Für ihre äußerst kreative Konzertperformance braucht Camilla nicht mehr als eine Stunde, nicht mehr als sechs Wiederholungen einer einzigen zeitgenössischen Komposition, nicht mehr als eine Akkordeonspielerin, einen Schauspieler, eine Geigerin, einen Sänger, einen Cellisten, drei Rollen großes weißes Papier, 20 schwarze Yogamatten, ein paar Drinks und etwas Knabberzeug. Camilla köchelt ein würziges, ein sehr eigenwilliges Konzertformat. Camilla bringt alles in Bewegung, was im Raum bewegbar ist – und dazu gehören in erster Linie die anwesenden Hörer, viele Stühle sowie manch hübsch ausgestelltes Cembalo. Camilla: „Alle sitzen zu Beginn so, dass sie bei einer Linksdrehung des Kopfes eine kleine Bühne sehen, und bei Rechtsdrehung eine andere. Vor dem Publikum gibt es diese weiße Projektionsfläche an der Wand. Hinten halten wir bunte Wachsfarben bereit, durch die dann alle ins aktive Tun kommen.“
Camilla hat eine Musikveranstaltung kreiert, die so sein wird, dass keiner im Vorfeld weiß, was ihn hier erwartet. Erläuternde Programmbroschüren gibt es nur am Ausgang. Das Publikum wird sitzen, es wird laufen, malen, liegen – es wird zu jedem Zeitpunkt involviert sein. Die komplexe Dramaturgie des Live-Geschehens verantwortet der junge Schauspieler Oscar. Zu hören gibt es – wir können es hier erfahren – die wunderbar unangepasste Komposition „A Damsel with a Dulcimer“ von Alissa Firsova (geb. 1986). Das geradezu mantrische Wiederholen dieser modernen Klänge gehört zum ausgeklügelten Konzept der jungen Kuratorin. „Mir ist aufgefallen, je länger ich mich mit ungewöhnlichen Klängen beschäftige, je öfter ich sie höre und singe, desto mehr kann ich ihre Eigentümlichkeit wertschätzen und lieben.“
Camilla äußert hier den Kerngedanken ihrer frisch daherkommenden Konzertidee, einen, der deutlich macht, warum sie nur ein Werk gewählt hat und warum sie ihr Publikum in sechs Stationen Schritt für Schritt an diese zeitgenössische Musik heranführen möchte. Schwingen wir uns in die Höhen einer schillernden Konzert-Vision, die nach der Beantwortung einer bedeutenden Frage ringt: Was macht ein Konzert aktuell?
Die 1995 geborene, quirlig-charmante Sängerin Camilla Steuernagel aus Hannover brachte ihr Format am 25. Mai um 13:30 Uhr gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe auf diverse Bühnen. Sie hatte den ersten ConImpeto-Ideenwettbewerb gewonnen. ConImpeto ist ein neues Kooperationsprojekt von “Jugend musiziert“, TONALi und dem PODIUM Festival Esslingen. ConImpeto ist eine Zukunftswerkstatt, die sich für transparente Visionen einer musizierenden Jugend interessiert. ConImpeto ist, im Fahrwasser von “Jugend musiziert“, nicht weniger als eine Forschungsinstitution. Es geht dabei um verrückte Ideen, starke Konzepte, neue Denkweisen, konkrete, künstlerisch relevante, ganzheitlich entwickelte Ansätze, die ein insbesonders junges, noch unerfahrenes Publikum für klassische Musik begeistern. Es geht darum, das Konzertleben neu zu erfinden, es in einer steten, zukunftsweisenden Veränderung zu halten – gemäß der Erkenntnis des Kulturwissenschaftlers Prof. Martin Tröndle: „Wer das Konzert erhalten möchte, muss es verändern.“
Die besten Köpfe und Trends zu vernetzen, sie mit der Umsetzung ihrer Ideen zu beauftragen, sie zu coachen und ihnen eine passende Bühne zu bieten, wird eine der Herausforderungen der ConImpeto-Verantwortlichen sein. Hinzu kommt die enge Einbindung von Schulen, von Schülermanagern, die als engagierte Ko-Veranstalter eines Wanderfestivals in Aktion treten. Dieses Wanderfestival, so wünschen es sich die Initiatoren, könnte künftig den jeweiligen Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“ begleiten. Es soll einmal im Jahr sieben Formate des ConImpeto-Ideenwettbewerbs präsentieren und von Jugendlichen bespielt, organisiert und besucht werden – so das weitreichende Vorhaben, das sich mit dem Con-
Impeto-Impuls verknüpft.
Der Ablauf des zweistufigen Forschungsprojektes sieht vor, dass ein dreiviertel Jahr vor dem jeweiligen Bundeswettbewerb “Jugend musiziert“ der ConImpeto-Ideenwettbewerb ausgeschrieben wird. Teilnehmen können alle, die sich für die Bundesebene qualifiziert haben. ConImpeto stellt auf einer A4-Seite folgende sieben Fragen, die der Leser zunächst sich selbst und dann – sofern er Zugelassener ist – der ConImpeto-Jury beantwortet:
- Worum geht es bei meinem Konzert? Beschreibe den Kern deiner Idee.
- Was bekommen Konzertbesucher von meinem Konzert? Wie verläuft das Konzert aus Publikumssicht?
- An wen richtet sich mein Konzert? Wer soll erreicht werden?
- Was macht mein Konzert aktuell? Beschreibe, wie und warum deine Konzertidee klassische Musik in der heutigen Welt erlebbar macht.
- Wie ist die Konzertdurchführung? Wie ist das Programm? Was passiert konkret während des Konzerts?
- Was macht mein Konzertformat besonders? Beschreibe den Mehrwert in deiner Konzertidee, durch den die Musik sich besonders entfalten kann.
- Was nimmt mein Publikum von diesem Konzert mit? Welches Gefühl oder welche Erfahrung willst du dem Publikum mit deinem Konzert geben?
Nach dem Bewerbungsschluss, so der Plan, entscheidet eine Fachjury, bestehend aus den ConImpeto-Gründern Ekkehard Hessenbruch, Steven Walter, Amadeus Templeton, Boris Matchin, Anke Dieterle und Frank Meiller sowie Vertretern des Projektbeirates von “Jugend musiziert“ und ausgewählten Schülermanager/-innen, welche sieben Formate im Wanderfestival realisiert werden sollen.
Sobald die Formate stehen, sucht ConImpeto sieben Schulen am jeweiligen Standort, die jeweils eine Konzertpatenschaft übernehmen. TONALi verantwortet mit seiner ausgefeilten Expertise in der Ausbildung von Schülermanagern den nun folgenden Organisationspart. Dieser sieht vor, dass das Festival eigenverantwortlich von Jugendlichen gemacht wird und dass die Künstlerbetreuung, die Mitschüler-Werbung, die Programmheftgestaltung, die Pressearbeit, die allgemeine Durchführung im (unterstützten) Verantwortungsbereich der Jugend liegt. Ein weiterer Part nach der Wahl der sieben Formate ist ein gründliches Coaching-Programm, dass das PODIUM Festival Esslingen übernimmt. Die Teilnehmer, die mit der Umsetzung ihrer Konzertideen beauftragt werden, lernen, ihre Konzertideen zu konkretisieren, sie auf eine realistische Umsetzungsebene zu bringen, einen gesamtdramaturgischen Faden für das Wanderfestival zu entwickeln.
Ob ConImpeto das Konzertleben von morgen verändern wird, weiß heute keiner vorherzusagen. Dass ConImpeto einen Ansatz verfolgt, der ganzheitliche Erkenntnisse bündelt, der das Prinzip „Jung für Jung“ anwendet, der eine zielorientierte Fragekultur entwickelt, macht ihn sehr interessant. Bleibt zu hoffen, dass der Impuls die jungen Menschen erreicht, die ihr Leben initiativ gestalten wollen, die sich nicht damit zufrieden geben, alles so zu machen, wie es immer gemacht wurde, die den Wandel suchen gemäß dem chinesischen Sprichwort: „Weht der Wind im Wandel der Zeit, bauen die einen Mauern, die anderen Windmühlen.“
Amadeus Templeton Esslingen