Zum 20-jährigen Jubiläum hat sich Walter Thomas Heyn mit Gerhard Müllritter als Erstes über die Entstehung seiner Internetplattform im Interview ausgetauscht.
Walter-Thomas Heyn: In meiner Heimatstadt Leipzig gab und gibt es eine große Musikbibliothek, die ich seit meinem 14. Lebensjahr alle zwei Wochen besucht habe und taschenweise Noten und Musikbücher hin- und herschleppte. Einen großen Teil meiner musikalischen Allgemeinbildung bezog ich aus dieser Bibliothek. Wie war das bei Ihnen?
Gerhard Müllritter: Auch in München gibt es eine umfangreiche städtische Notenbibliothek. Einer der intensiven Nutzer war ich. Auf der Suche nach neuen, interessanten Werken besorgte ich mir immer stapelweise Klaviernoten und spielte diese durch. Im Zuge dessen fragte ich mich im Jahr 2003, was denn wohl Musiker an Orten machen, in welchen es so eine Bibliothek nicht gibt? Die Antwort lautete damals: Man müsse auf gut Glück Noten kaufen. Zumeist hatte man dann aber keine Ahnung, wie das Stück klingt und ob es überhaupt zum eigenen Schwierigkeitsgrad passt. So kam ich auf die Idee, eine Plattform namens „musikbibliothek.de“ zu gründen. Heute ist die Plattform in drei Sprachen (deutsch, englisch und spanisch) verfügbar und agiert unter dem Namen Musicalion.com. Dieses Jahr feiert Musicalion.com sein 20-jähriges Bestehen!
Damals war die Frage, wie wohl so eine Plattform aussehen müsse. Schnell war die Idee geboren, zu den etablierten Verlagen zu gehen und um Zusammenarbeit zu bitten. Dieses Ansinnen war nicht von Erfolg gekrönt, da die Verlage damals das Internet als ungeeignet empfanden. Eine bessere Bestätigung hätte es für einen Gründer gar nicht geben können, dass man hier als Neueinsteiger eine Chance hat.
Grundkonzept
Heyn: Die meisten Musikverlage, die kleinen wie die großen, haben erstaunlicherweise tatsächlich damals die Digitalisierung nicht besonders ernst genommen. Ich habe in einem großen Musikverlag als Lektor gearbeitet: keiner von uns konnte sich die Geschwindigkeit und den Umfang der technischen Entwicklung vorstellen. Was war denn Ihr erstes Konzept beim Start von Musicalion? Und wo kamen die ersten Noten her?
Müllritter: Mir als Gründer kam meine Erfahrung in der IT-Branche zugute. Ich war hauptberuflich im Bereich Linux, der OpenSource-Konkurrenz zu Microsoft, beschäftigt. Schon damals war im professionellen Einsatz vor allem auf Servern das Betriebssystem Linux zum Einsatz gekommen. Sehr viele Menschen glauben an eine gemeinsam geschaffene Lösung von technischen Aufgaben und tragen ehrenamtlich zur Entwicklung dieses Betriebssystems bei. Nicht der Verdienst steht im Vordergrund, sondern die Haltung, dass man zusammen eine ganze Menge schaffen kann.
So entstand das Grundkonzept von Musicalion: Eine Bibliothek auf Gegenseitigkeit. Wer Noten beiträgt, bekommt kostenfrei Zugriff zu allen Noten und eine Vergütung für jeden Download anderer Nutzer. Wer jedoch nur Noten herunterladen will, zahlt den Beitrag von 29 Euro im Jahr. Ausschließlich mit diesen Einnahmen werden seit 2003 die Weiterentwicklung der Plattform, der Service und die Vergütungen für Notenlieferanten bezahlt.
Ein glücklicher Zufall verschaffte Musicalion damals den Zugriff auf den ersten Notenbestand: Der Hersteller des Notensatzprogramms capella erhielt von eigenen Kunden eine Vielzahl an Noten. capella-software stellte diese auf der eigenen Webseite zur Verfügung. Da die Veröffentlichung von Noten jedoch nicht das eigentliche Geschäftsziel der Firma war, bot sie sie auch Anderen an. Musicalion übernahm diese Werke, und der erste Bestand war gesichert.
Bis heute werden nur Noten veröffentlicht, bei denen auch die originale Notensatzdatei, beispielsweise capella, Finale, Sibelius, Musescore etc. verfügbar ist. Das hat den Vorteil, dass relativ sicher ist, dass der Lieferant das Werk auch selbst gesetzt hat. Zudem kann jeder Nutzer, welcher im Besitz eines Notensatzprogramms ist, die Noten transponieren oder Stimmauszüge erstellen. Jedes dieser Programme kann das eigene Dateiformat auch in das programmübergreifende xml-Format exportieren und das xml-Format importieren. Damit lassen sich diese Dateien in anderen Notensatzprogrammen öffnen. Meistens werden aber die Noten in Form einer pdf-Datei abgefragt, welche ein unveränderliches „Bild“ der Noten liefert.
Technik
Heyn: Vielleicht verraten Sie den Leserinnen und Lesern noch ein paar Details zu den technischen Grundlagen?
Müllritter: Zur Programmierung der Plattform engagierte ich eine indische Entwicklungsfirma. Ich selbst hatte da noch keine Ahnung davon, wie eine ordentliche Programmierung auszusehen hat. Die Plattform fand ziemlich schnell großen Anklang und es kristallisierte sich heraus, dass ein Nerv der Zeit getroffen war. Es wurde aber dann relativ schnell sichtbar, dass die Plattform eine ganze Menge Programmierfehler enthielt. So arbeitete ich mich in die verschiedenen Modelle der Programmierung ein und startete eine internationale Ausschreibung nach neuen Entwicklern. Diese sollten die Plattform erneut erstellen, jedoch diesmal unter nachhaltigen Gesichtspunkten. Die gefundenen Entwickler von damals sind bis heute seit beinahe 20 Jahren in Vollzeit bei Musicalion beschäftigt.
Heute werden immer noch, trotz weitergehender technischer Möglichkeiten, Noten in ausgedruckter Form verwendet. Nach Meinung von Experten wird sich das aber ändern, wenngleich sehr langsam. Immer mehr Musiker führen bereits ihre Konzerte mit Hilfe eines Tablets durch. Einer ist Igor Levit, der immer sein Tablet dabeihat, auch wenn er das meiste natürlich auswendig spielt. Diese Entwicklung hat Musicalion im Blick und offeriert heute schon optimierte Ausgabeformate je nach Geräteart, mit der man Musicalion besucht. Die Werke werden jeweils für Computer, Smartphone oder Tablet optimiert ausgegeben. In diesem Bereich wird es sicherlich noch zu Weiterentwicklungen kommen. Darum ist es mir klar, dass der Auftrag zur Weiterentwicklung der Plattform auch in Zukunft gegeben sein wird, um auch da den bestmöglichen Service zu bieten.
Üben mit Musicalion
Heyn: Gibt es denn auch Anwendungen auf der Plattform, die den nicht-notensetzenden Musikschullehrer oder Musiker interessieren könnten?
Müllritter: Für solche Nutzer haben wir zwei Angebote. Ein digitaler Service auf der eigenen Plattform von Musicalion ist heute schon sehr gefragt: Die Webseite wird ausgiebig zum Üben verwendet. Alle 67.000 Noten sind mit dem sogenannten Musicalion-Player ausgestattet. Er muss nicht installiert werden, sondern ist Bestandteil der Webseite. Damit kann der Nutzer sich die Noten abspielen lassen und dabei jede Stimme einzeln mit einer eigenen Lautstärke aussteuern. So kann der Sopran zum Beispiel seine Stimme mit einer leiseren Alt-Stimme unterlegen oder nur die Bass-Stimme dazu spielen, ganz wie es gerade für das Üben günstig erscheint. Daneben kann man sich die Noten auch höher oder tiefer, langsamer oder schneller vorspielen lassen oder auch z.B. nur einen kleinen Teil in der Mitte immer wieder anhören.
Diese Funktion ist bei Chören sehr beliebt. Manch ein Chorleiter hat bis dahin aufwändig CDs oder mp3-Dateien produziert, bei der die Einzelstimmen abspielbar sind. Dabei kann der fleißige Chorleiter natürlich unmöglich auch die vielen Kombinationsmöglichkeiten (nur Sopran, Sopran und Alt, Sopran und Bass mit Orgel etc.) berücksichtigen, welche sinnvoll wären. Die Aufnahmen machen also viel Arbeit und bieten begrenzten Nutzen. Den Musicalion-Player können die Musicalion-Mitglieder nutzen. Wenn nun ein Chorleiter seinem gesamten Chor ebenfalls die Möglichkeit zum Üben geben möchte, dann kann jedes Chormitglied auch eine Mitgliedschaft bei Musicalion abschließen. Für 29 Euro im Jahr ist das nicht teuer. Der Leiter eines Ensembles kann seinen Musikern aber auch die kostenlose Nutzung des Musicalion-Players ermöglichen:
Webvisitenkarten für Musiker auf Musicalion
(Müllritter) Das zweite Angebot für alle Nutzer besteht in der Möglichkeit, sich mit einer eigenen Webpräsenz darzustellen. Musicalion bietet Musiker*innen also nicht nur Noten an, sondern auch die Möglichkeit, sich ausführlich selbst zu präsentieren. Die Webseite wird auf dem Musicalion-Server bereitgestellt, der Seitenname ist frei wählbar. Die Webseite lässt sich im Baukastenprinzip sehr leicht anlegen. Mit ein paar Klicks kann man Veranstaltungen, Newsletter, Repertoire und was man sonst von sich gerne veröffentlichen möchte, einbringen. Die Besonderheit ist, dass die Musikerwebseite auch einen internen Bereich anbietet. Hier können sich die Mitglieder des Ensembles für den Zugang bewerben, der Chorleiter gibt ihn frei. Wer Zugang zum internen Bereich hat, der kann auch auf Musicalion überall den Musicalion-Player nutzen. Im internen Bereich können sich aber auch die Nutzer unter Ausschluss der Öffentlichkeit austauschen, Dokumente zur Verfügung stellen, Kontaktadressen der anderen Ensemblemitglieder einsehen und sich über jede Neuerung benachrichtigen lassen. Die Webpräsenz auf Musicalion ist im Jahresbeitrag von 29 Euro enthalten.
Einbindung in andere Webseiten und Dienste
Heyn: Wie sieht es mit der Vernetzung aus? Die digitale Welt wächst ja immer mehr zusammen…
Müllritter: Musicalion möchte die Noten und seine Technik nicht nur auf der eigenen Plattform nutzbar machen. Notensetzer und Komponisten, welche ihre Noten bei Musicalion veröffentlichen, können mit ganz wenig Aufwand die Auflistung, Notensuche und Notendarstellung von Musicalion auf ihren eigenen Webseiten einbinden. Wenn also ein Komponist eine eigene Webpräsenz hat, dort aber auch die eigenen Noten anbieten will, kann er sich den Aufwand einer eigenen Programmierung hierfür sparen. Musicalion bietet eigene Technik für fremde Plattformen an. Ebenso gibt es eine Schnittstelle für Anbieter von Notendarstellungsprogrammen zur Veröffentlichung von Noten. Die Programmierung für dieses Angebot war für Musicalion recht aufwändig. Aber es hat sich gelohnt, denn die Nutzung für andere ist deswegen sehr einfach geworden. Hier greift wieder das Musicalion sehr wichtige Prinzip der Gegenseitigkeit.
Wo bleibt der herkömmliche Printverlag?
Heyn: Wagen wir einen Blick in die Glaskugel: Wie sehen Sie die Entwicklung der Musikverlage und wie schätzen sie die Lage der Komponistinnen und Komponisten in Gegenwart und Zukunft ein?
Müllritter: Notenverlage sind seit hunderten von Jahren damit beschäftigt, Komponisten unter Vertrag zu nehmen und zu verlegen. Die handschriftlichen Manuskripte waren damals kaum zur Verbreitung geeignet, also brauchte es eine Instanz, welche sich um Lesbarkeit und Verbreitung kümmerte. Diese Ausgangssituation hat sich mittlerweile grundlegend geändert. Heutige Komponisten schreiben ihre Musik bereits selbst mit speziellen Notensatzprogrammen auf und legen die Optik für den eigenen Notensatz fest. Der Verkauf findet mittlerweile auch hauptsächlich über das Internet statt. Es stellt sich nur noch die Frage, ob man die Noten selbst ausdrucken oder ein ordentlich gebundenes Exemplar haben will. Bei letzterem sind die Printverlage immer noch gefragt. Doch auch da sind bereits spezialisierte Unternehmen unterwegs, welche einen reinen Notendruckservice anbieten.
Mit klassischen und angesehenen Printverlagen verbinden Komponisten auch heute noch die Hoffnung, dass diese nicht nur Produktion und Verkauf übernehmen, sondern auch aktiv die Vermarktung betreiben. In der Regel ist dies aber nicht der Fall. Bei zeitgenössischen Werken ist der Komponist immer noch selbst gefragt, eigene Netzwerke und Beziehungen aufzubauen, damit sein Werk auch aufgeführt wird. Meiner Meinung nach gibt es aber für herkömmliche Printverlage genau hier immer noch ein sehr großes Potenzial, um den Verdienst der Zukunft zu sichern. So etwas kann ein Internetauftritt nur beschränkt bewerkstelligen. Dieses „Geschäft“ ist immer noch bestimmt durch den persönlichen Kontakt.
Heyn: Ich habe um dieses Interview gebeten, weil ich Musicalion den Mitgliedern des DTKV zur aktiven Nutzung empfehlen möchte. Ich gehe davon aus, dass sich im Verband dutzende, wenn nicht hunderte Mitglieder befinden, welche für ihre Schüler, ihre Ensembles, ihre eigenen Konzertprogramme und Projekte Noten setzen und/oder auch Noten suchen. Ich zum Beispiel habe auf Ihrer Website eine ganz seltene Händelarie in einem gut lesbaren Notensatz gefunden, die es noch nicht einmal auf der sicher allen Musikern bekannten IMSLP-Website gab. Ich habe auch den Shop ausprobiert und auch der funktionierte tadellos.
Für die Mitglieder sehe ich eine ganze Menge Möglichkeiten, sich einerseits die mühevolle Suche nach Noten zu ersparen, vor allem aber andererseits die eigenen Notensatzschätze, an denen man stunden- und jahrelang sitzt, die oftmals nur für ein Konzert gebraucht werden und die danach bei vielen festplattenweise vor sich hinschlummern, einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die „Bibliothek auf Gegenseitigkeit“, von der Sie oben sprachen, scheint mir ein attraktives und zukunftsweisendes Projekt zu sein und entspricht aus meiner Sicht auch dem Verbandsprinzip, gemeinsam zu handeln und sich gegenseitig zu unterstützen. Prosit auf die nächsten 20 Jahre!