Gleich zu Beginn möchte ich dem gesamten ukrainischen Volk, das gegen die von Russland – dem Land, wo ich geboren und aufgewachsen bin – ausgehende Aggression kämpft, meine Unterstützung und Dankbarkeit aussprechen. Sie kämpfen mit dem Preis ihres Lebens und des Lebens ihrer Kinder. Es ist fürchterlich und schmerzhaft.
Aus dem Tagebuch der vergangenen Tage: Zwei Wochen. Morgens wache ich auf und mache ein paar Multiplikationsaufgaben, versuche mich zu erinnern, welcher Tag heute ist. Ja, ich lebe noch. Ich schaue sofort nach den Namen ukrainischer Freunde und Kollegen: grüne Punkte (sie wurden nicht getötet) und russischer Freunde und Kollegen (wer wurde verhaftet, wer entlassen) – dann fängt mein Tag an. Eigentlich verschmelzen Tag und Nacht, man kann nicht richtig schlafen, nicht richtig wach sein. Ich bin relativ weit weg von Putin und von seinen Bomben. Ich bin selbst in scheinbarer Sicherheit. Und trotzdem: der Krieg ist überall. In Diskussionen, Telefonanrufen, sozialen Netzwerken. Das Gehirn wird zerbombt, das Herz explodiert. Und das berühmte Selbstsicherheitsgefühl sitzt weit entfernt und lacht. Die Frage „Wer bin ich“ war offenbar noch nie so aktuell.
In der gesamten Zeit seit 1990, in der ich in Deutschland lebe, bin ich – mit Ausnahme meiner ersten beiden Festivals, die mich in dieses Land gebracht haben – nie als ‚russische‘ Musikerin betrachtet worden. Im internationalen Berlin vertrat ich eine von vielen Nationalitäten: Japaner, Australier, Amerikaner. Und jetzt fragen mich die Leute, wie ich mich als Russin fühle. Erst jetzt fühle ich mich wirklich russisch, und ich weiß nicht mehr, was das bedeutet. All die Jahre habe ich versucht, moderne Musik aufzuführen: sowohl russische als auch ukrainische, armenische und georgische Komponisten hierzulande, als auch deutsche, österreichische, schweizerische, italienische und alle Komponisten der Welt in Russland. Um ehrlich zu sein, interessierte es mich nicht besonders, welche Nationalität der Komponist oder die Komponistin hatte, sondern, ob sie oft genug aufgeführt wurden; ich versuchte nur, ihre Namen bekannter zu machen.
Ich bin mit Valentin Silvestrov, Leonid Hrabovsky (ein wunderbarer Komponist, der in Europa leider überhaupt nicht aufgeführt wird), Anna Korsun und Adrian Mocanu befreundet und habe ihre Musik aufgeführt. Und jetzt frage ich mich, ob ich das Recht habe, sie als Russin (tatsächlich ich bin zu einem Viertel Ukrainerin, zu einem Viertel Jüdin, zu jeweils einem Achtel Polin und Litauerin und zu einem Viertel Russin) zu spielen. Ich selbst habe keine Antwort auf diese Frage. Ich werde wohl in jedem Fall die Komponisten um Erlaubnis bitten müssen.
Es ist völlig klar, dass derzeit und auch in Zukunft keine Kontakte zu staatlichen Strukturen des russischen Kulturlebens möglich sind. Es stellt sich jedoch die Frage, warum sie bisher möglich waren. Wie viele Briefe haben wir gegen Gergiev, der im Übrigen gar kein gebürtiger Russe ist, geschrieben und unterzeichnet? Hat es geholfen? Nein. Werden diejenigen, die seine Aktivitäten unterstützt haben, auch Verantwortung tragen? Ganz zu schweigen von denen, die Putins Sprachrohre wie Russia Today und andere hier hereinlassen, und lange Zeit versucht haben, Putin zu „verstehen“ und nun Angst haben, ihn „wütend zu machen“.
Warum mache ich immer wieder Anspielungen auf Nationalitäten? Ich möchte nur daran erinnern: Gemeinheit und freies Denken kennen keine Nationalitäten oder Pässe. Bitte beurteilen Sie Musiker und Künstler nach ihren Taten und Werken. Bitte führen Sie die Musik von Komponisten nach ihren Qualitäten und nicht nur nach ihrer Nationalität auf. Und ja, schließen Sie die Wege für Putins Kunstgeneräle und öffnen Sie sie nie wieder. Zum Glück gibt es nicht so viele von ihnen.
Bitte spielen Sie die Musik ukrainischer Komponisten, nicht nur, weil sie ukrainisch sind, sondern weil es sich um wunderbare und noch wenig bekannte Musik handelt – neben Valentin Silvestrov, den zum Glück inzwischen jeder kennt, gibt es Musik von Leonid Hrabovsky, Oleksandr Shchetynsky, Lyudmila Yurina, Anna Arkushina, Marta Haladzhun, Katarina Gryvul, Adrian Mocanu, Alexey Shmurak und vielen anderen. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um die Aufmerksamkeit insbesondere auf Leonid Hrabovsky zu lenken, der 1935 in Kyiv geboren wurde und 1990 in die USA emigrierte. Er schreibt großartige Musik und verdient die besten Interpreten und Säle.
Ich bin in den letzten Tagen oft gefragt worden, ob der Krieg mit der Ukraine negative Folgen auf mich persönlich habe, etwa ob ich Ausgrenzung erlebe – ich habe nichts dergleichen erfahren. Und selbst wenn dies der Fall wäre, so wäre das nichts im Vergleich zu dem Schmerz, bombardiert und getötet zu werden. Solange Russland diesen sinnlosen Krieg nicht beendet, solange es sich nicht aus der Ukraine zurückzieht, solange es nicht zu einem Machtwechsel kommt und von offizieller Seite Reue ausgedrückt und Abbitte geleistet wird, wird es sehr schwer sein – und nicht jeder wird es ertragen können.
Aus einem Brief einer Kollegin aus Russland: Es ist so schwer, morgens durch die Tür und nicht durch das Fenster zur Arbeit zu gehen.
Aber man darf nicht vergessen, dass frei denkende russische Künstler, Musiker und Schriftsteller dem Kreml schon immer ein Dorn im Auge waren – oder, wie es in Russland heißt: eine Gräte in der Kehle. Man darf diese Gräte nicht entfernen.
Natalia Pschenitschnikova
Natalia Pschenitschnikova ist Sängerin, Komponistin, Performerin und Flötistin. Sie ist in Moskau geboren und aufgewachsen. Heute lebt sie in Berlin und ist Mitglied im DTKV Berlin.
Slava Ukraïni
Ich bin wütend. Ich bin traurig. Ich schreie. Ich bin erschöpft, überfordert. Ich wache jeden Tag auf mit Angst. Ich bin motiviert zu helfen. Ich bin hilflos. Ich überwinde die Hilflosigkeit.
Ich sehe Fortschritte und glaube an die Tapferkeit und Stärke meines Geburtslandes. Ich versuche, andere zu erreichen, irgendetwas beizutragen, um den Menschen vor Ort zu helfen. Den Menschen, die hierher kommen.
Ich nehme selbst eine Frau mit Sohn auf. Sie haben nichts als ihre zwei Rucksäcke und eine kleine Tasche dabei. Mir ist zum Heulen zumute, als ich sie am Bahnhof abhole. Aus einer zum Bersten vollen Bahn aus Polen, wo Mütter mit Kindern und Kinderwagen kaum rauskommen, um schon am Ostbahnhof auszusteigen, eine Station vor dem Hauptbahnhof.
Die Familie ist dankbar für meine Hilfe – ich bin der Familie dankbar, dass ich nicht tatenlos rumsitzen und Nachrichten verfolgen muss. Dass ich für einen Moment nicht meine Mutter anrufen und fragen muss, wie es all ihren Freundinnen geht, die noch immer in Kyiv, Odessa oder Charkiv in U-Bahnhöfen und Kellern sitzen. Wo die Tochter einer dieser Freundinnen erzählt, dass sie keine Familie mehr in Russland hat, weil ihr vom eigenen Vater dort gesagt wird: „Haltet einfach ein wenig aus, bald sind wir alle zusammen.“ Wer in der Ukraine möchte bitte eine neue UdSSR? Wer möchte das in Russland?
Meine Cousinen in Moskau wollen weg, sie wollen nicht mehr in einem solchen Land bleiben. Wie kann dies alles unsere neue Realität sein? Rational ist es mir seit dem 24. Februar um 6.30 Uhr bewusst, als meine Mutter mich aufgelöst anrief und aus dem Schlaf riss. Aber was ist in dieser Situation überhaupt noch rational? Putin schon längst nicht mehr. In meinem Umfeld sind sich alle einig: Er ist komplett dem Wahn verfallen.
Und nebenher gibt es noch die Arbeit. Gibt es mein Album, an dem ich seit über einem Jahr sitze, schon zigmal kurz vor dem Aufgeben war und nun nicht mehr verstehe, wozu ich das überhaupt mache. Was es überhaupt noch für einen Sinn ergibt, irgendetwas zu machen, wenn das Leben einen einfach so rausreißen kann und alles, was man sich aufgebaut hatte, mit einem Mal nichts mehr wert ist.
Es fühlt sich egoistisch an, sich ablenken zu wollen – Ablenkung höchstens, wenn’s nicht anders geht. Aufstehen, Nachrichten lesen, wichtige Informationen teilen, den Hund spazieren führen, kurz etwas essen, dabei wieder die Nachrichten verfolgen. Arbeiten, ich muss doch arbeiten, aber ich kann nicht – wie kann ich gerade fröhlich posten, dass ein lang erwartetes Debut-Release ansteht, wenn ich mich nur verkriechen oder zumindest auf einer Demo brüllen will? Ich funktioniere. Was gemacht werden muss, wird gemacht. Wo geholfen werden kann, wird geholfen. Fast niemand nimmt sich raus. Das macht Hoffnung.
Der Tag ist um. Es hat sich nicht viel verändert. Und doch haben wir einen weiteren Tag lang bewiesen, dass wir noch da sind. Dass wir eine Berechtigung haben, hier zu sein. Und diese nimmt uns niemand.
Mascha Raykhman
Mascha Raykhman wurde in Kyiv geboren und kam mit vier Jahren als Flüchtling nach München. Sie ist Sängerin, Songwriterin und Synchronsprecherin und seit Ende 2021 Mitglied im DTKV Berlin.