Bei der D-A-CH-Tagung 2012 hielt der Flötist und Musikpädagoge Edmund Wächter, der im April zum Schriftführer im Präsidium des Deutschen Tonkünstlerverbandes gewählt wurde, ein Grundsatzreferat zur Bedeutung des freiberuflichen Musikpädagogen. Dieses Referat wird hier in gekürzter Form abgedruckt. Der vollständige Text kann in der Dokumentation „Der Freiberufliche Musikpädagoge – ein Beruf mit Zukunft?“ (ISBN 978- 3-926906-21-2), in der zahlreiche weitere Texte zu diesem Thema erschienen sind, nachgelesen werden. Die Dokumentation ist bei der Geschäftsstelle des Deutschen Tonkünstlerverbands bestellbar.
„Und was machen Sie beruflich…?“
Ja, Musikpädagoge ist ein Beruf! Genau genommen viele Berufe. Was bisweilen als Patchwork beklagt wird, war durch die Musikgeschichte hindurch immer berufliche Wirklichkeit. Im Musikbereich verschiedene Tätigkeiten ausüben, bedeutet nicht nur mehrere finanzielle Standbeine, sondern auch befruchtende Vielseitigkeit, die nicht zuletzt unseren Schülern zugute kommt.1 Dass der Beruf des Musikpädagogen für nicht ganz voll genommen wird und dass ihm ein eher zweifelhafter Ruf vorauseilt, hat Tradition. Wilhelm Friedemann Bach beispielsweise prägte – vor allem im Roman von Albert Emil Brachvogel (1858) – das Bild des gescheiterten Musikers, der seinen kärglichen Lebensunterhalt mit Unterrichten bestreiten muss. Die meisten Musiker in Vergangenheit und Gegenwart waren und sind auch Lehrer. Manche mit Stolz, vielen ist es peinlich. Im 19. Jahrhundert wurde die Hausmusik und Höhere- Töchter-Kultur oft zum Gegenstand von Spott und es entstanden Klischees, wie sie beispielsweise Elfriede Jelinek in ihrem Erfolgsroman „Die Klavierspielerin“ von 1983 virtuos bedient. Um den Ruf des Musikpädagogen zu heben, dienen diese Klischees allerdings nicht. Musikgeschichte: das ist die Geschichte der Komponisten, der Werke, der Gattungen, der Stile, der Epochen, der Interpreten … Musikunterricht kommt hier nicht vor, wie auch Arnold Ebel (1920–1934 und 1945–1958 Präsident des Deutschen Tonkünstlerverbands) im „Handbuch der Musikerziehung“ 1954 beklagt: „Kein Berufsstand hat so wenig Fürsprecher gefunden wie der Stand der Privatmusiklehrer. In keiner Musikgeschichte spricht man von seiner Arbeit und Leistung.“ Im 18. Jahrhundert und früher war professionelle Musikausbildung in der Regel privat in der Art einer Handwerkslehre. Entweder stand man in der Familientradition und erlernte den Beruf vom Vater oder vertraute sich einem Stadtmusikus, Kantor, Militär- oder Hofmusiker an und ging anschließend quasi „auf die Walz“, um sich noch anderweitig fortzubilden.
Vom Musiklehrer zum Musikanimateur
Mit der Gründung des Conservatoires in Paris nach der französischen Revolution begann eine institutionalisierte musikalische Berufsausbildung mit festgelegten, formelhaften Lerninhalten, die auch im privaten Musikunterricht Eingang fanden und in einem autoritären Gefälle von Lehrer zu Schüler vermittelt wurden. Das änderte sich mit den Umwälzungen der 68er-Generation. Nicht mehr der Lernstoff stand im Mittelpunkt, sondern der Schüler mit seinen Bedürfnissen. Der Lehrer hat nun die vornehmliche Aufgabe, Wege zu ebnen, damit sich der Schüler entfalten kann. Treffend drücken den neuen methodischen Anspruch Peter Schwarzenbach und Brigitte Bryner-Kronjäger aus: „Alles was der Schüler selber denken, entscheiden, sagen oder tun kann, soll er auch selber denken, entscheiden, sagen oder tun.“2 Zur ursprünglichen Aufgabe des Musikpädagogen „Erziehung zur Musik“ kommt nun die „Erziehung mit Musik“. Wir sind nun nicht mehr nur Inhaltsvermittler, sondern übernehmen zusätzlich allgemein erzieherische Aufgaben. Außerdem müssen wir mehr und mehr als Animateure unsere Schüler bei der Stange halten, da das übrige Freizeitangebot und die hohe Reizschwelle einer medial gesteuerten Jugendkultur-Industrie Kindern und Jugendlichen kaum mehr ermöglichen, sich intrinsisch zu motivieren. Aus einer ergebnisorientierten Methodik wird zunehmend eine verlaufsorientierte. Das alles braucht Zeit, die der freiberufliche Musikpädagoge sich nehmen kann und muss. An einer Musikschule ist das gewöhnlich so nicht möglich, wenn man zum Beispiel an 22,5-Minuten-Lektionen denkt oder an zufällig zusammengewürfelte Gruppen.
Anpassungsfähig und flexibel
Die Bedeutung des freiberuflichen Musikpädagogen in der Vergangenheit ist klar, da bis ins 19. Jahrhundert fast jede musikalische Ausbildung privat war, abgesehen von den verschiedenen volksmusikalischen Erscheinungsformen, die nach der Mitmach- Methode erlernt wurden: Seit in den letzten Jahrzehnten Volksmusikpflege professionell betrieben wird und beispielsweise Blasorchester ihr Repertoire erweitern und auf Verbesserung ihres Spielniveaus achten, sind auch in diesen Bereichen professionelle Musikpädagogen gefragt, besonders freiberufliche, da der Bedarf hier oft in musikschulfreien Zonen liegt. Seit dem 19. Jahrhundert wird professionelle Ausbildung zunehmend institutionalisiert und dem Musikpädagogen blieb als Aufgabe die vorberufliche Ausbildung sowie die Haus- und Laienmusik, die spätestens seit dem 18. Jahrhundert zu einer Massenbewegung wurde und einen steigenden Bedarf an Musikunterricht nach sich zog. Im 20. Jahrhundert, besonders nach 1960, entstanden die öffentlichen Musikschulen. Hier fanden viele Musikpädagogen eine feste Anstellung, was neben der finanziellen Sicherheit auch den Wegfall von organisatorischer Arbeit bedeutete. Demgegenüber ist der freiberufliche Musiklehrer zeitlich flexibler, kommt eventuell auch ins Haus, kann individueller fördern, verspricht mehr Kontinuität und kann gezielt ausgewählt werden. Beide Seiten empfanden sich lange als Konkurrenz. Der Versuch des Präsidiums des Tonkünstlerverbands, freiberufliche Musikpädagogen und Musikschulen unter einem Dach zu vereinen, nach der Devise des früheren Präsidenten Hans-Joachim Vetter „Langjährige Gegensatzstellung wandelt sich langsam, aber zielstrebig zu förderlichem Zusammenwirken“ 3, scheiterte in der Delegiertenversammlung des VDMK 1977. Heute in Zeiten knapper Kassen, werden viele öffentliche Musikschulen in Vereine umgewandelt und neue Formen von musikschulähnlichen Institutionen gegründet. Festanstellungen gibt es da selten, dagegen teilweise Arbeitsverhältnisse in gesetzlich äußerst bedenklichen Grauzonen. (Dazu zähle ich auch die künstlerischen Lehraufträge an Hochschulen und Universitäten.) Jedenfalls kann man feststellen, dass auf dem Umweg über unterschiedliche Formen der freien Mitarbeit der freiberufliche Musikpädagoge wegen seiner Anpassungsfähigkeit wieder geschätzt wird.
Schwarze Schafe und Qualitätsnachweis
Ein Problem der freiberuflichen Musikpädagogen ist der Qualitätsnachweis. Bereits 1728 klagt Johann Mattheson über schwarze Schafe unter den geschätzten 150 Musiklehrern in Hamburg: „Und ein solcher Trupp, mehrentheils junger Leute, verdiente wol, daß man ihn dereinst recht, nach dem patriotischen Maß-Stabe, darstellte und untersuchte: denn es sind gar saubere Vögel und lustige Kumpen darunter, die in einer guten Republick mehr Unheil stiften können, als man meynen sollte. Wer hat die Aufsicht darüber?“4 Über zweihundert Jahre später liest man dieselbe Klage in den Grundsätzen des „Verbands Deutscher Tonkünstler und Musiklehrer VDMT“, die 1949 in Düsseldorf beschlossen wurden: „Seit 1945 sind auf dem Gebiete des Privatmusikunterrichts zahlreiche Elemente eingedrungen, die weder durch berufliche Vorbildung, noch durch ihre charakterliche Eignung das Amt des Musikerziehers ausüben dürfen. Wir erwarten daher, daß im Verfolg der möglichst bald zu treffenden gesetzlichen Regelung zu allererst die seit 1945 oder schon vorher in den Kriegsjahren in den Berufsstand neu hinzugekommenen Musiklehrer auf ihre fachliche und sittliche Eignung auf das Gewissenhafteste überprüft werden, und daß dabei außer den Vertretern der Behörde und den von ihr ernannten Fachberatern geeignete Vertreter des Berufsstandes zur Mitarbeit herangezogen werden. Wie wir aus allen Kreisen des Verbandes erfahren, hat die ‚Schwarzarbeit‘ auf dem Gebiete der Musikerziehung einen erschreckenden Umfang angenommen, der nur durch strengste Maßnahmen der Regierung gesteuert werden kann.“ Die Forderung des VDMT verhallte folgenlos und war bereits zuvor vom Oberverwaltungsgericht Münster 1948 als im Widerspruch zum Grundgesetz und zur Gewerbefreiheit stehend eingestuft worden. Immerhin wurde dem privaten Musikunterricht bereits im Zuge der Kestenbergreform in Preußen in den 1920er-Jahren von politischer Seite die gebührende Bedeutung zugemessen, in deren Folge sich staatliche Musiklehrerprüfungen (bzw. pädagogisches Diplom), Musikschulen, musikalische Jugendprojekte usw. etablieren konnten, die direkt und indirekt gewisse Qualitätsmaßstäbe setzten. Auch die Berufsverbände kümmern sich um die Qualität des Privatunterrichts, allen voran der Deutsche Tonkünstlerverband mit seinen Landes- und Regionalverbänden. Beginnend damit, dass nur qualifizierte Mitglieder aufgenommen werden, bis hin zu seriösen Unterrichtsverträgen, Gütesiegeln und Zertifikaten, die den Schülern bzw. deren Eltern Qualitätsbewusstsein vermitteln sollen. Dass dies allerdings bei allen ankommt, bezweifle ich. Nett, nah und billig sind oft die stichhaltigeren Kriterien – es soll schließlich „nur Spaß“ machen.
Neue pädagogische Herausforderungen
Der Wandel in unserer Gesellschaft in vielen Bereichen stellt uns vor pädagogische Herausforderungen und Probleme, die uns freiberuflichen Musikpädagogen noch mehr herausfordern als die Musikschulkollegen, da unsere „Kunden“ sensibler darauf reagieren:
1. Es wird immer schwerer, Begeisterung bei Kindern und Jugendlichen zu wecken.
2. Das Umfeld unserer Schüler wird kulturferner.
3. Mangelnde Hörerfahrung der Schüler.
4. Die knappe Zeit, die Schüler ins Musizieren investieren.
5. Eine Kultur des „Selbermachens“ weicht mehr und mehr einem Konsumverhalten.
6. Ein Instrument zu erlernen braucht „lange Weile“, die vielfach den Spaßerwartungen entgegensteht.
7. Erwartungen und Bedürfnisse unserer Klientel divergieren immer mehr.
8. Die Pluralität unserer musikalischen Umwelt: Klassik – Alte Musik – Neue Musik – afroamerikanische Musik – Musik anderer Kulturen … Vor allem im Bereich Jazz und Popularmusik steigt der Unterrichtsbedarf, Ausbildung und Methoden aber sind noch sehr unterentwickelt.
9. Neue Ausbildungssysteme und Sekundärmethoden werden oft als pädagogisches Nonplusultra angepriesen. Wir müssen entscheiden, ob und auf welchen Zug wir aufspringen.
10. Online-Unterrichtsformen – etwa via Skype – beginnen sich auch in Europa als aktuelle Variante von „Lehrer kommt ins Haus“ zu verbreiten.
Abgesehen von den unterrichtenden Laien, kann man grundsätzlich drei Gruppen von Musikpädagogen unterscheiden:
1. Problemfälle: Diejenigen, die unterrichten müssen, weil sie es nicht auf die Podien der Welt oder ins Orchester geschafft haben und frustrierte Künstler bleiben, denen es schwer fällt, sich auf die Bedürfnisse ihrer Schüler einzulassen. Ebenso diejenigen, die als enthusiastische Lehrer begonnen haben, aber den Wandel der pädagogischen Anforderungen nicht mit vollziehen und sich immer mehr von ihren Schülern entfernen.
2. Diejenigen, die neben ihrer Anstellung als Musikschullehrer, Schul- und Kirchenmusiker, Hochschulprofessor, Orchestermusiker und so weiter freiberuflich unterrichten als Zubrot, Gefälligkeit oder spezielle Begabtenförderung.
3. Diejenigen, für die dieser Beruf der Traumberuf ist. Diese beginnen meist schon vor und während der Ausbildung zu unterrichten. Sie schätzen die pädagogischen Freiräume, die beispielsweise an einer Musikschule so nicht möglich wären. Sie bilden sich in der Regel fort, öffnen sich neuen Herausforderungen, bleiben nah am „Kunden“ … So hat der freiberufliche Musikpädagoge eigentlich den schönsten Beruf der Welt, wäre da nicht die Notwendigkeit, davon leben zu müssen. Wer das Glück hat, mit einem verdienenden Partner den Lebensunterhalt abzusichern, kann diesen Beruf mit ungetrübter Freude ausüben. Aber das ist ja nicht unser Hobby. Wir müssen davon leben können und haben hohe Kosten durch Instrumentenkauf und -pflege, Unterrichtsräume oder Notenkauf. Lösungen gäbe es durch Stipendien für Schüler, steuerliche Abzugsfähigkeit der Unterrichtshonorare, Zuschüsse für Fortbildung, Studios zu günstigen Mieten in Wohngegenden, mehr gesellschaftliche Wertschätzung – einiges ist bereits erreicht, aber es bleibt noch genug zu wünschen.
Der freiberufliche Musikpädagoge – ein Beruf mit Zukunft? Mit Sicherheit! Individuell fördern und auf die persönlichen Bedürfnisse der Schüler eingehen wird immer die Stärke freiberuflicher Musikpädagogen bleiben, während die Musikschule ihre Qualitäten im Bereich großer Ensembles, Theorie und so weiter hat. Wenn man noch berücksichtigt, dass der Einzelunterricht an einer Musikschule mit angestellten Lehrern in der wirtschaftlichen Gesamtbilanz doppelt bis dreimal so viel kostet wie bei einem gut honorierten freiberuflichen Musikpädagogen, drängt sich eine Kooperation einer Musikschule mit einem Netzwerk qualifizierter freiberuflicher Musikpädagogen geradezu als Zukunftsmodell auf. Die regionalen Tonkünstlerverbände stünden als ideale Partner und bewährte Netzwerkbetreiber bereit.