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Ein animiertes Bild von einem kaputten Klavier mit einer Axt darin.

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Dekonstruktion, Abbruchkante der Moderne

Untertitel
Die künstlerische Klavierzerstörung
Vorspann / Teaser

Eine der merkwürdigsten kulturellen Randerscheinungen der Kulturepoche ist die künstlerische Klavierzerstörung. Beim Thema mag man zunächst an etwas brachialen Slapstick denken – etwa als Stan Laurel und Oliver Hardy à la „Dick und Doof“ in einem Film von 1932 beim Klaviertransport erst die Wohnung ruinierten, bevor das Instrument ebenso wutentbrannt wie lustvoll zerhackt wurde. Was hier als Klamauk mit leicht subversiver Note angelegt war, bekam früh auch künstlerische Weihen: Angefangen mit den „Futuristen“ haben Avantgardisten mehrerer Generationen Klaviere mit lautem Getöse zerschmettert, von großer Höhe gestürzt oder gar in die Luft gesprengt. Der Konzertflügel, Inbegriff gehobener bürgerlicher Kultur – er wurde in einem Kunstwerk von Rebecca Horn in den 90er-Jahren verkehrt herum an die Decke gehängt, wobei als Schock-Moment plötzlich krachend Teile herausfielen. In Rock-Shows wurden Klaviere auf alle erdenklichen Arten demoliert. Lustvollem Vandalismus ähnlicher Art frönte gelegentlich auch die aktionsorientierte Kunstrichtung Fluxus, der etwa der amerikanische Komponist John Cage nahestand. Solche Performances konnten womöglich als Weg zur inneren Befreiung gelesen werden, vielleicht auch als Trauma-Bewältigung oder als bitterer, sarkastischer Kommentar zu einer Welt voller Krieg und Gewalt. Im Buch „Klavierzerstörungen in Kunst und Pop“ von Gunnar Schmidt findet sich eine lesenswerte Zusammenstellung zu dem eigenartigen Phänomen.

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Diese Einleitung soll den Blick auf den breiteren Kontext eröffnen: In der westlichen Kultur-Hemisphäre ist die Zerstörung oder Dekonstruktion als künstlerischer Akt besonders seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein überaus verbreitetes Motiv. Um an dieser Stelle gleich Missverständnissen vorzubeugen: Es geht hier nicht darum, innovative Kunstformen zu kritisieren; es geht um eine Gegenüberstellung der gegenläufigen Prinzipien von Konstruktion und Dekonstruktion. Und um die Pointe auch gleich vorwegzunehmen: Längerfristig braucht es zwischen den beiden Polen ein ausgewogeneres Verhältnis. Das rein Konstruktive kann zu Schulmeisterei und Langeweile führen, aber ein Übermaß an Dekonstruktion zerstört die Kunst oder führt sie in Absurdität und Irrelevanz. Dazu im Folgenden einige lose Gedanken.

Anrennen gegen Normen

Sicherlich gehörte das Niederreißen von Gewissheiten und das Anrennen gegen einengende Normen immer schon zur künstlerischen Entfaltung – wo etwas Neues entstand, wurde regelmäßig Altes angegriffen, lächerlich gemacht oder ideell (manchmal auch realiter) zerstört. Das 20. Jahrhundert war jedoch als Epoche besonders geprägt vom Furor der Widersprüche und Extreme: Atemberaubende wissenschaftliche Fortschritte und Neuerungen im menschlichen Leben standen beispiellosen Zivilisationsbrüchen, furchtbarem Totalitarismus und Kriegen gegenüber. Beim ersten Aufbruch der Moderne haben junge Avantgardisten in Europa und Amerika ihre wilde, freie Kunst gefeiert. Werke von Edgar Varèse, George Antheil, Arnold Schönberg oder Igor Strawinsky (heute längst zu Klassikern geworden) wagten bis dahin undenkbare Vorstöße in künstlerisches Neuland und crashten lustvoll sämtliche Formen und Hörgewohnheiten. Von den Nazis und ihren Anhängern wurde solche Kunst dann als „entartet“ diffamiert und verboten, Vergleichbares geschah auch im Stalinismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg formierte sich ein zweiter Anlauf der Moderne, der noch viel weiter ging als der erste. Die „Neue Musik“ ging nun bei der Hinterfragung musikalischer Mittel bis an äußerste Grenzen, um bei rigoroser Negation alles Vorhergehenden neue Tonsprachen zu entwickeln. Heute, rund 120 Jahre nach dem ersten Aufbruch der Moderne und gut 70 Jahre nach dem zweiten, müht sich die zeitgenössische Kulturproduktion immer noch ab mit der permanenten Infragestellung aller erdenklichen Stilmittel und Rezeptionsformen – mit nachlassendem Erfolg. Steht sich die Kunst mit einem frei flottierenden, bis ins Absurde reichenden Neuheitsanspruch selbst im Wege? Oder könnte die unterschwellige Tendenz das Problem sein, dass Dekonstruktion als Ansatz zu sehr im Vordergrund steht? 

Ein berüchtigtes Beispiel für irrwitzigen künstlerischen Dekonstruktivismus (buchstäblich am Rande des Wahnsinns) manifestierte sich in den Sätzen von Karlheinz Stockhausen zum 9.11.2001, als er wenige Tage nach dem verheerenden Terroranschlag auf das World Trade Center in einer Pressekonferenz in Hamburg sagte (Zitat): „Also, was da geschehen ist, ist natürlich – jetzt müssen Sie alle ihr Gehirn umstellen – das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat“. Stockhausen fuhr fort: „Dass also Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nie träumen könnten, dass Leute zehn Jahre üben, total fanatisch, für ein Konzert, und dann sterben. Und dann werden 5.000 Leute in die Auferstehung gejagt.“ Selbst wenn man die abgrundtiefe Menschenverachtung angesichts tausender Opfer einmal kalt beiseitelässt und diese Aussagen lediglich als entgleiste ästhetizistische Herumspinnereien ansieht, lassen Stockhausens Sätze tief blicken. Dem Autor scheint hier vor allem die Gegenfrage relevant, nämlich wie man die Zerstörung von Bauwerken als großes Kunstwerk sehen kann und nicht etwa deren Errichtung. Dabei war Stockhausen selbst gar kein „Zerstörungskünstler“ – oder nur am Rande. Seine Werke und Klangtexturen hatten im Gegenteil oft formale Konsistenz und elektrisierenden Charakter, auch beim Einsatz von Musikelektronik war er eher Konstrukteur als Zertrümmerer. Ganz gleich, wie man diese (für seine Nachwirkung sicherlich abträglichen) Äußerungen im Nachhinein werten will: Man muss erkennen, dass sich darin viele der destruktiven Motive spiegeln, die in dieser Kulturepoche irritierend gährten. Das Fest der Schleifung und Zerstörung eines bedeutenden westlichen Bauwerks wird zu einem ikonischen Kunstwerk erhoben. Hier manifestiert sich ein merkwürdiges und toxisches Ideologiegemisch, das in weniger irrwitziger Übersteigerung auch anderswo anzutreffen war.

Destruktives in der Kreativität

Die Perspektive soll nochmals verbreitert werden. Destruktives liegt tief in der menschlichen Kreativität und Imagination, das lässt sich mit vielen harmlosen und weniger harmlosen Alltagsbeispielen belegen. Daran muss nichts Schlechtes sein, wie der gesellschaftlich fortschrittliche Philosoph Jean Paul Sartre es schon im Blick hatte: Gesellschaftliche Verhältnisse müssten demnach zunächst gedanklich (oder anderwärtig) aktiv eingerissen und zerstört werden, um dann erst etwas Neues, Besseres an deren Stelle setzen zu können. Aber geht man ins Konkrete, taten sich schon bei Sartre erhebliche Ambivalenzen auf: So sympathisierte der Philosoph merkwürdigerweise mit der islamischen Revolution im Iran – obwohl dort jegliche vertretbaren humanen Werte mit Füßen getreten und etwa eine vorsintflutliche Unterdrückung von Frauen und Minderheiten eingeführt wurde. Er besuchte auch demonstrativ RAF-Terroristen im Gefängnis und fand für deren Verbrechen relativierende Worte. Eine vergleichbare Wahrnehmungsstörung zog und zieht sich hartnäckig durch intellektuelle und akademische Debatten, heute zum Beispiel im Bereich der postkolonialen Denkweisen. Die Philosophin und Gender-Theoretikerin Judith Butler, eine Ikone des geisteswissenschaftlichen Betriebs und wichtige Stichwortgeberin auch des aktuellen Kulturbetriebs, bezeichnete die radikal-islamistischen Kampftruppen Hamas und Hisbollah 2006 als „progressiv“ und „Teil der globalen Linken“. Ihre Aussagen bekräftigte sie jüngst noch einmal, in einer Diskussionsrunde des Forums „Paroles d’Honneur“ in Paris bezeichnete sie das größte Massaker an den Juden seit der Shoa, das die Hamas am 7. Oktober 2023 verübte (unbeschreibliche Gewalttaten, Vergewaltigungen, Geiselnahmen), als „bewaffneten Widerstand“, den sie zwar „nicht gemocht“ habe, der sich aber nicht gezielt gegen Israelis, sondern gegen einen „gewalttätigen Staatsapparat“ gerichtet habe. Nicht nur bei Judith Butler bleibt der Eindruck des merkwürdig Verwaschenen, Unklaren, beinahe Entschuldigenden, wenn es um Terror und Verbrechen von nicht-westlichen Tätern an unschuldigen Zivilisten geht. Und ähnliche Denkweisen sind vielfach in Universitäten und in der Kulturbranche anzutreffen.

Dogma vom Übel der Welt

Das unausgesprochene Dogma scheint hier zu sein, dass das Übel der Welt grundsätzlich vom Westen, also von Europa und Nordamerika, ausgeht. Nicht-westliche Akteure scheinen von Kritik ausgenommen, deren Verhaltensweisen werden allein unter der Maxime ihres Opferstatus gelesen. Allein westliche Kultur und Geschichte müssen demnach hinterfragt, westliche Ideengeschichte und Kunstwerke dekonstruiert werden. Tatsache ist jedoch: Aus dem Abendland kamen neben Kreuzfahrerei, Inquisition und Kolonialismus eben auch die Aufklärung, die Proklamation der Menschenrechte, das Konzept von liberaler Demokratie, Emanzipation, Freiheit von Kunst, Wissenschaft und Lebensführung. Was den Kolonialismus angeht: Der wurde neben dem Westen in vergleichbarer Form auch von anderen Mächten betrieben (etwa dem Osmanischen Reich, das über Jahrhunderte den gesamten Nahen Osten und weite Teile Arabiens beherrschte) und erlebt heute vor allem in Russland eine Wiedergeburt.

Dazu kam das Motiv der Sprachkritik. Der sogenannte „linguistic turn“ erfasste, Jahrzehnte zuvor schon philosophisch angestoßen, gesellschaftliche und ästhetische Debatten. Schon in der Sprache, so glaubte man, manifestierten sich Unterdrückungsverhältnisse, daher müsse die Sprache selbst verändert werden. Postmoderne Dekonstruktion der eigenen Denktraditionen bis hinunter in die Ebene der Begrifflichkeiten: In einer sich dauerhaft um sich selbst drehenden Selbstkritikschleife beschäftigte man sich fast nur noch damit, eigene (westliche) Traditionen und Übereinkünfte zu hinterfragen und abzuräumen. Neben dieser Stoßrichtung zeichneten sich viele der Gedankengänge auch durch eine abgehobene, sich selbst aufschaukelnde Überintellektualisierung aus. Und all das hatte massive Konsequenzen auf den Kulturbetrieb: Schon die Art der Formate, die gefördert werden, die damit verbundene Sprache speiste sich direkt oder über Umwege aus den Vorstellungen einschlägiger Theorieseminare.

Was folgt daraus? Hier soll keine Lanze gebrochen werden für eine vermeintliche Rückkehr zu einengenden, schulmeisterlichen Konstruktionsformen von Musik und Kunst. Aber Akzente könnten sich verschieben, und sie tun es bereits. Wo die kulturelle Dekonstruktion in einer brüchigen Welt ohnehin stets als unvermeidliche Abbruchkante aufscheint (brüchig war die Welt übrigens auch schon immer), sollten sich künstlerische Landschaften auch mal wieder konstruktiv und mit dem Anspruch innerer Konsistenz entfalten dürfen. Der zu sehr an Dekonstruktion gewöhnte Kultur-Ansatz der letzten Dekaden muss überwunden werden. Auch das Publikum wird es danken. 

Geschieht dies nicht, läuft die zeitgenössische Kulturproduktion Gefahr, noch mehr in die gesellschaftliche Isolation und Irrelevanz zu geraten, als sie es ohnehin schon ist.

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