Das Festival „Neues Lied“ in Würzburg ging im Dezember 2021 trotz der pandemischen Einschränkungen in die dritte Runde. Programmatisch wurde die Lust auf Neues mit der Freude am Singen vermittelt. Das Festival zielte darauf, Brücken zu schlagen zwischen den unterschiedlichen Liedkulturen und den Hörern und Hörerinnen, die unmittelbar von unerhörten musikalischen Erfahrungen berührt werden können.
Der erste Abend im Toscanasaal der Würzburger Residenz verband das traditionelle Singen mit kompositorischen Aktualisierungen aus dem 20. Jahrhundert. Benjamin Britten steht mit seinen geradezu systematischen Auskomponierungen britischer Folksongs in einer langen Tradition von Volksliedbearbeitungen. Der Bariton Jonas Müller sang eine charakteristische Auswahl mit elastischer Stimme und szenischer Prägnanz. Während wir Ravels Fünf Griechische Volkslieder einer ethnomusikologischen Anregung verdanken, sind die sieben tschechischen Volkslieder von Pavel Haas aus dem Lager Theresienstadt als existenzielle Selbstbehauptung eines tschechischen Komponisten zu verstehen, der von nationalsozialistischen Menschenverächtern auf seine jüdische Identität reduziert werden sollte. Sohee Seo sang beide Gruppen in der Originalsprache, mit feingeführtem Sopran und hoher Liedkultur. Theresa Maria Romes gab den „Fünf Schwarzen Liedern“ von Xavier Montsalvatge eine Stimme voll Mitgefühl und Auflehnung, die nachdrücklich die politische Dimension des Volkslieds betonten.
Im Kulturspeicher der Stadt Würzburg wurde eine weitere Brücke geschlagen, diesmal von der Welt der antiken Dichtersängerin Sappho zur aktuellen Musik, was von den Sängerinnen Theresa Maria Romes, Isabel Pfefferkorn und Marzia Marzo mit der Klavier-Begleitung von Esthea Kruger auf faszinierende Weise vergegenwärtigt wurde. Nach der Begegnung mit den starken Sappho-Vertonungen von Wilhelm Killmayer, die in gleichsam traditionellen Sinn „neues Lied“ darstellen, und denen von Claus Kühnl und Luca Lombardi kamen drei Sappho-Fragmente von Michael Gredler zur Uraufführung. Mit konsequenten Materialentfaltungen entwickelte Gredler aus dem Tasteninstrument und der Sprache drei teils spektrale Klangbilder, die den fernen Texten eine unmittelbare Wirkung gaben. In dem besonderen funktionalen Raum des Museums-Foyers hinterließ die Aufführung im Hören die „fließenden Spuren“, die das Motto des Konzerts versprochen hatte.
In einem dritten Konzert im Großen Saal der Hochschule für Musik Würzburg umkreisten Christina Landshamer und Gerold Huber mit ihrem Programm die weibliche Stimme. Ausgehend von Schumanns Liederkreis auf Gedichte von Eichendorff, der von seinen prominenten Zyklen am wenigsten ein einziges männliches lyrisches Ich suggeriert, brachten sie Liederzyklen auf Gedichte von Frauen zu Gehör. Acht Vertonungen der Gedichte von Emily Dickinson durch Aaron Copland stellten dabei einen naturmystischen und hymnischen Ton in den Vordergrund, während die von Viktor Ullmann zum Klingen gebrachten Drei Sonette aus dem Portugiesischen von Elizabeth Barrett Browning in der Übersetzung von Rilke die Stimme leidenschaftlich bis zur Dramatik erhoben. Landshamer präsentierte die Lieder mit großer Prägnanz vom feinsten Lyrismus bis zur großen opernhaften Geste, getragen von Hubers Klavierspiel, das sich farblich und gestisch bis zum akustischen Bühnenraum erweiterte.
Einen Brückenschlag besonderer Art leisteten die Adaptionen von Mendelssohns Liedern, die Aribert Reimann unter dem Titel „…oder soll es Tod bedeuten?“ für die Begleitung eines Streichquartetts und mit hinzukomponierten Zwischenspielen vorgelegt hat und die im Fokus des letzten Konzerts standen. Das Zeiher-Quartett aus Musikern der Würzburger Philharmoniker begleitete im Konzertsaal der Domschule Silke Evers, die Mendelssohns Lieder mit ihrem Sopran beseelte. Ein weiterer Höhepunkt des Abends war Heinz Holligers Komposition „Reliquien“, die auf ätherisch-schattenhafte Weise eine Erinnerung an die Musik Franz Schuberts aufbewahrte, die zum Schluss des Abends noch leibhaftig mit dessen Hirt auf dem Felsen für Sopran (Sohee Seo), Klarinette (Claudia Mendel) und natürlich die unermüdliche wie unerlässliche Esthea Kruger am Klavier erklang.
Wie das Lied, alt und neu, an sich eine Art Mikrokosmos der Musikkultur bildet, so ist das Festival „Neues Lied“ inzwischen mehr als nur eine sorgfältig kuratierte Ökonische für besondere Konzerte in Würzburg geworden. Es ist ein großartiges kleines, dichtes Fest für besondere musikalische Erlebnisse, bei dem unterschiedliche musikalische Lebenswelten zusammenkommen. Dass das als offensichtlicher Einfraubetrieb von der Erfinderin, Organisatorin und Pianistin Esthea Kruger mit Unterstützung des Tonkünstlerverbands ermöglicht wird, grenzt an ein Wunder, an das man auch in diesem Jahr wieder glauben möchte.