Im unendlichen Meer barocker und frühklassischer Spielfreudigkeit finden sich immer wieder erlesene Perlen verschollener Kammermusik: so auch in dem vor etlichen Jahren wiederentdeckten Notenbuch Friedrichs des Großen, des musizierenden Preußenkönigs, der ja bekanntlich neben seiner Eigenschaft als Herrscher und Kriegsherr nicht nur ein Flötenvirtuose, Komponist und Opernlibrettist war, sondern der Musik insgesamt wie der Philosophie mit aufklärerischem Impuls zugetan.
Das königliche Notenbuch, ein Prachtband im Goldschnitt mit dem preußischen Adler auf dem Deckel, enthielt 54 Sonaten für ein Melodieinstrument und Generalbass, komponiert von bekannten und weniger bekannten Meistern des späten 17. beziehungsweise frühen 18. Jahrhunderts.
Musikhistorische Bedeutung
Ging auch das kostbare Original verloren, so dokumentiert doch die Breslauer Abschrift des Notenbuchs von 1858 die musikhistorische Bedeutung einer Werksammlung, deren farbige Vielfalt die Musikpraxis am Hofe des „Alten Fritz“ in lebendiger, authentischer Form widerspiegelt. Aus der königlichen Noten-Schatztruhe präsentieren nun die renommierte Berliner Geigerin Marianne Boettcher, deren breites Repertoire vom frühen Barock bis zur zeitgenössischen Musik reicht, und die ebenfalls in der alten wie der Neuen Musik versierte Cembalistin Yuko Tomeda in einer Ersteinspielung bei Primton Berlin eine Auswahl von Sonaten unterschiedlicher Stilrichtung.
Adelheid Krause-Pichler, als Flötistin wie auch als Musikwissenschaftlerin eine ausgewiesene Spezialistin dieser Epoche, schreibt in ihrem Einführungstext zur Stilistik der Werke: „Es ist die Zeit der Aufklärung, in der auf allen Ebenen um neue Werte und andere Strukturen gerungen wird. Kontrapunkt ist altbacken, Virtuosität modern, der Musiker ist nicht mehr Handwerker, sondern bildet sich durch Inspiration zum Künstler.“
Galante Diktion
Diesen Worten entsprechend eröffnen Marianne Boettcher und Yuko Tomeda ihren Barockreigen von sechs Sonaten mit Georg Philipp Telemann, dessen galante Diktion schon spürbar vom „stile antico“ eines Johann Sebastian Bach abrückt. Die typische Sechzehntelmotorik etwa im Allegro der D-Dur Telemann-Sonate findet noch eine Steigerung im abschließenden Presto, dessen vorwärtsdrängender Gigue-Gestus in akzentuierter Umspielung des Grundtones von der Geigerin Marianne Boettcher vorzüglich eingefangen wird.
Es liegt in der besonderen Kunst der beiden Interpretinnen, bei gleichbleibend tänzerischem Grundduktus schneller Barocksätze jedwede Monotonie zu vermeiden. Das zeigt sich gleich beim ersten Allegro des italienischen Geigenvirtuosen und Corelli-Schülers Francesco Xaverio Geminiani: Marianne Boettcher nimmt die Spielfiguren in leichtem Stakkato und differenziert so den tänzerischen Schwung des gegenüber Telemann noch luzideren Italieners Geminiani.
Barocke Rarität
Auch die folgende Händelsonate ist eine barocke Rarität innerhalb des friderizianischen Notenbuches; reizvoll etwa erinnert die noble Melodik des mittleren Adagio an die Händelsche Feuerwerksmusik. Bei Antonio Vivaldis G-Dur Sonate handelt es sich zweifelsfrei – die Doppelgriffe im „Preludio Andante“ verraten es – um eine originale Violinsonate des „Prete rosso“ aus Venedig; auch in dieser Sonate liegt der rhythmisch-motorische Schwerpunkt in der virtuosen Anlage des finalen „Corrente“-Tanzsatzes. Mit schlanker Tongebung und zarten Echowirkungen liefern hier die beiden Solistinnen ein Glanzstück barocker Eleganz.
Unbekanntere Meister
Von besonderem Interesse schließlich ist die Begegnung mit zwei unbekannteren Meistern der galanten Zeit: Johann Heinrich Freytag und Augustin Reinhard Stricker. Beide Musikerbiographien sind mit derjenigen Johann Sebastian Bachs verknüpft: Freytag wirkte als Flötist unter Bachs Leitung in der Hofkapelle von Anhalt-Köthen; Bachs Amtsvorgänger war wiederum der Opern- und Kantatenkomponist Stricker. Ohne hier einen – damals noch gar nicht angestrebten – Personalstil einklagen zu wollen, kann man konstatieren, dass die beiden Sonaten in D-Dur beziehungsweise A-Dur recht gleichartig gefertigt sind. Besinnliche Adagios lösen sich hier wie dort mit brillanten Allegro-Sätzen ab. Durch die raffinierte Noblesse der Wiedergabe verdichtet sich der Eindruck zum Hörerlebnis und trägt somit in schöner Weise zur Bereicherung des Repertoires bei. Die in dieser Neueinspielung insgesamt vorherrschende italienische Barockatmosphäre mag durch drei entsprechend italienische Termini definiert sein: „serenità“, „sensualità“ und „cantabilita“ – Heiterkeit, Sinnlichkeit und Gesanglichkeit sind die drei Grundpfeiler dieser CD. Mit Klangzauber und Ausdrucksvielfalt entführen uns Marianne Boettcher und Yuko Tomeda in die Zeit um 1720.
Marianne Boettcher (Violine) und Yuko Tomeda (Cembalo): Das Notenbuch Friedrich des Großen – Vivaldi, Händel, Freytag, Geminiani, Stricker. Primton Berlin