musiziert‘ 2020 abzusagen. Als europaweit strahlendes Leuchtturm-Projekt steht ‚Jugend musiziert‘ in besonderer Verantwortung seinen Teilnehmer*innen und Förderern gegenüber. Alle für die inhaltliche Planung und Durchführung Verantwortliche können nachfühlen, wie groß die Enttäuschung der jungen herausragenden Musikerinnen und Musiker ist, denen nun die Präsentation ihres musikalischen Könnens im bundesweiten Vergleich miteinander verwehrt ist.
Aber der jährliche Bundeswettbewerb ist weit mehr als ein Leistungsvergleich der Bundesspitze vor einer hochkarätigen Fachjury, die über Preise und weitere Fördermaßnahmen entscheidet. Er ist vor allem ein Musikfest, das von persönlicher Begegnung der Teilnehmenden untereinander, mit Eltern, Lehrenden, Jurymitgliedern, Publikum und schließlich mit den Menschen sowie der speziellen Atmosphäre der gastgebenden Stadt lebt. Ein solcher Wettbewerb ist in der Corona-Krise nicht möglich. Dazu kommt, dass mit der Absage der meisten Landeswettbewerbe der Vergleich fehlt, der jeder Teilnahme am Bundeswettbewerb vorausgehen muss. Es gilt dieser außergewöhnlichen Situation gerecht zu werden; auch wenn die Absage des 57. Bundeswettbewerbs schweren Herzens erfolgt.“
Wie geht es weiter? Gibt es einen Plan „B“? Kann man den Bundeswettbewerb verschieben? Solche Fragen erreichen die Bundesgeschäftsstelle in diesen Tagen verstärkt. „Jugend musiziert“ steht in regelmäßigem Austausch mit dem Projektbeirat, allen Partnern und Zuwendungsgebern, um eben diese Fragen schnellstmöglich zu klären. Aber: Das heißt nicht, dass inmitten Niedergeschlagenheit, die alle Mitwirkenden der großen „Jugend musiziert“-Familie erfasst hat, nicht auch neue Ideen geboren werden. Wie auch immer die Antworten aussehen können: Die Leser*innen der nmz werden es an dieser Stelle erfahren.