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Erfolg versprechend oder Spiel mit Feuer?

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Singen bei „Jugend musiziert“
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„Jugend musiziert“ ist Katalysator, Beschleuniger, ist Doping, „Jugend musiziert“ erschließt Energie, Motivation, Reserven, zusätzliche Förderung. „Jugend musiziert“ ist ein Spiel mit dem Feuer, kann wie Feuer Leben stiften oder zerstören. Wer aber mit Feuer spielt, sollte es beherrschen, nicht nur in Kunst und Pädagogik.

Bewertung hat mit Werten zu tun. Um welche Werte geht es bei „Jugend musiziert“? Um eine unverwechselbare künstlerische Äußerung eines unverwechselbaren Menschen, um die im Innersten des Menschen angesiedelte Lust an Ausdruck, Schönheit, Echtheit, Leidenschaft, um den souveränen Umgang mit „Spielregeln“ der Ästhetik, um die Kunst, Zuhörer zu berühren, magische Momente zu schaffen? Oder geht es um „Ersatzwerte“ wie Punkte, Preise, Urkunden, Geld, Erwähnung in den Medien, Karrierebausteine, öffentliche Anerkennung, besser sein als Andere?

Man mag sich wünschen, mit den wirklichen Werten auszukommen. Aber so „tickt“ die Welt nicht, wir brauchen offenbar manchmal Symbole, Titel, Urkunden, Geld und mehr, um das Innere, das Eigentliche zu unterstreichen, in Erinnerung zu rufen, zu verdeutlichen. Wir erleben, welche Dynamik der Motivation und Qualitätsentwicklung auch durch Wettbewerbe entwickelt wird. Wir versuchen, bei „Jugend musiziert“ behutsam mit diesem Potenzial umzugehen und uns so von menschenverachtenden Casting-Shows zu unterscheiden. Was schon in der Terminologie deutlich wird. So sprechen wir nicht von „Gewinnern“ – dann würden wir ja auch „Verlierer“ produzieren –, sondern von „Preisträgern“.

Solange „Jugend musiziert“ in diesem Sinne ein „Spiel“ ist und nicht zum Ersatz für das Wesentliche wird, können wir damit leben. Sobald Verpackungen und Etiketten aber den Inhalt ersetzen, wird es problematisch! „Spielen“ wir also mit „Jugend musiziert“!

Einzigartig: Menschen und Kunstwerke

Bei allem Bemühen um Fortbildung für Jurys, um gute Vorbesprechungen, trotz in jedem Jahr wieder ausgeteilter Richtlinien und Empfehlungen: „Jugend musiziert“ wird immer mit den Macken und Schwächen der „Jugend musiziert“-Macher, der Teilnehmenden und Anteilnehmenden zu kämpfen und zu arbeiten haben. Aber: Der Wettbewerb wird ebenso geprägt von Kindern und Jugendlichen, die leidenschaftlich gern musizieren, die in der Musik ihre Sehnsüchte, ihren Schmerz, ihre Lebensfreude ausleben und mitteilen wollen, deren Rücken gestärkt wird durch die Eltern und Pädagogen, die hinter ihnen stehen und ihnen etwas zutrauen, die mit dem gemeinsamen Musizieren Kraft, Zutrauen, instinktives Verstehen und Sicherheit gewinnen.

Auf der einen Seite entzieht sich die Kunst, die ihrem Wesen gemäß genauso „heilig“, einmalig, unverwechselbar ist wie jedes musizierende Kind, jeder Bewertung und Einordnung nach Punkten. Auf der anderen Seite liegt es in unserem Wesen, in unserem Streben nach Erkenntnis und Vergleichbarkeit, aber auch in der kindlichen oder jugendlichen Spiel- und Sport-Lust, sich messen zu wollen. Das ist nach meiner Überzeugung solange gesund, wie das Selbstwertgefühl, das Geliebt- und Geachtetwerden so selbstverständlich und unverrückbar verankert ist, dass es nicht vom Erfolg bei einem Wettbewerb abhängt.

Scheitern mit dem 3. Preis

Wer sich nicht zutraut, ein „mit Erfolg teilgenommen“ oder einen dritten Preis – auf jeder Wettbewerbsebene – als Erfolg zu vermitteln und gemeinsam mit Schülerin oder Schüler ohne Bitternis zu verkraften, zum Beispiel beim gemeinsamen feierlichen Pizzaessen, sollte eine Beteiligung und Betreuung gar nicht erst in Erwägung ziehen. Eine hohe Erwartungshaltung kann zwar den Rücken stärken, Zutrauen und Wertschätzung ausdrücken und damit 100 Prozent positive Energie spenden. Sie kann aber auch nicht eingestandene Eitelkeit von Lehrenden und Eltern verbergen und dann voraussehbar Stress und Enttäuschung auslösen. Je eindringlicher nach einem vermeintlichen „Scheitern“ behauptet wird „es geht ja gar nicht um mich, es geht mir nur um das Kind“, desto sicherer kann davon ausgegangen werden, dass das Erwartungs- und Motivationskonto überzogen wurde. Das behaupte ich nach mehr als 45 Jahren „Jugend musiziert“ als Teilnehmer, Vater und Lehrer, der selbst, aber auch mit Kindern und Schülern auf allen Wettbewerbsebenen alles verkraften, verarbeiten und zugegebenermaßen auch genießen durfte: von der „lobenden Anerkennung“ bis zum 1. Preis auf Bundesebene.

Singen: Gerade einmal 22 Jahre alt

Der Projektbeirat trägt seit mehr als 50 Jahren die Verantwortung für den Wettbewerb, dessen ständiger Innovationsfähigkeit der Gesang, zunächst als Solo- und Ensemblewertung, dann in der Musical- und Liedduo-Wertung, und schließlich im Popgesang seine „Aufnahme“ verdankt. Jetzt ist „Jugend musiziert“ ohne Gesang in ALLEN Kategorien gar nicht mehr vorstellbar. Anfangs waren die Vorbehalte massiv: Kinder könnten – wurde behauptet –sowieso noch nicht mit künstlerischem Anspruch singen, es gebe keine altersgerechte Literatur, keine entsprechende Didaktik, das, was ehrgeizige Kinderchöre den zarten Stimmchen abverlangten, sei ungesundes Turbosingen, eine gesunde Entwicklung werde durch Leistungsdruck gestört oder sogar in der Substanz gefährdet ...

Der erste bundesweite „Jugend musi-ziert“-Gesangswettbewerb fand schließlich 1993 mit auf Bundesebene 76 Teilnehmenden statt, im darauffolgenden Jahr kamen dann 15 Ensembles zum Bundeswettbewerb. Die Wertung Duo Kunstlied und Musical gibt es seit 2003, Gesang (Pop) wurde 2010 eingeführt und ist die jüngste Kategorie.

Bei den Teilnehmerzahlen auf Bundesebene liegt heute Gesang Solo mit zuletzt 169 vor Pop mit 141, und Musical mit 72. Bei den Ensemblewertungen gab es zuletzt 65 Wertungen/172 Teilnehmende bei Vokalensemble und 65 Wertungen/130 Teilnehmende bei Duo Kunstlied.

Bewertung von Stimm-„Material“ und dessen Beherrschung, dessen organisches Ganzes mit Technik, Persönlichkeit, Geschmack – in anderen Kategorien einfach „das Instrument“ genannt –, Musikalität, Authentizität, Bühnenpräsenz, Interpretation, Stilempfinden, Farbenreichtum und dessen geschmackvoller Einsatz, Sprachbeherrschung, Artikulation, Phrasierung, Dynamik, Werktreue, zurückhaltende oder aufdringliche, die Kraft der Musik verleugnende szenische Gestaltung, Ensemblequalität, Werktreue …, und all das nach Wichtigkeit, nach Relevanz für den Vortrag geordnet! Gerade war ich für den Musikrat als Beobachter und Jurymitglied beim Regionalwettbewerb der deutschen Schulen in Israel und Palästina in Ost-Jerusalem. Die Verantwortlichen dort wollten es ganz seriös machen und hatten ein etwa solches Formular vorbereitet. Gut als Anregung, Folie im Hinterkopf, als gemeinsamer Werte-Kodex. Aber nach der ersten Diskussion über den ersten echten Wettbewerbsbeitrag war das Formular aus dem Rennen, hatte aber unser Bewusstsein durchaus geweckt, Augen und Ohren für Wesentliches und Persönliches sensibilisiert.

In den Juryrichtlinien von „Jugend musiziert“ heißt es:

(…) Bewertungsgrundlage ist ausschließlich die Darbietung während des Wertungsspieles. Weitere Informationen, die einzelnen Jurymitgliedern zur Verfügung stehen, dürfen nicht berücksichtigt werden. Für die Beurteilung ist die musikalische und spiel- beziehungsweise gesangstechnische Darstellung der vorgetragenen Werke maßgebend.

Wesentliche Kriterien sind: Künstlerische Gestaltung, Tonqualität (Stimmqualität), Spieltechnik, Texttreue, das stilistische Verständnis und die Qualität des gemeinsamen Musizierens. Auswendigspiel wird nicht besonders bewertet.

Überragende einseitige Fähigkeiten (z.B. reine technische Leistung) dürfen nicht überbewertet werden. Jedes Jurymitglied und die Jury als Ganzes bewerten mit ihrer Punktzahl die Gesamtleistung.

Altersgemäß

Die Programmhefte der Landes- und Bundeswettbewerbe sind wunderbar inspirierende Fundgruben für eine sowohl stimmliche als auch entwicklungspsychologische Aspekte berücksichtigende Werkauswahl. Trotzdem fragt man sich ab und zu, wie es wohl auf ein 12-jähriges Mädchen wirkt, in Mozarts Rokoko-Schlüpfrigkeiten eingeführt zu werden wie etwa „er führte mich in dies Gesträuch, ich wollt’ ihm fliehn und folgt’ ihm gleich, ich schluchzt’, ich atmete sehr schwer, … da kam zum Glück die Mutter her“ (Der Zauberer) oder „an diesen schwülen Sommertagen hat er ihr oftmals zugesehen … und er ist jung, und sie ist schön, ich will nichts weiter sagen …“ (Die Verschweigung).

Das Spektrum dessen, was wir auf den drei Ebenen von „Jugend musiziert“ hören, ist sehr weit. Es reicht vom „unbehandelten“, unverdorbenen aber auch den Herausforderungen einer Präsentation überhaupt nicht genügenden „Bio-Stimmchen“, vom „Möchte-gern-Musical-Sternchen“, das plötzlich aus der Karaoke-Wolke herausfällt und unvorbereitet „unplugged“ da steht, vom gerade, laut und meist sauber plötzlich allein singenden Chorknaben, über diejenigen, denen zwischen „Twang“, Brustregister, Edelknödel und Belcanto schwindelig wird, bis zu sehr gut ausgebildeten oder angeleiteten Kindern und Jugendlichen, die ihre eigene Stimme gefunden haben, sie klug, schonend, stilsicher und dennoch authentisch einsetzen, die wissen, was sie singen, deren Bühnenpräsenz so stimmig ist, dass sie niemals eingedrillt und aufgesetzt erscheint, Kinder, die Jurymitglieder und Publikum in Erstaunen versetzen und selbst alte Routiniers oft zu Tränen rühren können.

Kompliment

Mir ist aus dem Musikschul-Bereich keine Profession bekannt, deren Vertreter so zahlreich ein so intensives und anspruchsvolles Fortbildungsprogramm absolvieren wie die Gesangspädagogen. Das liegt auch an der Neugier, der Beweglichkeit und Innovationsfreude der Sängerinnen und Sänger. Wie gut, dass die Gesangsdidaktik und das Thema Kinder- und Jugendstimmbildung an den Hochschulen einen kräftigen Schub an Qualität und Wertschätzung erfuhr. Wir sprechen in der Politik, im Deutschen Musikrat und Deutschen Kulturrat und angesichts von drohenden Verkäufen wertvoller Kunstwerke in letzter Zeit auch in den Medien immer mehr vom Schutz des kulturellen Erbes. Allzu oft gerät hier das immaterielle Kulturerbe ins Hintertreffen. Das Erbe, das durch unser Tun immer wieder zu neuem Leben erweckt werden muss! Genau daran arbeiten Pädagogen – und das ist gut so. 

Der Artikel ist die gekürzte Fassung eines Vortrags, der am 21.02. im Rahmen des 13. Leipziger Symposiums zur Kinder- und Jugendstimme mit dem Thema „Stimme, Leitung, Gesellschaft“ gehalten wurde.

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