„Die Weimarer Frühjahrstage für zeitgenössische Musik sind ein Musterbeispiel dafür, wie sich eine regionale Komponistenszene (via nova e.V.) sys-tematisch, fleißig, nachdrücklich und mit hohem künstlerischen Anspruch innerhalb von (nur!) dreizehn Jahren aus dem Herzen Thüringens, in das Herz für Neue Musik Mitteldeutschlands, dann in das Herz Gesamtdeutschlands und, nun folgerichtig, in ein europäisches Zentrum für zeitgenössiche Musik verwandeln kann.“
Diese Worte hat der amtierende Präsident des Deutschen Komponistenverbandes, Lothar Voigtländer, den Weimarer Frühjahrstagen 2012 als Gruß ins Programmheft geschrieben und damit ein Festival gewürdigt, das eine ganz besondere Erfolgsgeschichte vorweisen kann. Der in Weimar ansässige via nova e.V. kann in der Tat inzwischen auf unzählige Veranstaltungen zurückschauen, das Spektrum reicht von Orchesterkonzerten, experimentellen Performances, elektroakustischen Klangerkundungen bis hin zur Musiktheaterproduktion. Zentraler Bestandteil des Festivals sind die jährlich ausgeschriebenen Kompositionswettbewerbe, einer für ein Orchesterwerk, der andere für Kammermusik. Künstlerischer Leiter des Festivals und Vorstand des Komponistenverbands via nova e.V. ist DTKV-Mitglied Johannes Hildebrandt.
Für den Orchesterwettbewerb sollten in diesem Jahr Stücke mit Solo-Flöte eingereicht werden. Die exzellente Carin Levine (Flöten) und die Jenaer Philharmonie unter Markus L. Frank bestritten ein Konzert, das fünf anspruchsvolle Werke präsentierte, vier davon Uraufführungen. Drei Stücke waren anhand eingereichter Partituren ausgewählt und erarbeitet worden. Am Ende konnte sich der 23-jährige Grieche Stylianos Dimou für „Réflexion du nuages“ einen ersten Preis sichern. Zu Recht: Sein Werk behandelt das Orchester wie eine große überdimensionale Flöte, über welcher das Soloinstrument wie ein großer Sonnenstrahl leuchtet. Alle typischen Attitüden eines Solokonzerts suchte er geschickt zu vermeiden. Der zweite Preis ging an den Italiener Massimo Lauricella für sein pastellenes „Le voci dell’aria“, der dritte an Stefan Lienenkämper aus Berlin, dessen „Concertino“ eine mehr als nur solide Leistung darstellte. Ergänzt wurde das Programm durch die „Passacaglia I“ von Gerhard Müller-Hornbach aus dem Jahr 1980, die in ihrer Frische und Virtuosität auch 32 Jahre nach ihrer Entstehung noch überzeugte. Der 1986 geborene Thomas Nathan Krüger steuerte mit „[on]“ eine weitere, in höchstem Maße anspruchsvolle, avancierte und klangschöne Uraufführung zu diesem Abend bei. Konnten die Ergebnisse des Orchesterwettbewerbs in höchstem Maße überzeugen, so lässt sich gleiches leider nicht über die ausgewählten Kompositionen des Kammermusikwettbewerbs sagen. Das kann natürlich an den Ausschreibungsbedingungen liegen: Die Komponisten waren aufgefordert, zu einem Kunstvideo (von Stefan Wilke) eine Musik abzuliefern. Der Film bezieht sich im weitesten Sinne auf Martin Luther (Thüringen ist Luther-Land, der Reformator allgegenwärtig). Wie auch immer: Weder „Ex thuringia“ von Ludger Kisters, noch „trivido“ von Manfred Klinkebiel konnten wirklich überzeugen, wobei Kisters in seinem Bemühen, musikalisch auf das Video Bezug zu nehmen, einen zweiten Preis zugesprochen bekam. Klinkebiel, der keinen Preis bekam, hat es nicht geschafft, eine klangliche Brücke zum Film zu bauen. Das Ensemble „en plythos“ unter Joan Pagès rundete seine Matinee mit höchst ansprechenden Werken von Gabriel Iranyi, Robin Minard und Helmut Zapf ab.
Film- beziehungsweise Videokunst war im diesjährigen Programm der Weimarer Frühjahrstage auch weiterhin vertreten, schlängelte sich gewissermaßen als programmatisches Band durch das Festival. Die Staatsphilharmonie Timisoara (Rumänien) gastierte unter der Leitung von Walter Hilgers. Der bekannte Videokünstler Steffen Koch zeigte zu einigen der gespielten Werke Live-Videos.
Volodymyr Runchak aus der Ukraine eröffnete das Konzert mit „Surely not I, Lord?“, gab damit die programmatische Richtung des Abends vor: überwiegend Werke sehr ernsten Charakters; dennoch kam in keinem Augenblick der Eindruck von Monotonie auf. Der künstlerische Leiter der Frühjahrstage, Johannes K. Hildebrandt, ließ sich mit „Satyagraha“ hören, von Thomas C. Heyde gab es „rufen? nein, wollen!“, wobei sogar eine Windmaschine zum Einsatz kam. Drei Werke mit Solo-Sopran zeigten völlig unterschiedliche Ansätze der Herangehensweise an textgebundene Musik: von Mario Wiegand „Zu Ende glüht ein goldener Tag“ (nach Gedichten von Georg Trakl), von Peter Helmut Lang „Wirklichkeit unser unverlässliches Märchen“ (Rose Ausländer) und abschließend Peter M. Hamels „Die Zeit der Steine“. Franciska Braun lieh diesen Vokalwerken ihre klare, klangschöne Stimme. Ebenfalls im diesem Programm vertreten war Lothar Voigtländers „HIOB III stèle sonore für den Maler Dieter Tucholke“, das der Komponist selbst mit energischem Zugriff dirigierte.
Dass man auch mit Solo-Rezitals ein Publikum bannen kann, bewiesen Egidius Streiff und Carin Levine in höchstem Maße. Beide waren mehrfach in Weimar zu Gast.
Streiff hatte sich ein virtuoses Programm gebaut (Emmanuel Nunes, Yosvany Quintero, Michèle Rusconi, Arno Lücker, Max E. Keller, Jürg Wyttenbach, Achim Müller Weinberg), Levine brillierte auf diversen Flöten mit Klängen, die von der (Noch-)Hörbarkeit bis zum Furioso reichten (Saed Haddad, Eduardo Moguillansky). Offenbar existieren für diese Interpretin keine Genzen der Spielbarkeit.
„Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ ist ein Silhouetten-Animationsfilm von Lotte Reiniger aus dem Jahr 1926. Flache Puppen aus einzelnen ausgeschnittenen Pappteilen wurden für den Film mittels Stop-Motion-Verfahren animiert. Der Film besteht aus insgesamt 96.000 Einzelteilen und ist in fünf Akte gegliedert. Was lag näher, als diese fünf Akte fünf Komponisten anzuvertrauen. So geschah es: Diego Uzal, Elia el Koussa, Gwyn Pritchard, Andrea Cavallari und Rudolf Hild haben etwas geschafft, was für Filmmusik selbstverständlich sein sollte, es aber leider oft nicht ist: Sie haben der visuellen eine klangliche Ebene hinzugefügt welche mehr als nur eine Verdopplung der Bilder ist. Dieser Abend war eines der großen Ereignisse der Weimarer Frühjahrstage, vor allem auch wegen des grandios aufspielenden Ensembles „Marges“. Die Musiker spielten ohne Dirigenten zum Film. Welches Maß an Probenarbeit mag da wohl vorausgegangen sein?
Die Weimarer Frühjahrstage haben sich schon seit mehreren Jahren auch die Nachwuchsarbeit auf die Fahnen geschrieben. Das „Landesjugendensemble Neue Musik Thüringen“ hat sich 2010 gegründet, war zum dritten Mal beim Festival zu Gast. Mit seinem Leiter Juri Lebedev hat sich dieser junge Klangkörper bereits von allen angeblichen oder tatsächlichen Berührungs-ängsten mit zeitgenössischer Musik frei gespielt. Was da an rhythmischen Schwierigkeiten bewältigt wurde (Erik Janson: „Couleurs, nuances ... Silence“, oder Ilias Rachaniotis: „Das Fremde in mir“), was da an kraftvoller Spielfreude auf die Zuhörer übertragen wurde (Hubert Hoche: „The sun is shining over a winter landscape“), berechtigt zu gro-ßen Hoffnungen und weckt Neugier auf neue Exkurse. Ebenfalls zu Gast: das Ensemble für Junge Musik der Musikschule Basel. Die Schweizer haben sich ganz frisch zusammengefunden und haben in Weimar ihr erstes Konzert gegeben (Rudolf Kelterborn, Stav Szir, Christian Asplund, Hansjürgen Wäldele).
Elektroakustische Klänge sind von Anfang an, seit dem Jahr 2000, bei den Frühjahrstagen heimisch. „Stereo-scope“ von Maria Baveli und „ZEITgezeichnet“ von Ralf Hoyer können mit ihren sehr unterschiedlichen Ansätzen gewiss als zwei Werke gelten, die das Feld der „Musik aus dem Lautsprecher“ von ganz unterschiedlichen Seiten bearbeiten, ohne dass man sagen könnte, welcher Weg der bessere ist.
Richtige Partystimmung kam im E-Werk bei den Klangperformances von Tim Helbig, Ludger Hennig, Markus Markowski, Taavi Kerikmäe und Christian Fischer auf. Die Veranstaltungen waren ausnahmslos hervorragend besucht, dabei verfügt der via nova e.V. weder über große logistische noch große finanzielle Mittel, um seine Veranstaltungen zu bewerben. Und auch das Niveau der örtlichen Presse ist keineswegs dazu angetan, dem Festival publizistisch den ihm gebührenden Raum einzuräumen. Es muss also etwas anderes sein: Der Funke springt über! Beharrliches Engagement gepaart mit Liebe zur Sache der Neuen Musik finden Freunde! Vor Ort und anderswo. Ganz sicher auch beim nächsten Mal (3. bis 7. April 2013).