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Wer Leistung bringt, erwartet Rückmeldung

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Ein Gespräch mit „Jugend-musiziert“-Beiratsmitglied Thomas Grosse
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Die Diskussion um Punkte und Preise zieht sich als roter Faden durch die Beiratssitzungen, Tagungen und Versammlungen, zu denen die große „Jugend musiziert“-Familie turnusmäßig einberuft. Das Format „Wettbewerb“ erfordert nun einmal Bewertung und Vergleich. Die Balance zu finden zwischen Motivation und differenzierter Bewertung gehört jedoch zu den schwierigsten und zugleich wertvollsten Aufgaben eines Jurygremiums, auf allen Wettbewerbsebenen. Andererseits gehören Begriffe wie „Preisinflation“ oder „Punkte-Skala ausschöpfen“ zum Grundwortschatz aller, die in der Verantwortung für „Jugend musiziert“ stehen. Über das Spannungsfeld, in dem sich der Wunsch nach gerechter Bewertung bewegt, sprach Susanne Fließ mit Prof. Dr. Thomas Grosse, Musikpädagoge, Oboist, Rektor der Hochschule für Musik Detmold und seit 2019 Mitglied des Beirats von „Jugend musiziert“.

nmz: Herr Prof. Dr. Grosse, was hält in künstlerischen Zusammenhängen überhaupt einer „objektiven“ Bewertung stand und fällt nicht unter „subjektive Eindrücke“?
Grosse: Die Erfahrung lehrt uns, dass viele Aspekte künstlerischen Handelns mehr oder weniger erfassbar sind und darüber ein Austausch stattfinden kann: Künstlerische Performanz – also ein überzeugender Auftritt – gehört dazu, dann natürlich Faktoren wie Notentreue, Intonation, rhythmische Präzision und Zusammenspiel und ähnliche objektivierbare Aspekte. Bei anderen Themen kann es eher Differenzen geben, beispielsweise so genannte Werktreue, historisch informierte Musizierpraxis und besonders natürlich Fragen des persönlichen Geschmacks. Letztere lassen sich bei einer emotional wirksamen Kunstform, die Musik nun einmal ist, nicht so einfach ausblenden.
nmz: Sie sprechen messbare oder besser: überprüfbare Parameter an wie Intonation oder Notentreue. Darüber hinaus gibt es jedoch weitere Bewertungsmaßstäbe.
Grosse: Messbarkeit ist eindeutig und nachvollziehbar, dabei kommt stets das gleiche Ergebnis heraus. Wenn aber Bewertung eine Rolle spielt, sind wir in nur noch begrenzt objektivierbaren Gefilden und dann kommt zum Maß noch eine soziale Komponente hinzu. In der Theorie wäre zu unterscheiden zwischen drei Bezugsnormen: Individuell, also der Bewertung der individuellen Verbesserung, sozial, der Bewertung im Vergleich zur Bezugsgruppe, beispielsweise einer Klasse oder dem Teilnehmendenfeld und absolut, der Bewertung anhand eines geprüften Kompetenzkanons. Für „Jugend musiziert“ kommen in der Regel nur die soziale und die absolute Bezugsnorm zum Tragen, wobei letztere eben leider schwierig zu erfassen ist.

Messen und bewerten

nmz: Liegt der Wunsch sich miteinander zu messen und dafür bewertet zu werden in der Natur des Menschen?
Grosse: Ob es Anlage oder Sozialisation ist halte ich für nachrangig. Fakt ist, dass Menschen, die eine konkrete Leistung vorbereiten, erbringen und präsentieren, dafür eine Rückmeldung wünschen, diese ist aus motivationalen Gründen notwendig – im Arbeitsleben genauso wie in Freizeitaktivitäten.
nmz: Welcher Eigendynamik sind Bewertungssysteme ausgesetzt?
Grosse: In der Hochschullehre gibt es seit längerem die Beschäftigung mit einer ständigen Verbesserung bei der Notenvergabe. Der Begriff „grade inflation“ beschreibt das Phänomen, dass über einen zeitlichen Vergleich Noten immer besser ausfallen. Dabei ist natürlich zu berücksichtigen, dass im engeren Sinne nur von einer „grade inflation“ gesprochen werden kann, wenn die Leistungen selbst sich nicht verbessern. Das tun sie aber, denn der akademische Fortschritt führt zu immer umfassenderen Erkenntnissen, der Gehalt von Abschlussprüfungen nimmt also zu. Und auch in der Musik ist es so, ob bei „Jugend musiziert“ oder an den Musikhochschulen: Hier wie dort sind die Schwierigkeitsgrade und künstlerischen Leistungen bei Wertungsspielen gestiegen. Im Sinne einer absoluten Bewertung kommen Bewertungssysteme dann an eine Grenze, weil sie „nach oben“ keinen Spielraum mehr haben. Deshalb sollte hier die soziale Bewertung stärker ins Spiel kommen, also der Blick auf die Bezugsgruppe, so dass immer noch die Besten herausgelesen werden können. Damit aber eröffnen sich sofort neue Probleme: In Gruppen mit hohem Niveau werden möglicherweise Teilnehmende schlechter bewertet, die in anderen Gruppen absolute Spitze sein könnten, ein Effekt der sich im Schul- und Hochschulsystem beispielsweise im Vergleich der Bundesländer nachweisen lässt und der vermutlich auch bei „Jugend musiziert“ besteht.

Bewertung und Motivation

nmz: Und dennoch gehört Bewertung zum System eines Wettbewerbs. Welche Rolle spielt sie für die Motivation?
Grosse: Wenn damit individuelle Beratung einhergeht, kann das sehr motivationsfördernd sein. Wenn jedoch Bewertung als Sanktion wahrgenommen wird, also auch Druck oder gar Angst erzeugt, ist der Umgang damit vermutlich höchst unterschiedlich – zwischen Ansporn und Demotivation habe ich jede Reaktion darauf erleben können. In der Schule ist Bewertung eine Mischform aus Selektion und Leistungsrückmeldung. In der Hochschule wird dieser Ansatz fortgeführt, jeweils mit dem Ziel, am Ende durch Zeugnisse einen Leistungsstand zu dokumentieren. In Wettbewerben steht die Selektion im Vordergrund, dort kommt Ausscheiden deutlich häufiger vor, als ein Nicht-versetzt-werden in der Schule. In beiden Fällen jedoch kann die Platzierung zur individuellen Einordnung der eigenen Leistung beitragen.
nmz: Welche Folgen für die Würdigung ausgezeichneter Leistungen hat die Tatsache, dass bei „Jugend musiziert“ die Skala des Bewertungssys­tems oft nicht ausgereizt wird, obwohl man den Anspruch einer differenzierten Bewertung hat?
Grosse: Die Streuungen werden umso geringer, je besser die Benotungen werden, weil wir unseren Spielraum einengen. Während sich Hochschulen deshalb mit Zehntelnoten hinter dem Komma behelfen, gibt es im Punktesystem von „Jugend musiziert“ diese Option nicht. Das führt dazu, dass Leistungen, die möglicherweise nicht ganz auf einer Stufe sind, trotzdem gleich bewertet werden und das stellt tatsächlich ein Problem dar. Es ist im Sinne einer leistungsgerechten Rückmeldung nicht ideal und kann darüber hinaus zu unerwünschten Effekten bei der Weiterleitung im Wettbewerbssys­tem führen.
nmz: Mit der Vergabe hoher Punktzahlen wird gelegentlich dem Willen zur Motivation von Teilnehmer*innen Ausdruck verliehen. Gleichzeitig mindert die immer wieder kritisierte inflationäre Vergabe hoher Bewertungen das Ansehen einzelner Höchstleis­tungen. Können sich Motivation und Bewertung im Weg stehen?
Grosse: Wenn hohe Punktzahlen mit dem Ziel der Motivierung vergeben werden, sind sie keine echte Leis­tungsrückmeldung mehr, denn dann werden sie eine Art Währung oder Belohnung: „Prima gemacht, weiter so!“ Was soll denn genau gefördert werden? Daraus muss ich die Form der Rückmeldung ableiten. Wir kennen  bei „Jugend musiziert“ aber eigentlich nur Punkte und Beratungsgespräche. Meiner Meinung nach sollten wir es dabei belassen: Punkte geben eine Rückmeldung über den Leistungsstand, Beratungsgespräche dienen der Motivierung.
nmz: Halten Sie teilbare Preise wie bei „Jugend musiziert“ für ein Zeichen von Wertschätzung der Besten oder eher für eine Art künstlerischer Entscheidungsschwäche?
Grosse: Im Sinne der sozialen Bewertung – also bezogen auf die Leistungen der Bezugsgruppe – halte ich geteilte Preise für unvermeidbar. Selektion um jeden Preis kann einige negative Nebeneffekte zur Folge haben: das Pech, neben einer Überfliegerin im Regionalwettbewerb anzutreten oder in einem Land mit extrem hohem Niveau nicht weitergeleitet zu werden – um dann im Bundeswettbewerb festzustellen, dass hier doch einiges möglich gewesen wäre. Wenn überhaupt, wäre die Einzelvergabe von Preisen etwas für den Bundeswettbewerb, aber auch da halte ich geteilte Preise nicht für ein grundsätzliches Problem.

Nachvollziehbarkeit

nmz: Wie wesentlich für die Akzeptanz ihrer Bewertung ist die Nachvollziehbarkeit der Kriterien für diejenigen, die den Bewertungen unterliegen?
Grosse: Das ist unverzichtbar. Allerdings ist auch hier ein Blick in die Hochschulforschung interessant: Im Zuge der „grade inflation“ sind die Betroffenen oftmals gar nicht unzufrieden, da sie in der Regel sehr gute Noten erhalten. Daraus lässt sich ableiten, dass mit zunehmend kritischerer Bewertung auch die Bedeutung der Nachvollziehbarkeit von Bewertungskriterien zunimmt.
nmz: Also hängen Transparenz von Bewertungskriterien und Glaubwürdigkeit eines Projektes zusammen?
Grosse: Wenn – wie bei „Jugend musiziert“ – die Bewertung zentraler Gegenstand des Projektes ist und gleichzeitig mehr als nur eine Bestenauslese ermöglichen soll, muss eine Transparenz bei den Kriterien gewährleistet sein. Gleichzeitig sollten wir uns nicht dem Wunsch hingeben, dass Transparenz zu einer höheren Gerechtigkeit führt oder diese wenigstens impliziert. In dieser Struktur kann es keine vollkommene Objektivität geben, das liegt in der Natur von Bewertungen. Deshalb ist etwas anderes viel wichtiger: Authentizität, ehrliche und wertschätzende Rückmeldung und sicher auch die Stärkung des olympischen Gedankens.

Umgang mit dem System

nmz: Gibt es den Moment, in dem Bewertungssysteme ihr natürliches Verfallsdatum erreicht haben?
Grosse: Das ist keine Frage der Lebensdauer, sondern des Umgangs mit dem System. Im Maschinenbau, dem Magister Soziologie oder den Rechtswissenschaften gibt es meines Wissens keine nennenswerte „grade inflation“; diese Fächer, die deshalb auch als ausgesprochen streng gelten, haben es offensichtlich richtig gemacht. Andere weniger, was nicht bedeutet, dass ihr Bewertungssystem nicht mehr taugt. Es wird nur nicht optimal eingesetzt. Dass wir dann lieber das System in Frage stellen, anstatt unseren Umgang damit neu zu justieren, ist menschlich, denn nichts ist schwieriger als eine etablierte Kultur zu verändern. Der Versuch, hier einen Wandel herbeizuführen, wird mit einem Kultzitat von Peter Drucker perfekt zum Ausdruck gebracht: „Culture eats strategy for breakfast!“
nmz: Ist das auch die Hausaufgabe, der sich die Verantwortlichen bei „Jugend musiziert“ unterziehen sollten?
Grosse: Selbst wenn eine flächendeckende Objektivierbarkeit der Bewertungen bei „Jugend musiziert“ illusorisch ist, sollten alle Anstrengungen unternommen werden, diesem Ideal nahezukommen. Unter der Prämisse, dass sich das bestehende Punktesys­tem im Prinzip als tauglich erwiesen hat, erscheint ein Kulturwandel erforderlich, der wieder eine bessere Differenzierung der Leistungen ermög­licht. Dies kann mittelfristig nur durch eine koordinierte Neuorientierung der Bewertungspraxis auf Regional-, Landes- und Bundesebene gelingen. Da eine solche „Kalibrierung“ zu veränderten Ergebnissen führen wird, denn der Punktedurchschnitt würde dann sinken, muss der Wettbewerb auch in Bezug auf die Außenwahrnehmung möglicherweise Maßnahmen ergreifen, die den Wert der einzelnen Preise ins rechte Licht rücken. Angesichts der Stimmen, die genau diese Inflation der Preise als Verfall des Wettbewerbsgedankens beklagen, ein möglicherweise überschaubares Risiko. Allerdings muss ein solcher Kulturwandel behutsam vorgenommen und sorgfältig begleitet werden.

Das Gespräch führte Susanne Fließ.

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