Im November 2023 fand im fast ausverkauften Kleinen Haus des Staatstheaters Braunschweig ein Konzert mit 53 Uraufführungen als Ergebnis eines internationalen Projektes statt. Als Basis diente das Walzer-Thema von Anton Diabelli, das 200 Jahre zuvor 50 Variationen von Komponisten, sowie die 33 Variationen Beethovens inspirierte. Denn keine dieser Variationen stammte aus der Feder einer Frau! Dieses historische Missverhältnis geradezurücken, machte sich das Projekt „Diabelli Recomposed“ zum Ziel.
53 Uraufführungen von Komponistinnen aus 22 Ländern
Wie und wo findet man eigentlich Komponistinnen? Komponisten kennt man schon, ja, aber komponierende Frauen? 2020 wurden Aufrufe in der Fachpresse und über die sozialen Medien gestartet. Das Ziel war es, ähnlich wie bei Diabelli, eine Walzervariation der Komponistinnen in ihrem eigenen Stil, im Umfang von 32 Takten, tonal oder atonal, für Klavier solo und ohne Honorar zu bekommen. Das war die Geburtsstunde des Projekts, das von da an eine faszinierende Eigendynamik entwickelte. Die ersten Kompositionen wurden angereicht, die Freude war groß und mit ihr wuchs die Verantwortung, das Projekt auf stabile Beine zu bringen, um seine Durchführung zu garantieren. Die Suche nach Komponistinnen gestaltete sich sehr abenteuerlich: Den begeisterten Zusagen folgten manchmal unerwartete Absagen, viel Lob, aber genauso viel Kritik. Als dann die 35. Variation kam, musste nicht nur die Herausgabe einer Notenedition, sondern auch die Uraufführung der eingesandten Variationen geklärt werden.
Der Furore Verlag Kassel, der sich auf die Herausgabe der Musik von Frauen spezialisiert hat, war von der Idee sehr angetan. Dank Crowdfunding wurden mehr als 50 Stück-Patinnen und -Paten gefunden, um die Drucklegung der Notenedition der Variationen zu finanzieren. Die Herausgabe von 50 Stücken, die fast alle in einem anderen Notenschreibprogramm geschrieben oder auch per Hand oder als Handyfoto oder Audioaufnahme geschickt wurden, machte das Lektorat und die Notentranskription zu einer echten Herausforderung. Der nächste Schritt war die Planung der Uraufführung. Frau Prof. Ewa Kupiec von der HMTM Hannover war sofort bereit, mit 10 Pianistinnen aus ihrer Klavierklasse das Programm einzustudieren. Mein PC war die Schnittstelle, wo alle notwendigen Informationen aufeinandertrafen, die an die richtigen Stellen weitergeleitet werden mussten, wie etwa viele Fragen von und an die Komponistinnen, die zahlreichen Korrekturen und Ergänzungen für die Lektorin, damit die Pianistinnen ihre Fragen zum Notentext und der Aufführungsart direkt mit der Komponistin abklären konnten und nicht zuletzt die Absprachen mit der Grafikerin, die nach der konzeptionellen Lösung für ein Programmheft zum Konzert suchte, das 53 Komponistinnen (drei wurden als Gastbeitrag hinzugenommen) und 10 Pianistinnen vorstellte. Die Schirmherrschaft für das Konzert übernahm die Generalintendantin des Staatstheaters Dagmar Schlingmann, den finanziellen Support für das Konzert und das Programmheft lieferten glücklicherweise vier Braunschweigische Stiftungen.
Die Probenberichte aus Hannover klangen vielversprechend und zeigten die Begeisterung der jungen Interpretinnen für die eingereichten Werke. Ich fieberte der Uraufführung entgegen. Irgendwann wurde der magische Satz ausgesprochen: Wir sind fast ausverkauft! Das Konzert wurde gestreamt, damit alle Komponistinnen und auch Patinnen und Paten im In- und Ausland dabei sein konnten, wenn die Musikgeschichte ein neues, weibliches Upgrade bekommt. Die Uraufführung lief einfach perfekt: die Pianistinnen haben alle Stil-Facetten der Kompositionen hervorragend herausgearbeitet und präsentiert. Das Publikum und die im Saal anwesenden Komponistinnen waren restlos begeistert. Auch wenn das Projekt manchmal polarisierte, am Ende gab es nur noch Lob und viel Bewunderung für die Idee an sich und den Mut, alles an ein glückliches Ende zu führen. Die Variationen überraschten mit ihrer Vielfalt, denn neben den Werken im neo-klassischen Stil gab es zahlreiche Stücke aus dem Bereich der Neuen Musik mit teils präpariertem Flügel, mit ungewohnten Utensilien, wie einem schwarzen Handschuh oder einem Kochlöffel. Das überraschte und bündelte gleichzeitig die Konzentration der Zuhörer, denn die Stücke waren abwechslungsreich und kurzweilig. Die Pianistinnen trugen je 5 Werke vor und sorgten somit dafür, dass trotz der imposanten Zahl von 53 Variationen keine Ermüdung eintrat. Es brauchte keine ausgeklügelte Dramaturgie für den Ablauf des Konzerts, denn die simple alphabetische Reihenfolge sorgte für eine perfekte stilistische Abfolge, die besser nicht hätte sein können. Der Zufall hat also hier einen guten Job gemacht. Das Publikum war sich einig: so etwas hat man noch nie erlebt. Und wer hätte gedacht, dass Neue Musik so viele Herzen erobern kann?
Jetzt, nach dieser erfolgreichen Uraufführung kann man nur hoffen, dass diese Musik aus weiblicher Hand, die 200 Jahre nach Diabellis Idee komponiert wurde, genauso schnell von der Suchmaschine gefunden wird, wie Beethovens Opus 120 und die 50 Variationen der Wiener Komponisten. Ich wünsche dieser Musik, dass sie eine Runde um die Welt macht, dass die Komponistinnen selbst zu einem Multiplikator in ihrer eigenen Sache werden, dass jeder und jedem, die diesem Projekt begegnen, bewusst wird, dass es viele Frauen auf dieser Welt gibt, die musikalisch viel zu sagen haben und ihnen das Recht zusteht, von uns allen gehört zu werden.
Dieses Projekt war ein Wagnis, ein spannendes Abenteuer, das viel Mut, Durchhaltevermögen und Optimismus erforderte. All das lernt man nicht im Studium. Und allein schafft man es nicht. Ein afrikanisches Sprichwort bringt es auf den Punkt: Man braucht ein ganzes Dort, um ein Kind großzuziehen. Man braucht viele musikbegeisterte Menschen, um am Ende beeindruckende Musik von 53 Komponistinnen formvollendet zum Erklingen zu bringen. Dafür gilt mein tiefer Dank allen, die zum Projekt beigetragen haben. Diabelli Recomposed ist da und wird für immer bleiben und seinen berechtigten Platz in der Geschichte einnehmen.
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