Banner Full-Size

Das war mein zweitbester Sommer

Publikationsdatum
Body

„Das war mein zweitbester Sommer / Ich schlürfe ihn aus bis zum letzten Zug / Ich will das alles hier haben / Und immer wieder und nie genug“, sang Gerhard Gundermann auch auf seinem letzten Konzert in dem kleinen Örtchen Krams. Kurze Zeit danach war er tot. Aber seine Lieder leben fort und seine oftmals gebrochene Lebensgeschichte hat ihn offensichtlich zum Symbol werden lassen. Jedenfalls im Fernsehen. In den Tagen um den 3. Oktober herum gab es Gundermann auf allen Sendern: als Film, als Doku, als Zitat und als Erinnerung. Das ist gut und schön und sicher auch richtig. Was nicht mehr zu sehen war, das war das Volk. Auch von den sechs tapferen Leipziger Bürgern um Kurt Masur, die durch eine kluge öffentliche Wortmeldung das Blutvergießen verhindert hatten, war nichts mehr zu hören und zu sehen. Das könnte vielleicht an der Jahreszahl liegen. Denn die friedliche Revolution war 1989 und das war der allerbeste Sommer, den es je gegeben hat.

30 Jahre soll das schon her sein? Dieser Wirrwarr aus Hoffnungen, Träumen, Utopien und knallharten Realitäten, der 17 Millionen Leben umgekrempelt hat und später als Fußnote der deutschen Nationalgeschichte wahrscheinlich kaum 20 Zeilen umfassen wird. Diese Hoffnungen und Träume hat es alle gegeben, und die zahlreichen Kränkungen und Zurückstellungen und Entwertungen „danach“ auch. Alle haben sie erlebt und vielleicht konnte es auch nicht anders sein. Denn niemand hatte Erfahrungen mit einem derartigen Umbau. Diese massenhaft erlebte subjektive Erfahrung der Zurückweisung und Degradierung ist aber meiner persönlichen  Meinung nach der Urgrund für die Härte und Gefühllosigkeit, mit der heutzutage der öffentliche Diskurs allenthalben geführt wird und es ist die Ursuppe für allerlei rechtsradikale Umtriebe in dieser doch sehr bürokratisierten und komplexen Gegenwart: Der ganze historische Dreck muss halt immer wieder aufs Neue aufgearbeitet werden.

Aber man stelle sich nun mal folgendes Gedankenexperiment vor: Die von Churchill 1943 erwogene Teilung von Deutschland in der Mitte, also nicht längs, sondern quer, hätte dazu geführt, dass Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, und Teile Nordrhein-Westfalens, also das Umland von „Preußen“ unter die kommunistische Diktatur gekommen wären und Baden-Württemberg, Bay­ern, Teile Sachsens und Thüringens, Österreich und Ungarn die „alte“ BRD gebildet hätten. Meine Heimatstadt Leipzig wäre von den Amerikanern befreit worden; ich wäre also schon immer „Wessi“, oder genauer gesagt „Südi“ gewesen. Und meine Kollegen und Freunde aus Bremen, Hamburg und dem Ruhrgebiet wären „Ossis“, also „Nordis“ geworden. Und dann hätte zunächst Wolf Biermann Hamburg in Richtung München verlassen und sein berühmtes erstes Konzert in Köln am 13. November 1976 hätte in Leipzig stattgefunden. Und dann hätten im Laufe der Zeit drei bis fünf Millionen „Nordis“ einen Ausreiseantrag in das kapitalistische Südland gestellt, das Nordland wäre zusammengebrochen und die Wende wäre dagewesen. Glaubt irgendjemand, dass diese norddeutschen Neubürger ein Fetzchen besser behandelt worden wären? Ich glaube das nicht.

Ich hatte das andere Land zwei Jahre vorher schon besuchsweise erkunden dürfen. Das war 1986 während der ersten Münchener Opernbiennale, die der Komponist Hans Werner Henze ins Leben gerufen hatte. Wir drei jungen Leute waren als Delegation des Komponistenverbandes (Abt. Nachwuchsförderung) ohne einen Pfennig Geld losgeschickt worden. Die netten Mitarbeiter in München versorgten uns mit Lebensmitteln und besorgten Fahrkarten für den Nahverkehr. Und der Hausmeister im traumhaft gelegenen Gästehaus in Feldafing sagte statt „Guten Tag“: „Ihr fahrt doch wieder hoam, gelt?“ Aber auch diese Szene hat es wirklich gegeben: Die nette Dame im Café des Pressebüros, die den Ossis Arbeitsstellen anbot, falls wer bleiben möchte. Bei mir waren zwei feste Stellen im Angebot (sofort) und eine, eine Lektorenstelle bei einem namhaften Verlag, war richtig attraktiv. Aber ich war gut erzogen und hatte Familie.

Nach der Wende entstanden ziemlich schnell die neuen Bundesländer und es begann sofort ein Hauen und Stechen um die besten Plätze an den neuen Futterkrippen. Wir Leipziger Musiker gründeten sofort einen Stadtmusikrat, weil wir den Dresdnern nicht zutrauten, uns genügend vom Kuchen abzugeben. Auch die Kämpfe zwischen Schwerin und Rostock und zwischen Magdeburg, Halle und Dessau hatten es in sich. Zugleich bildete sich in Leipzig ein neuer Komponistenverband, der Sächsische Musikbund, den es heute noch gibt. Überall entstanden solche Vereine, weil die neue Kulturförderung Ländersache war und nur dort ein paar Förder-Westpfennige zu holen waren. Zugleich war das neue Verteilprinzip das Ende der großen, staatlich gelenkten Künstlerverbände, die damit keine Funktion mehr hatten.

Was bleibt? Die Kumpels von einst sind C-4-Professoren geworden oder arbeitslos oder verbeamtet oder sie schlagen sich halt so durch. Manche sind schon tot, einige bauen. Andere reisen mehr oder weniger verschämt intensiv durch die Welt. Aber eindeutig gibt es unendlich mehr Wendegewinne als Wendeverluste. Ironie der Geschichte: Die alten Kämpfe und  die alten Widersprüche  werden überlagert durch das Weltgeschehen, durch die Pandemie und durch die teuflischen Klimaprobleme. „Alle, die von Freiheit träumen, / Sollens feiern nicht versäumen / sollen tanzen, auch auf Gräbern“. schrieb Marius Müller-Westernhagen vor Jahrzehnten. Das soll nicht zynisch klingen in Zeiten von Covid-19. Das blöde Virus  hat sowieso allen den Spaß am Feiern vermiest. Doch auch ich als alter Leipziger Bürgerrechtler kann es nicht anders ausdrücken als der Düsseldorfer Rockmusiker auf seinem Album „Ganz und gar“ von 1987: „Freiheit, Freiheit, ist das einzige, was zählt“.

 

Print-Rubriken
Unterrubrik