Nicht nur die andauernden Auswirkungen der Corona-Pandemie, sondern auch die weiteren Krisen der Welt, vom Klimawandel bis zum Ukraine-Krieg, führen zu einer weitreichenden Verunsicherung vieler Menschen. Musikpädagog*innen und Musiker*innen schauen mit Sorge und Skepsis in die Zukunft ihres Berufsfeldes und schon jetzt sind nachhaltige Veränderungen zu beobachten: Onlineunterricht und digitale Unterrichtsformate bereichern den Musikunterricht, Reise- und Hotelkosten verringern sich durch Webinare und Onlinekonferenzen, die Welt rückt digital zusammen. Auf einer Tagung des Tonkünstlerverbandes NRW in Wuppertal sprachen Experten, Musiker*innen und Musikpädagog*innen unter dem programmatischen Titel „Künstler und Pädagogen – Künstlerpädagogen“ über Zukunftsaussichten. Der vorliegende Artikel ergänzt die Ergebnisse meines Vortrages mit aktuellen Erkenntnissen aus dem beruflichen Kontext meiner Tätigkeit als Professor für Musikmanagement an der Hochschule für Musik Detmold.
Spricht man mit Musikstudierenden der Anfangssemester über ihren Wunschberuf, so werden in der Regel diese Berufsziele benannt: Orchestermusiker*in, Pianist*in, Instrumentalsolist*in oder Sänger*in an der Oper, je nach Studiengang. Das ist keine Überraschung und vermutlich war dies vor 30 Jahren schon so. Denn wer in den 1980er- und 90er-Jahren Musik studierte, durchlief größtenteils „klassische, eingleisige“ Werdegänge. Natürlich hat auch 1990 der/die Orchestermusiker*in oder die Musikschullehrer*in hin und wieder gemuggt. Doch zum größten Teil wurde das Haupteinkommen aus einem einzigen Job mit kleinen, weiteren Nebeneinkünften generiert. Wie der Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes von 2019 belegt, hat sich diese Situation maßgeblich verändert: Von den 61.000 Angehörigen der Berufsuntergruppe „Musikpädagogik“ sind 57 Prozent selbstständige Musikpädagog*innen und 43 Prozent abhängig Beschäftigte. Auch in der Berufsgruppe „Musik-, Gesang-, Dirigiertätigkeiten“ mit 71.000 Erwerbstätigen überwiegen selbstständig Tätige mit 59 Prozent gegenüber den Arbeitnehmer*innen (41%). Allerdings differenziert der Mikrozensus nicht dahingehend, dass viele Musiker*innen sowohl angestellt als auch selbständig tätig sind. Dies unterstreicht die Studie des Deutschen Musikrates vom Frühjahr 2021 „Eiszeit – das Musikleben vor und nach der Coronapandemie“. Von 2.851 Personen gaben rund die Hälfte an, ausschließlich Einnahmen aus selbstständiger Tätigkeit zu erzielen, circa ein Drittel (exakt 28%) gaben an, teilweise angestellt und teilweise selbstständig tätig zu sein, also in einem hybriden Beschäftigungsmodell zu arbeiten und nur rund 20 Prozent sagten, ausschließlich angestellt tätig zu sein.
Die Auftragsstudie des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW „Die berufliche und wirtschaftliche Lage der Künstler- und Kulturberufe in Nordrhein-Westfalen“ von Michael Söndermann von 2022 unterstreicht die hohe Bedeutung sogenannter hybrider Einkommen: „Zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes sind die Menschen in Künstler- und Kulturberufen in ihrer Mehrheit seit langem und regelmäßig in mehreren Berufen tätig. Wie in diesem Bericht erstmals mit Hilfe der Einkommensteuerstatistik belegt werden konnte, erzielten 54 Prozent aller in den künstlerischen Berufen Tätigen zusätzliche Einkommen aus sogenannter nichtselbständiger Tätigkeit, das umfasst berufliches Einkommen aus abhängiger Beschäftigung und Renten. Das Einkommen aus freier künstlerischer Tätigkeit war dabei meist deutlich geringer als das aus nichtselbständiger Tätigkeit.“
„Auf mehreren Beinen stehen“, nannte man vereinfachend dieses Phänomen in der Vergangenheit. Es folgte der Begriff der Patchwork-Karriere, aktuell beherrschen die Begrifflichkeiten „Hybrides Einkommen“, „Einkommensmix“ oder „Multiple stream income“, also eine Kombination einer freiberuflichen Tätigkeit und einer nichtselbständigen Tätigkeit, die Diskussion in Medien und Forschung. Als was arbeiten nun viele Musikpädagog*innen und Musiker*innen, wenn sie nicht ausschließlich als Angestellte in einem einzigen Beruf tätig sind, beispielsweise als Tuttigeigerin im Orchester oder als Vollzeit-Musikschullehrkraft? Ein Brainstorming im Rahmen der Musikmanagement-Seminare an der Hochschule für Musik Detmold identifizierte rund 50 Berufe, in denen Musiker*innen tätig sind, darunter viele Tätigkeiten, die oftmals als ein zusätzliches Standbein ausgeübt werden, so die Korrepetition, Musikjournalismus, Festival- und Konzertmanagement, Dramaturgie, Musikvermittlung oder die Musikbearbeitung. Betrachtet man die Tätigkeitsbereiche freier Musiker*innen, so überwiegt mit fast 50 Prozent aller in der Künstlersozialkasse versicherten Musiker*innen der Bereich Musikpädagogik als Arbeitsfeld, rund 30 Prozent sind als freie Musiker*innen künstlerisch in den verschiedenen Sparten vom Jazz bis zur Klassik tätig.
Die Digitalisierung geht schneller voran und es wird gezoomt und geskypt wie nie zuvor! Diese Entwicklung verschärft zum einen den Generationenkonflikt zwischen den „Digital natives“ der Musikstudierenden und jungen Berufstätigen und den „Silver Surfern“. Andererseits fällt das Versäumnis, jahrelang zu wenig in die Digitalisierung investiert zu haben, besonders gravierend auf: Hochschulen, Musikschulen und andere Bildungseinrichtungen müssen nicht nur die technischen Voraussetzungen für eine digitale Lehre schaffen, sie müssen auch Lehrpläne und Studienordnungen anpassen. Digitale Lehrformate können Unterricht und Studium verbessern, digitale Veranstaltungsformate können jungen Musiker*innen und Künstler*innen künftig neue Märkte erschließen. Der Stream eines Livekonzertes ersetzt das Hörerlebnis im Konzertsaal nicht, aber digitale Zusatzangebote wie Konzerteinführungen oder Diskussionsforen, eine pädagogische Begleitung durch Trailer und Filme oder die Evaluation durch Zuschauerumfragen ergänzt den analogen Musikgenuss.
Auch in Fragen des Managements und der Kulturwirtschaft hat die Wirklichkeit den Hochschulbetrieb überholt. Während mancherorts noch über die Bedeutung einer Debut-CD gesprochen wird, erwirtschaftet die deutsche Musikwirtschaft mehr als zwei Drittel aller Umsätze im digitalen Segment. Hiervon profitieren aber nur wenige Künstler*innen, da die Urheber bei der Lizenzierung von Streaming Produkten nur geringfügig mitverdienen. Eine stärkere Beteiligung der Urheber an den Gewinnen steht dringend auf der Tagesordnung.
Der Blick auf den künftigen Arbeitsmarkt verunsichert junge Künstler*innen und Studierende, denn schon heute ist klar, dass alle öffentlich finanzierten Einrichtungen mit Sparmaßnahmen in Folge der stark belasteten Haushalte rechnen müssen. Hier könnten die deutschen Orchester und Chöre mit einer Flexibilisierung ihrer Strukturen helfen, die Krise zu bewältigen, indem verstärkt Teilzeitstellen geschaffen werden. Lange schon wünschen sich junge Orchestermusiker*innen und Musikpädagog*innen Arbeitsverträge, die es ermöglichen, eigene künstlerische Projekte neben dem Hauptjob zu verwirklichen. Das Schlagwort von der Work-Life-Balance sollte von Arbeitgebern und Verbänden nicht einfach beiseite gewischt werden. Immer wieder werden Bedenken geäußert, eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes im Bereich von Orchestern, Bühnenensembles und Chören würde Stellen in die Freiberuflichkeit verlagern beziehungsweise Stellenabbau bedeuten. Dabei geht es darum, durch Teilzeit mehr Künstler*innen eine angestellte Arbeitsperspektive zu bieten, die einen sicheren Einkommensmix ermöglicht.