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Daten aus dem Musikleben lebendig machen

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Stephan Schulmeistrat vom Musikinfomationszentrums (miz) über einen ganz besonderen Service
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Regelmäßig bereitet das Deutsche Musikinformationszentrum (miz) Zahlen zum Musikleben in Deutschland in grafischen Darstellungen auf, die als so genannte Infoposter beim miz bestellt werden können – zuletzt „Am Pult der Zeit“ zur Geschlechterverteilung in Orchestern und „Bühne frei für Vielfalt!“ zum aktuellen Opernrepertoire. Wir sprachen mit dem Leiter des miz, Stephan Schulmeistrat, über die Idee hinter der Serie und das neueste Poster „Stadt, Land, Flöte“ zum Amateurmusizieren.

neue musikzeitung: Wie kam es zu dieser Form des Infoposters?
Stephan Schulmeistrat: Zu den zentralen Aufgaben des miz – wir sind eine Service-Einrichtung des Deutschen Musikrats – gehört es, statistische Daten zum Musikleben zu recherchieren, aufzubereiten und zu vermitteln. Auf unserer Website www.miz.org findet man daher über 100 solcher Darstellungen, zum Beispiel zum Amateurmusizieren, zu Studiengängen für Musikberufe oder zur sozialen Lage von Kreativen. In der Regel bauen wir dabei auf Daten verschiedener Fachverbände auf oder werten Publikationen des Statistischen Bundesamts, der Künstlersozialkasse und vieler anderer Institutionen im Hinblick auf ihre Aussagekraft zum Musikleben aus. In einigen Bereichen erheben wir aber auch selbst, nämlich immer dann, wenn uns auffällt, dass es zu wichtigen aktuellen Themen kein verlässliches Material gibt. So sind unsere letzten beiden Studien zum Amateurmusizieren und zur Geschlechterverteilung in Berufsorchestern entstanden.

Statistisches Material ist per se erst einmal recht trocken, und es fällt nicht immer leicht, aus Zahlenkolonnen die mitunter höchst spannenden Ergebnisse herauszulesen. Das möchten wir mit den Infografiken ein Stück weit ändern und im wahrsten Sinne des Wortes augenscheinlich machen, was auf den ersten Blick nicht unmittelbar sichtbar ist.
nmz: Können Sie uns ein Beispiel dafür geben?
Schulmeistrat: Besonders anschaulich ist vielleicht die Hauptgrafik auf dem Infografikposter zur Geschlechterverteilung in Berufsorchestern. Hier haben wir mit stilisierten Figuren gearbeitet, die aus zwei Spitze an Spitze gestellten Dreiecken bestehen. Das obere Dreieck symbolisiert die Anzahl der Musiker, das untere die der Musikerinnen. So entsteht ein optisches Spiel: Je größer die oberen Dreiecke sind, desto „männlicher“ wirken die Figuren, und je größer die unteren Dreiecke sind, desto „weiblicher“ wirken sie. Das haben wir nicht nur für alle Orchesterinstrumente durchexerziert, sondern auch für die einzelnen Dienststellungen im Orchester. Wir haben also nicht nur gefragt, wie viele Frauen und Männer spielen Violine, sondern auch, wer von ihnen spielt die erste Geige? Und da zeigt sich: Im Tutti ist das untere „weibliche“ Dreieck sehr groß, weil dort fast doppelt so viele Frauen spielen wie Männer, und in der ersten Geige ist es das obere „männliche“. So wird die Geschlechterverteilung sehr anschaulich vor Augen geführt.
nmz: Was ist das Ziel der Infografikposter? Wen sprechen Sie damit an?
Schulmeistrat: In erster Linie möchten wir bestimmte Kernbotschaften vermitteln, aber daneben geht es uns auch um eine möglichst große Informationstiefe. So gibt es auf der Rückseite jeder Ausgabe begleitende Beiträge, die die Daten analysieren und Hintergründe erklären. Wir richten uns damit vor allem an ein Fachpublikum, und diesem Fachpublikum möchten wir etwas Neues mitteilen. So haben sicher viele Experten geahnt, dass mehr Männer als Frauen erste Geige spielen, aber wie groß der Unterschied wirklich ist, erfahren sie erst durch das Poster. Im besten Fall unterstützen wir mit unseren Untersuchungen also den kulturpolitischen Diskurs, indem wir valide und anschauliche Datengrundlagen schaffen.
nmz: Neben der Geschlechterbesetzung an den Pulten in Orchestern ging es 2021 auch um das Opernrepertoire und zuletzt um das Amateurmusizieren – was sind darüber hinaus Themen, die Ihnen und Ihrem Team am Herzen liegen?
Schulmeistrat: Uns liegen sehr viele Themen am Herzen, aber Voraussetzung für ein Infografikposter ist immer, dass sich Themen auch statistisch greifen lassen, denn die Serie heißt ja „Musikleben in Zahlen“. Außerdem müssen wir eine Idee entwickeln, was wir mit einem Datensatz vermitteln wollen. Also, um noch einmal das Orchesterposter aufzugreifen, eine Botschaft wie: Die Verteilung von Männern und Frauen ist nicht paritätisch, vor allem in den höheren Dienstpositionen und gut bezahlten Orchestern nicht. Übrigens: Auch wenn das in inhaltlicher Hinsicht alles andere als ideal ist, für eine Infografik sind solche heterogenen Daten eine Voraussetzung, denn wenn alle Werte gleich sind, lässt sich daraus keine spannende Grafik bauen.
nmz: Noch einmal zum Amateurmusizieren in Deutschland. Ihr letztes Infografikposter dazu heißt „Stadt, Land, Flöte – Orte und Kontexte des Amateurmusizierens“ – was sind die, Ihrer Meinung nach, wichtigsten Ergebnisse, die diese Studie ans Licht beförderte?
Schulmeistrat: Hier muss man zwischen der Studie und dem Poster unterscheiden. Die Studie, die wir zusammen mit dem Institut für Demoskopie Allensbach durchgeführt haben, ist ja sehr viel detaillierter als das Poster. Dort bringen wir nur einen kleinen Auszug der Ergebnisse, aber natürlich viele der ganz zentralen. Eines der wichtigsten ist, dass wir nun die Gesamtzahl der Amateurmusizierenden kennen, nämlich 14,3 Millionen. Wir sind schon vorher von einer ähnlichen Größenordnung ausgegangen, allerdings basierte die auf Hochrechnungen. Ein weiteres und wie ich finde ausgesprochen erfreuliches Ergebnis ist, dass so viele Kinder und Jugendliche musizieren, nämlich bis 15 Jahre rund die Hälfte. Danach lässt das Interesse allerdings nach. Bei den jungen Erwachsenen musiziert noch etwa ein Drittel, danach nur noch etwas mehr als jeder Zehnte. Wer musikalische Aktivität fördern will, hat also bei den Jüngeren gute Chancen – was auch die Bedeutung des Musikunterrichts an den allgemeinbildenden Schulen unterstreicht.
nmz: 14,3 Millionen Amateurmusizierende in Deutschland – wie ist diese Zahl einzuschätzen? Könnte Sie Ihrer Meinung höher liegen?
Schulmeistrat: Dass jede und jeder Fünfte Musik als Hobby betreibt, finde ich ausgesprochen viel! Wir haben außerdem explizit danach gefragt, wer mit einer gewissen Regelmäßigkeit singt oder ein Instrument spielt oder auch, wer hin und wieder bei informellen Gelegenheiten musiziert, also zum Beispiel an Offenen Singen teilnimmt. Daneben gibt es sicher auch passionierte Unter-der-Dusche- und Im-Auto-Sänger – wenn man die alle mitzählen würde, wären es sicher noch mehr.
nmz: Woran könnte es liegen, dass nicht noch mehr Menschen in ihrer Freizeit regelmäßig Musik machen? Hat die Studie hierauf Antworten?
Schulmeistrat: Nur bedingt, denn die Ursachenforschung stand bei unserer Untersuchung nicht im Fokus. Wir können sie uns aber erschließen, und hier komme ich noch einmal auf meine Antwort zu der Frage nach den wichtigsten Ergebnissen zurück. Wir sehen in gewissen Altersstufen, dass Menschen signifikant weniger musizieren, und diese Altersstufen fallen in der Regel mit besonderen Lebensphasen zusammen. Einen starken Einschnitt sehen wir, wenn die Menschen die Schule verlassen und der Weg ins Berufsleben mit Ausbildung oder Studium beginnt. Manche gründen dann auch schon eine Familie. Einen weiteren Rückgang beobachten wir bei den 30- bis 44-Jährigen, was sicher wiederum mit Fragen der Familiengründung sowie einer verstärkten beruflichen Inanspruchnahme zusammenhängt. Sprich: Die Menschen haben weniger Zeit zum Musizieren und widmen sich neuen Aufgaben und Interessen.
nmz: Auch Amateurmusizierende fangen klein an: Wo kommen die jungen Menschen am häufigsten das erste Mal mit Musik in Berührung?
Schulmeistrat: Junge Menschen kommen tatsächlich am häufigsten über Bildungsinstitutionen mit Musik in Berührung – in erster Linie über Musikschulen bzw. private Lehrkräfte sowie allgemeinbildende Schulen. Außerdem spielen die Amateurmusikvereine, Chöre und Orchester eine große Rolle. Warum viele dann nicht dabeibleiben, wissen wir zwar nicht aus unserer Studie, aber es gibt dazu zahlreiche andere Untersuchungen. Dafür gibt es eine Vielzahl von Gründen, aber einer der wichtigsten ist die Unterstützung durch das Elternhaus. Hier scheint es auch einen Zusammenhang mit dem sozioökonomischen Status zu geben; zumindest sehen wir, dass fast doppelt so viele Kinder und Jugendliche aus oberen Sozialschichten musizieren, nämlich 63 Prozent, wie aus niedrigen. Da sind es nur 35 Prozent.
nmz: Was sind für Sie gelungene Beispiele von Amateurmusizieren?
Schulmeistrat: Das Amateurmusizieren ist in Deutschland so vielfältig, dass es mir schwerfällt, da eine Auswahl zu treffen. Wir stellen in unserem Portal zur Amateurmusikstudie ein kleines Spektrum an Amateurmusikgruppen vor, darunter den Musikzug der Freiwilligen Feuerwehr Meschede, den Handglockenchor in Bad Schandau oder den SingBus der Deutschen Chorjugend, aber ich könnte Ihnen allein aus meiner Heimatstadt Köln noch zahllose weitere nennen, vom Kneipensingen über Blaskapellen und Spielmannszüge der Karnevalsvereine bis hin zum Edelweißpiratenfestival. Und natürlich spielen auch die Kirchen mit ihren zigtausenden von Chören und Ensembles eine ganz wesentliche Rolle. Man darf auch nicht vergessen, dass das Amateurmusizieren die Grundlage für das professionelle Musikleben bildet. Es macht eben nicht nur Riesenfreude, sondern weckt in der einen oder dem anderen auch die Passion für eine weitergehende Beschäftigung.
nmz: Wann ist mit dem nächsten Infografikposter zu rechnen? Und wissen Sie schon, welchen Winkel des Musiklebens in Deutschland es beleuchten wird? Schulmeistrat: Unser neuestes Projekt widmet sich dem Thema Öffentliche Musikschulen. Wir führen einen Bundesländervergleich durch und fragen danach, wie hoch der Anteil der Musikschülerinnen und -schüler in den einzelnen Altersgruppen gemessen an der Bevölkerung ist – da gibt es große Unterschiede. Wir haben dafür Daten des Verbands deutscher Musikschulen mit Daten des Statistischen Bundesamts in Beziehung gesetzt, neu gelesen und eine Vergleichbarkeit zwischen den Ländern hergestellt. Außerdem haben wir erstmals untersucht, wie weit der Weg zum Musikunterricht ist. Also: Wie weit sind die Unterrichtsstätten voneinander entfernt, das heißt die Gebäude, in denen eine Musikschule ihren Unterricht anbietet; oft sind das Schulen, in denen unterrichtet wird. Soll ich das Ergebnis verraten? In gering besiedelten Gebieten sind es im Bundesdurchschnitt 9 Kilometer, in Gebieten mit mittlerer Besiedlungsdichte dreieinhalb und bei dichter Besiedlung zwei Kilometer. Leider haben wir keine Daten zu den privaten Musikschulen und freien Lehrkräften – könnten wir sie noch mitbetrachten, würden wir sehen, dass unsere musikalische Bildungslandschaft wohl bis in jeden kleinsten Landesteil reicht.
nmz: Ist demnächst auch eine Studie zum Musikleben unter Pandemiebedingungen geplant? Sicherlich ein spannendes Thema, das viele Musiker*innen betrifft – Profis wie Amateur*innen…
Schulmeistrat: Das ist nicht nur ein spannendes, sondern ein in diesen Zeiten absolut wichtiges Thema. Der Deutsche Musikrat und der Deutsche Kulturrat haben darauf bereits mit eigenen Studien reagiert, und auch international ist da gerade einiges in Bewegung. Wir selbst werden uns damit intensiv im Rahmen einer internationalen Konferenz befassen. Wir richten im Mai die Jahrestagung der IAMIC aus. Das ist die internationale Vereinigung der Musikinformationszentren, zu der auch das miz gehört. Wir erwarten Gäste aus der ganzen Welt, aus Europa, aber auch den USA und Kanada, Australien und Neuseeland – das wird eine sehr spannende Diskussion. Die Konferenz sollte schon 2020 stattfinden, aber wir mussten zweimal coronabedingt verschieben. Drücken Sie uns die Daumen, dass es dieses Jahr klappt.

Die Fragen stellte Stephanie Schiller.

Stephan Schulmeistrat studierte nach einer kirchenmusikalischen Ausbildung Musikwissenschaften, Kunstgeschichte und Romanistik. Als freier Mitarbeiter war er unter anderem beim Bärenreiter Verlag für die musikwissenschaftliche Enzyklopädie MGG (Musik in Geschichte und Gegenwart) sowie für das Beethovenfest Bonn tätig. 2016 wechselte Stephan Schulmeistrat in die Führungsebene des Deutschen Musikrats und übernahm dort die Leitung des Deutschen Musikinformationszentrums.

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