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Auf der Suche nach Freiheit

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Ein Leuchtturmprojekt des Deutschen Ärzteorchesters
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Medizin und Musik – zu wissen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, diese ganzheitliche Faust’sche Lebenssuche hat nicht erst seit Beginn des frühen 20. Jahrhunderts in Deutschland und Europa eine feste Tradition. Anders als im mittelalterlichen Lehrwesen, wo Musik ein Bestandteil des Studiums der sieben freien Künste (septem artes liberales) war und das jeder angehende Arzt absolvieren musste, erkundete man um 1900 das Instrumentarium der Musik für den Hausgebrauch und schloss sich mit anderen Gleichgesinnten zu Ärzteorchestern zusammen.

So kam es in Deutschland nach der Entstehung des Berliner Ärzteorchesters im Jahre 1911 republikweit zu vielen städtischen und überregionalen Orchestergründungen, bei denen sich Mediziner zur Ausübung von „Laienmusik“ zusammengefunden haben. Das 1989 gegründete Deutsche Ärzteorchester stach bisher als bundesweit fungierendes Orchester aus dieser Vielzahl weder repräsentativ noch programmatisch heraus, wenige Spotlights, wie solche mit dem großartigen kenianischen Musiker Eric Wainaina oder eine spektakuläre Zusammenarbeit mit der Augsburger Puppenkiste bildeten seltene Ausnahmen. Auch um stärker in der Laienorchesterszene wahrgenommen zu werden, setzte man in der pandemiebedingten Kulturpause klare konzeptionelle Überlegungen um: Altbundespräsident Joachim Gauck konnte als Schirmherr gewonnen werden, mit der apobank fand man einen Hauptsponsor und mit der Deutschen Stiftung Denkmalschutz wurde eine dauerhafte Partnerschaft initiiert, die in den folgenden Jahren ein gemeinsames jährliches Projekt beinhalten sollte. Der glückliche Start dieser Zusammenarbeit fand mit Benefizkonzerten für die Hochwasser-Soforthilfe der Deutschen Stiftung Denkmalschutz im Oktober 2021 im Kloster Steinfeld und der Abtei Himmerod – beides von der Stiftung unterstützte Baudenkmäler in der Eifel – statt. Und auf Anregung von Joachim Gauck organisierte man für den September 2022 endlich einmal wieder ein aussagekräftiges Leuchtturmprojekt: Das „Benefizkonzert zugunsten der Deutschen Stiftung Denkmalschutz für den Erhalt der Ros­tocker Marienorgel“ am 17. September 2022 hatte nicht nur ein dramaturgisches Konzept, sondern es wurde erstmals in der Geschichte des Orchesters sogar ein Kompositionsauftrag vergeben. Dieser erging an den musikalischen Leiter des Deutschen Ärzteorchesters, den Dirigenten und Komponisten Alexander Mottok, der von seinen Musizierenden sehr geschätzt wird und durch die Uraufführung seines Werkes auf dieser fokussierten Bühne eine besondere Wertschätzung als Komponist erfahren hat. Die musikdramaturgische Klammer des Konzertprogrammes bildeten Beethovens Egmont-Ouvertüre, die den niederländischen Befreiungskampf gegen die spanische Besatzung im 16. Jahrhundert beschreibt und Brahms 1. Sinfonie, mit deren Schaffung der hamburgische Komponist seine künstlerische Freiheit fand.

Zählten zu Alexander Mottoks bisherigen Kompositionsarbeiten kleinere Werke, wie die 2008 entstandenen „33 Klang-Bilder zu Gemälden von Christa Donatius“ oder die im Auftrag der German Doctors geschriebenen „Impressions für großes Orchester“ (2013), so hat er sich im Jahre 2021 einer der wichtigsten Stimmen der DDR und des wieder vereinten Deutschlands zugewandt und im Auftrag des Deutschen Ärzteorchesters die „Fünf sinfonischen Paraphrasen über Gedichte von Thomas Brasch“ komponiert. In der Marienkirche in Anwesenheit des Altbundespräsidenten sollten sie zur Uraufführung kommen, an jenem Ort, der für Joachim Gauck und die vielen Rostocker im Herbst 1989 während der Donnerstagsgebete innerhalb der vom Staat bekämpften Demokratiebewegung zum Zufluchtsort wurde. Auch Thomas Brasch (1945-2001), der mit seiner Lebensgeschichte die Ost-West-Dimension aus einer ganz speziellen Perspektive symbolisiert, war von Anbeginn an ein Suchender nach Freiheit. Sein Aufwachsen in der DDR, sein Widerstand gegen das Regime und damit auch den eigenen Vater – Horst Brasch war SED-Parteifunktionär und stellvertretender Minister für Kultur-, sein Streben nach politischer Veränderung und sein früh erwachter Wunsch, eines Tages Schriftsteller zu sein, all dies prägte dieses Leben, welches vergleichbar war mit einer Kerze, die an beiden Enden brennt. Wie kaum ein anderer vermochte Brasch es, sein Zerrissensein, seine politische Systemkritik oder die Absurdität des Lebens, die er im kapitalistischen Hams­terrad nach seiner Übersiedlung in den Westen empfand, über Literatur auszudrücken. Seine Sprache ist hierbei von unglaublicher Präzision, mal zart, mal kalt, mal ironisch und oftmals melancholisch.

Alexander Mottok hat aus seinen vielen Versen gemeinsam mit Marion Brasch – die jüngere Schwes­ter des Lyrikers war auch die Sprecherin bei der Uraufführung- fünf unterschiedliche Gedichte ausgesucht und in seine Musik übersetzt. Alexander Mottok erspürte die melodiöse Sprache des Lyrikers meisterhaft und es entstanden fünf musikalische Kleinode. Stellvertretend für alle fünf seien hier zwei besonders besprochen: In seinem Gedicht „Der schöne 27. September“ verkündet Thomas Brasch nihilistisch, dass er keine Zeitung gelesen, keinen Briefkasten geöffnet, niemandem einen guten Tag gewünscht, keine Zeile geschrieben und keinen Stein ins Rollen gebracht habe. Das Wesentliche findet sich in der Mitte des Gedichtes, wenn er schreibt „Ich habe mit keinem über alte Zeiten gesprochen und mit keinem über neue Zeiten“. Hier spielte für den Dichter ein winziges Detail eine Rolle: Am 27.9.1979 wurde in der DDR das aus alten Zeiten gewohnte Telefonwählzeichen auf einen Dauerton umgestellt. Alexander Mottoks Vertonung beginnt atmosphärisch, die Streicher rollen einen Klangteppich aus, man sieht im eigenen Kopfkino förmlich Thomas Brasch, eigentlich lebenslang unbehaust, in irgendeiner Wohnung in Ostberlin, ein Auto fährt vorbei, dann eine Straßenbahn, man hört Leute plappern und immer wieder erscheint das duolische Wählzeichen, mal in den Streicher-, mal in den Bläserstimmen. Es lässt sich im Unterbewusstsein der Hörenden nieder und löst sich zum Ende in den absolut sterilen, kalten und quälenden Sinuston auf, mit dem Laut eines EKG-Gerätes für die gestorbene DDR vergleichbar. – Ganz anders zeigen sich die Gefühlswelten in Mottoks Vertonung des Verses „Wenn ich Dich begehre gegen jede Vernunft“. Hier geht die Musik direkt ins Herz, beschreibt das Begehren, die Sehnsucht und das Verfangensein der Liebenden ineinander.

Man fühlt in dieser Art Prozessionsmusik im Stile einer unerbittlichen Passacaglia die Konsequenz, die Brasch zum Schluss des Verses offenbart, wo er den Liebenden „unvernünftig“ den ersehnten Freiraum eröffnet und der Vernunft sagt: „Bleib allein“. In all diesen kurzen Musikstücken folgen Alexander Mottok seine Musizierenden aufmerksam und mit viel Zuneigung. Glänzend sind die Bläser einstudiert von Rainer Leisewitz (ehemals Solo-Kontrafagottist der Hamburgischen Staatsoper). Bei den Mitgliedern des Deutschen Ärzteorchesters handelt es sich eigentlich um musikalische Laien. Allerdings haben einige auch Musikhochschulen von innen gesehen. Und so lassen die Soli der Flötistin, der Englischhornistin, der Bassposaunistin oder des Kontrafagottisten aufhorchen und sind nur wenige Beispiele für die musikalischen Glanzleistungen, zu denen die Musizierenden dieses ambitionierten Orchesters in der Lage sind. Auch die Wiedergabe der nachfolgenden Brahms-Sinfonie gelang den eigentlich Medizinschaffenden äußerst respektabel. Allein schon dies war sehr beglückend. Bei den Benefizkonzerten des Deutschen Ärzteorchesters geht es jedoch auch um die konkrete Unterstützung der Benefizempfänger. Die musikalisch Teilnehmenden übernehmen bei allen Projekten ihre Unkosten selbst, organisieren Praxisvertretungen oder nehmen ihren Jahresurlaub. Sie leben ihr Hobby, kosten jede Minute aus und genau diese überwältigende positive Energie ist beim Konzert in der St. Marien-Kirche in Rostock spürbar gewesen. Und letztendlich wollen sie ja auch wissen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“.

Holger Simon ist seit 1991 Fagottist der Deutschen Oper Berlin. Er ist außerdem studierter Manager für Kultur und Betriebswirt. Als Rezensent arbeitet er für verschiedene Fachmagazine.

 

 

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