Den Tod von Georg Christoph Biller zu verwinden, ist schwer: obwohl er einige Jahre jünger war als ich, kam er mir immer vor wie der ältere Bruder, weise und in sich ruhend und manchmal den Irrungen und Wirrungen der Jugend mit nachsichtigem Lächeln eine kleine Ermahnung mitgebend. Seine hervorragenden Leistungen, solistisch, aber auch mit dem wunderbaren Thomanerchor und mit dem Gewandhausorchester setze ich als allgemein bekannt voraus. Wir hatten den gleichen Hauptfachlehrer, besuchten die gleiche Hochschule und die Leipziger Innenstadt war klein. Trotzdem sind wir uns nur selten begegnet. Man muss die Stadt Leipzig in den 70iger und 80iger Jahren des vorigen Jahrhunderts mitbedenken (was für eine Zeitdifferenz: mir wird beim Schreiben ganz rührselig…): Leipzig war eine Stadt mit einer sprudelnden Kulturszene, mit einem halben Dutzend Kirchen samt intensivem Musikleben, mit 4 Theatern und zwei sehr politischen Kabaretts; mit einer aktiven Szene der Neuen Musik mit Burkhart Glaetzner und Friedrich Schenker, mit bedeutenden Dirigenten wie Kurt Masur am Gewandhaus, Rolf Reuther am Opernhaus und Herbert Kegel am Rundfunkorchester. Dazu kamen alle wesentlichen Musikverlage des Landes, Dutzende Literaturverlage, zwei internationale Messen pro Jahr, viele Galerien und die leistungsfähige Hochschule für Musik. Das war unser aller Tempel, in dem Professor Siegfried Thiele sein durchdachtes und eindrucksvoll weitgespanntes Netz des Wissens fördernd und fordernd über uns Dirigier- und Kompositionsstudenten legte.
I – ein Name wie ein Fels
Georg Christoph Biller, das ist ein Name wie ein Fels. Die Namensgeber der Vornamen rufen deutliche Zeichen auf: Georg, der Drachentöter, der später den Märtyrertod erlitt und Christoph, der das Jesuskind durchs Wasser tragende Riese. Das Gegenstück im wirklichen Leben, nämlich der Mensch Biller, war eher weniger heroisch, sondern einfach und von vollendeter Freundlichkeit, wenigstens mir gegenüber. Mir war immer, als würde ich ihn ewig kennen und ich redete auch so mit ihm. Ich brauchte Jahre, um zu bemerken, dass hinter den sanften Formulierungen durchaus auch ernsthafte und wohldurchdachte Ideen und Strategien standen.
Für mich kleinen Leutzscher Jungen, der ich einen blitzsauberen Knabensopran hatte und im Schulchor die Soli sang war klar, dass ich als Kind immer Mitglied in diesem berühmten Chor sein wollte. Die Geschichte muss ablenkenderweise erzählt werden: Meine Mutter, eine arme Schneiderin war in die Partei eingetreten, damit ich in der Schule Vorteile hätte. Als sie verstanden hatte, dass ich in den Thomanerchor wollte, trat sie aus der Partei aus und in die Kirche ein. Ich fiel leider durch den Eignungstest, denn ich konnte keine Intervalle singen. Ich wusste nicht, was Intervalle sind und es sagte mir auch keiner, denn Nachhilfe oder Vorbereitungskurse gab es damals noch nicht. Biller war dann 15 Jahre später so eine Art virtueller „Großer Bruder“, der eben das erlebt und gelebt hatte und weiterlebte und erlebte, was ich auch gern erlebt hätte.
Wir lernten uns 1976 oder 1977 in der Hochschule kennen. Ich mochte ihn sofort. Wir Kompositionsstudenten, von einem strengen, aber unglaublich fähigen und kenntnisreichen Professor sowie von der schieren Masse des zu bewältigenden Stoffes stark gefordert, hasteten durch das Studentenleben, als wären wir auf der Flucht. Biller dagegen setzte dem Trubel Gelassenheit und heiteren Gleichmut entgegen. Irgendeines schönen Tages im Kompositionsunterricht fragte einer meiner Kommilitonen den Professor, wie man das so macht mit den Zwölftonreihen und wie man das Material disponiert. Thiele blieb lange stumm und sagte dann: „Euch fehlt allen die Erfahrung des Singens“. Ich erzählte Biller davon, der wiederum mir erzählte, dass es bis zum Zweiten Weltkrieg für jeden Kompositionsstudenten Pflicht war, je ein Semester Liedkomposition und Chorkomposition zu belegen. Es gab spezialisierte Lehrer dafür: (wieder eine Tradition, die vernichtet ist…) Dann kamen wir aufs Blattsingen und von da auf eine Partitur von Kodály, in der der Komponist im zweiten Bass ein tiefes As verlangte. Biller sagte: „Ich kann den Ton gar nicht singen, aber ich kann ihn so vermitteln, dass die anderen ihn hören und auch singen können.“ Er führte es mir vor, und obwohl er ihn wirklich nicht singen konnte, konnte ich den Ton trotzdem ein bisschen hören, so überzeugend war die Demonstration und so stark die willensmäßige Ausstrahlung.
II – das singen wir vom Blatt
Eines Tages hatte ich eine Kantate fertig, die „Neun Kontrapunkte zum Thema Geschichte“ nach Texten des wunderbaren Leipziger Lyrikers Andreas Reimann. Diese Kantate für ein kleines Studentenorchester brauchte einen Chor, und mir wurde Biller empfohlen, der „mit seinen Leuten „sowas“ schnell mal produziert“, falls er Zeit hat. Wir lernten uns also über drei Ecken kennen; er blickte neugierig, aber auch sehr kurz in meine in monatelanger Handarbeit verfertigte Partitur, sagte nicht unfreundlich: „Ja, das singen wir vom Blatt“ und verschwand. Ab und zu erkundigte ich mich bei Mitstudenten, ob die Sänger meine Kantate proben würden und erhielt Auskünfte wie „ja, sie haben sich wohl einmal getroffen“ oder „Nein, sie werden das noch machen“. Heute würden mir die Haare zu Berge stehen, aber damals war ich komplett unbesorgt. Und tatsächlich standen alle pünktlich im dem traumhaft schönen Saal des Leipziger Rathauses, sangen alles vom Blatt und Biller selbst sprach mit Stentorstimme einige Sätze von Heine und Baudelaire ins musikalische Getümmel. Heute noch wundere ich mich, dass diese Schar mutigen junger Leute da mitgemacht, aber auch Sätze wie: „Den woll´n wir loben / der sich überwand / der Himmel ist viel zu weit oben / Wir woll’n bestehn / auf gegründetem Land“ tatsächlich gesungen haben. Der manchmal etwas angetrunkene Rundfunktonmeister von Radio DDR II, sagte danach zu mir: „Ihr Stück ist Mist, aber der Chor war gut“. Der von mir sehr geschätzte Mann hieß Günther Czech und seine analogen Aufnahmen klingen heute nach 40 Jahren immer noch ausgezeichnet.
20 Jahre später, in den bewegten Nachwendejahren, wanderte diese Aufnahme zusammen mit der Kantate Nr. 2, die Andreas Reimann „Der Leipziger Ring“ tituliert hatte und die Geschehnisse der Leipziger Revolution noch einmal aufgegriffen hatte, auf eine CD des MDR in der Reihe „Dokumente zur mitteldeutschen Musik- und Rundfunkgeschichte. Also, wir hatten zusammen Musik- und Rundfunkgeschichte geschrieben…
III – alte deutsche Kapellmeistertradition
Danach trafen wir uns eher sporadisch. Einmal erzählte mir Biller von seiner Dirigierprüfung bei den Professoren Reuther und Masur, die nicht sangen, weil er nicht „zwingend“ genug angeatmet hatte, und wie er danach im 12-Achtel Takt auf jeder einzelnen Achtelnote eine Fermate dirigieren musste, was er anerkennend mit „alte deutsche Kapellmeistertradition“ einstufte. Dann wiederum vermittelte er Arrangementsjobs für einzelne Gesangsensembles, die sich schon damals um den Thomanerchor herum bildeten. So kam ich in Kontakt mit Arion, für die ich die „Wilde Mathilde“, ein Lied von Tamara Danz und etliches andere für diverse Gesangsquintette zusammenbastelte, was spannend war, weil diese Sänger alles singen konnten und weil das Ergebnis ausgesprochen lustig klang.
Eines Tages wünschte das Fernsehen eine Fassung von „Alt wie ein Baum“ von den Pudhys für die Jugendsendung RUND in verschiedenen Stilkopien. Auch das hatte Biller vermittelt. Die Variation im Stil der Zauberflöten-Ouvertüre gefiel besonders. Ob Biller bei der Fernsehaufzeichnung dabei war, weiß ich gar nicht mehr. Aber die gelangweilten und genervten Pudhys sehe ich heute noch bei der Aufzeichnung im Studio sitzen: Es muss eine Qual für sie gewesen sein… Aber so lernte ich einige Mitglieder der Gruppe Amarchord kennen, die später zu einem namhaften, international erfolgreichen Gesangsensemble sich mauserten, und für die ich die Ehre hatte, für die erste CD eine Klassikparodie mit dem schönen Titel „Die ratlosen Götter oder Liebe ist nicht immer blind“ zu schreiben. In den Noten habe ich später gesehen, wie geschickt sie Töne umgestellt, Stimmen getauscht und überflüssige Dopplungen rausgestrichen hatten. Ich bin heute noch ihr Fan und kaufe fast jede CD.
IV – Große Oper
Kurz vor der Wende trafen wir einmal im Rundfunkstudio aufeinander. Der Sender Leipzig hatte meine 5 aphoristischen Lieder auf Texte der Anna Achmatowa für eine Produktion ausgewählt und Biller als Solisten gewinnen können. Mir als gegen-den-Staat-löcken-wollender Kleinstrevolutionär war damals alles Widerstand, Rebellion, Anklage, also große Oper. Aber Biller sang die Lieder eher wie ein Schumann-Lied, lyrisch und zurückgenommen. Mir gefiel das nicht so, aber heute denke ich, dass seine Interpretation die klügere war, weil zeitlos und über dem Tagesgezänk stehend. Dann war Wendezeit, Hoffnungszeit, Entäuschungszeit, neue Zeit. Ich zog nach Berlin.
Doch einmal trafen wir uns wieder zum Gedenkkonzert für den Superintendenten Johannes Richter. Das Konzert fand 2004 im Forum Thomanum statt. Es spielte die Kiewer Kammerakademie, unter anderem eine „Streichmusik in drei Teilen“ des Leipziger Komponisten Günter Neubert und ein „Concerto Grosso“ für Flöte, Cembalo, Fagott und Streicher des Hallenser Komponisten Thomas Buchholz. Ich hatte Biller eine Einladung geschickt und er war hilfsbereit wie immer. Als ich die riesige, damals noch nicht renovierte Lutherkirche von innen sah, sagte ich mit leiser Befürchtung: „Ob wohl genug Menschen kommen werden?“. Billers Antwort: “Ob die Leipziger kommen, weiß ich nicht, aber die Thomaner werden kommen“. Und sie kamen: etliche Reihen voll von kleineren und größeren Jungs. Und sie alle wurden bis zum Konzertanfang immer wieder von Biller altväterlich ermahnt und zum immerwährenden Lernen und Studieren angehalten, zum Kümmern und zum Tätig-Sein.
Ich hatte das schon mal in ähnlicher Form erlebt, am schönsten Ostseestrand, als wir ferienmäßig eine Schaluppe zur Ostseerundfahrt bestiegen, die auch Pfarrer Schorlemmer aus Wittenberg mit einer Gruppe seiner Gemeinde bestieg. Ohne einen einzigen Blick auf die Naturschönheiten und das Schiff zu werfen, setzte sich Schorlemmer in die Mitte, öffnete die Bibel und las alle Stellen vor, die mit Meer, Seefahrt, Walfischbauch usw. zu tun hatten. Wir fanden das sehr eindrucksvoll, wenn auch komplett aus der Zeit gefallen. Das sind die Apostel der Gegenwart, dachte ich damals, diese vielwissenden, unbekannten Männer, die keine Sekunde verschenken wollen, um ihre Mission zu erfüllen.
So erschien mir auch Biller damals später in der Lutherkirche. Er war liebevoll zu seinen kleinen Sängern, aber auch streng und ein bisschen unnahbar und sprach gleichzeitig auch hoch über ihren Köpfen, als wenn einer, der schon auf dem Weg ist, den Zurückbleibenden zuruft: Denkt an dies und denkt an das und macht das Fenster regelmäßig auf und lest folgende Bücher… Er kam mir schon ein kleines bisschen entrückt vor, obwohl er ganz nah und zugewandt war und wir haben uns nie wiedergesehen. Nun ist er vorausgegangen …