Erinnerung: Leipzig Herbst 1985, freundlich empfing mich in seinem Privathaus der Komponist Günter Neubert, dessen Musik zur Weihnachtsgans Auguste ich schon kannte. Meine sorgsame Notation mit Bleistift, Neubert konzentriert lesend – das waren immer die entscheidungstragenden und wegen der gefühlten Länge, schwer zu ertragenden Momente seines Unterrichts – ahnte er den Ausgang der Notenskizze eher als ich den Anfang wusste. Dann sagte er in freundlichen Sätzen, was er gut fand – ich wusste, dass dieses nicht das Wichtige war – dann kam der Teil, der meinen Weg zurück in meine Studentenbude länger werden ließ, bis ich anfing sofort alles neu und vermeintlich besser zu machen, um es tags drauf wieder zu verwerfen. Ich liebte diese Mühen der Ebene.
Einmal war die Harmonie gebrochen, ich hatte „minimal art“ entdeckt und in diesem amerikanischen Stil eines Steve Reich ein paar Notenpapiere gefüllt. Neubert zwang mich, mir über die Dauer des gesamten Unterrichts von seiner Tonmeisterbandmaschine minimal-lange Werke anzuhören. Dann verabschiedete er mich mit den ernsten Worten: „Wenn Sie so etwas komponieren möchten, kann ich nicht ihr Lehrer sein.“ Ich habe spätpubertär reagiert, in dem ich die nächsten drei Unterrichtsstunden unter dem Vorwand, krank zu sein, ausfallen ließ. Schließlich war die Hochschule weit und die Abteilungsleitung in anthroposophischer Geistigkeit versunken, so dass dieses Schwänzen gar nicht auffiel.
Ausgefuchster Pädagoge
Was Günter jedoch prägt, ist mir bereits damals als seine menschliche und christliche Art plötzlich aufgegangen – er verrät auch den ausgefuchsten Pädagogen. Eines Nachmittags, als ich wohlgenährt und völlig „unkrank“ in meinem Privatzimmer mit Blüthner-Flügel der Ausbildung meiner Gesangsstimme frönte, stand unerwartet Günter Neubert mit einem großen „Präsentkorb für den Kranken“ an meiner Zimmertür. Meine schöne gesangstudierende Nachbarin hatte ihn wie Susi Sorglos einfach eingelassen und ihm meine Tür gezeigt – der Nachteil einer WG. Neubert war nicht überrascht, mich putzmunter und singend anzutreffen, auch musste ich nichts erklären, er wollte auch keinen Kaffee, nur eine Stärkung vorbeibringen und sich nach meinem Befinden erkundigen. Er ging mit dem Abschiedsgruß, dass wir uns ja dann im nächsten Unterricht wiedersehen würden. Und so war es auch. Keine Nachfragen an die Hochschule, keine Fehlmeldung. Eine Begegnung, die mit solchem pädagogischen Format immer mehr zur Lebensbegegnung wurde.
Neubert wurde 50, der DDR-Komponistenverband veranstaltete eines jener nur dem runden Datum wegen durchgeführten Komponisten-Portraits, übrigens zusammen mit Ottomar Treibmann, den mit Günter Neubert ebenso wenig verband wie Neubert mit Treibmann. Der staatlich geprüfte Moderator regte den im Saal lauernden „Fritze“ Schenker zum Zwischenruf „Journalistenfragen!“ an. Günter lächelte und dann folgte jener Satz, welcher mich damals wirklich beschäftigte. Auf seinen Kompositionsunterricht an der Hochschule verweisend, fragte jener staatlich geprüfte Moderator, wie er, also Günter, es denn anstellen würde, dass aus den jungen Menschen Komponisten würden. Günter sagte sehr bestimmt, dass er das nicht garantieren könne. Er verstünde sich als Ratgeber, als Begleiter. Wenn jemand ernsthaft komponiere, um Komponist werden zu wollen, dann wird er seinen Weg gehen – „mit meinem und ohne meinen Unterricht“. Heute betrachtet war das eine Sicht auf das Verhältnis von Lehrer und Schüler, die vielen Auffassungen seiner hochschullehrenden Kollegen weit voraus war. Die meisten meinten sich mit ihren Schülern schmücken zu müssen, um zu beweisen, was für treffliche Lehrer sie seien. Das habe ich bei Günter Neubert nie erlebt.
Halt – nicht ganz, Günter hat sich heimlich gefreut. Zu meiner ersten festen Verlagsbindung kam ich dadurch, dass nach der politischen Wende bestimmte ehemalige DDR-Verlage reihenweise Verträge lösten. Mein Lektor war so freundlich, die Musik von dem jungen Talent einem jungen Verlag anzuvertrauen, der, gerade erst gegründet, nach Autoren suchte. Der Inhaber dieses kleinen und sehr engagierten Verlages war Berufsmusiker und Wissenschaftler in einer Person, so dass ernsthafte Diskurse über das universelle Leben und die Musik nicht ausblieben. Eines Tages berichtete Andreas Ebert, dass Günter Neubert ihn besucht habe und in den Partituren seines Schülers Buchholz sehr aufmerksam geblättert hätte. Herr Ebert sagte mir, er habe den Eindruck des Stolzes gehabt, als das Gespräch kurz auf meine Musik kam.
Das verschenkte Weinen
Nun, da Günter Neubert nie anhand seiner Musik unterrichtete – auch nicht mit der Delikatesse einiger Komponisten, die ich auf den Geraer Ferienkursen erleben durfte – war man als Schüler immer gespannt, wenn ein neues Stück des Lehrers erklang. Neubert lud mich also ein, als man in der Staatsoper in Berlin sein Ballett „Das verschenkte Weinen“ uraufführte. Ich selber war noch mit kleinen Stückchen beschäftigt und auch Orchestermusik stand noch nicht zur Debatte. Schon daher war ich überwältigt. Es war ein großartiges Erlebnis wie der Farbenreichtum dieser Musik mit dem Bühnenbild korrespondierte, und dann die philosophische tiefgreifende Handlung – mitten in der zwangsfröhlichen DDR. Das war eine Musik, die von der Seele des Menschen sprach und mich sofort berührte. Schon damals hasste ich Musik, deren Herstellungstechnik musikwissenschaftlich erklärt wurde und man meinte, dass Musik verstehen das Musikerlebnis ersetzen könne oder sogar gleichbedeutend sei. Ab diesem Jahr 1983 fühlte ich mich in Günter Neuberts Unterricht auf besondere Weise zu Hause. Später hat die Oper Leipzig das Ballett nochmals wiederholt und ich habe es mir mit meiner Mama angehört, die eine gute Pianistin war, aber ganz dieser Zunft nach mit Bach und Romantik ausgebildet wurde. Die kleine Frau, die mir gerade bis zur Brust reichte, umarmte mich mit den Worten: „Du hast einen guten Lehrer!“. Vielleicht habe ich mich auch aus Respekt erst im Unterricht bei Ruth Zechlin an die Komposition großer Orchesterstücke gewagt. Auf jeden Fall weiß ich, dass die Ballett-Musik einen großen Eindruck bei mir hinterlassen hat. Nicht zu vergleichen mit dem Mist, den so manch andere Komponisten gestern und heute so produzieren. Da ist man hinlänglich froh, wenn man wieder an die frische Luft kann. Dieses Gefühl hatte ich bei Neuberts Stücken nie.
Meisterschüler in Berlin
Nach meinem Abschluss in Leipzig fing ich an der Halleschen Universität an zu unterrichten und wurde Meisterschüler bei Ruth Zechlin. Diese Meisterklassen an der Akademie der Künste zu Berlin (Ost) hat der Westen bald wieder abgeschafft. Man kann nur spekulieren, warum dem neuen Staatsgefüge die Meisterschüler störend erschienen. Ich zählte zur letzten Generation, die man in der DDR ausgenommen und in der BRD mit Urkunde entlassen hat. Selbstverständlich konzentriert man sich als Meisterschüler zunächst auf den neuen Lehrer. Als sich nach einem Jahr die ersten gültigen Stücke abzeichneten, besuchte ich dann auch Günter Neubert wieder. Auch später, als ich mich dann etwas abgenabelt hatte war es so, dass wir regelmäßigen Kontakt pflegten und Günter für private wie künstlerische Dinge ein väterlicher Freund wurde.
Schließlich war Neubert einst auch Meisterschüler an der Berliner Akademie der Künste, bei Wagner-Régeny und Paul Dessau. Sein Werkverzeichnis, inzwischen in fast allen Genres der Neuen Musik mit profilsetzenden Kompositionen vertreten, war Vorbild für mich, den Nachgeborenen.
Von 1995 bis 2014 war ich künstlerischer Leiter der Hallischen Musiktage. Günter leitete den Sächsischen Musikbund und damit die Konzertreihe des Vereins. In der partnerschaftlichen Kooperation beider Vereine entstand ein länderübergreifendes Konzept, von dem viele Komponistinnen und Komponisten aus beiden Bundesländern durch die mehrfache Aufführung ihrer Werke profitierten. Das war ein gemeinsames Projekt, quasi aus der Lehrer-Schüler-Beziehung erwachsen, bis eine wenig weitsichtige Politik in Sachsen-Anhalt durch die künstliche Inkarnation eines an mitteldeutschen Projekten und hier lebenden Komponistinnen und Komponisten kaum interessierten IMPULS-Festivals die finanzielle Zuwendung für die Hallischen Musiktage deinstallierte. In der DDR nannte man solche Machtinstrumente den „ökonomischen Hebel“.
Bis auf den heutigen Tag verfolgen wir gegenseitig unsere jeweils neuen Werke. Gern erinnere ich mich an Günters erste Gehversuche im Computernotensatz. Hier konnte ich ihm ein kleiner Helfer sein. Verzweifelte abendliche Anrufe – jetzt ist alles weg, mehrere Wochen Komponieren für die Katz’ – wie war ich froh, dass dem nur ein kleiner Bedienfehler zugrunde lag, der über meine „Hotline“ zu klären war. Das besonders Wunderbare, dessen sich Günter nie so recht bewusst war: mit dem Übersenden der Notensatzdateien zwecks Korrektur eines Computerfehlers, hatte ich Gelegenheit, die Werke meines Lehrers zu studieren, bevor diese überhaupt jemand sehen durfte. Da gab es ein wunderbares Streichquartett, jenes wo die Noten plötzlich der Computer verschluckt hatte – ich nenne es „das Wiedergeborene“, ein Auftrag zum 200-jährigen Bestehen des Gewandhausquartetts. Oder vor gar nicht allzu langer Zeit die „Glockenweihemusik“, ein Auftrag für die Einweihung der neuen Glocken der Leipziger Nikolaikirche. Das war wohl die letzte große Uraufführung, bevor ein kleines Virus die Tonkünstler auf der ganzen Welt in ein tiefes Schweigen brachte. Niemand weiß, wie lange die Aufwachzeit aus dem Koma dauern wird und welche Schäden zurückbleiben.
Kompositionswettbewerb
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hatte anlässlich des Lutherjubiläums einen Wettbewerb zur Komposition einer Choralkantate ausgeschrieben. Günter Neubert, der mit so wichtigen Preisen wie dem Kompositionspreis von Boswil (Schweiz) oder dem Hanns-Eisler-Preis geehrt wurde, war auch bei diesem Wettbewerb mit einer hervorragenden Komposition vertreten, seiner später durch die Thomaner uraufgeführten Kantate „Ein feste Burg ist unser Gott“. Auch ich hatte eine Kantate eingereicht. Günters Stück gewann den zweiten Preis. Günter schrieb dazu jüngst: „Er war in gewissem Sinne an mir vorbeigezogen.“ Auch wenn die Jury mir den ersten Preis zuerkannte, hatte ich nie in Gedanken, meinen Lehrer überholt zu haben. Einmal schon darum nicht, weil in geistigen Dingen nur die Stärke der Ideen und nicht die Bewertung einer Jury zählt und weil eine so wunderbare Freundschaft letztlich auf den gewachsenen Gemeinsamkeiten aufbaut.
Lieber Günter, in diesem Sinne meine herzlichsten Wünsche für ein segensreiches, glückliches Alter. An dieser Stelle sei mir gestattet, mit den von Günter Neubert an mich gerichteten Worten meine Gedanken zu beschließen: „Dass bei diesen Gemeinsamkeiten auch die gegenseitigen persönlichen Kontakte enger wurden, gehört zu den wunderbaren Seltenheiten im Leben zweier einander befreundeten Komponisten. Mögen sie bewahrt werden.“
Thomas Buchholz
Odium des Widerständigen
Günter Neubert war eines Tages plötzlich da. Er kam aus Berlin oder Dresden und hatte eine Stelle als Tonmeister am Sender Leipzig, also am heutigen Mitteldeutschen Rundfunk angetreten. Man kann heute nicht mehr erahnen, wie wichtig der Rundfunk, insbesondere Radio DDR II und der damit zusammenhängende Sender Leipzig für uns Komponisten damals waren. Die Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“ hatte Leipzig zu einem auch international beachteten Zentrum der Avantgarde werden lassen und etliche Ensembles waren ihnen gefolgt. Die Stadt war voll von Neuer Musik, der damals noch das Odium des Widerständigen, des nicht-parteikonformen Mediums vorauseilte. Wer im Rundfunk gesendet wurde, stellte was dar und wurde vielleicht sogar im Westen wahrgenommen, so war der allgemeine Traum, der sich bei einigen sogar erfüllte.
Wir trafen uns selten und meist zu Konzerten mit Neuer Musik oder im Komponistenverband. Immer trat er auf als gebildete, offene und sehr kollegiale Persönlichkeit, die mit Meinungen nicht hinter dem Berg hielt und auch politisch erstaunlich frei argumentierte. Und einmal arbeiten wir zusammen. Neubert war der Tonmeister eines Rundfunkmitschnittes des Werkes „Voices“, einem Liederzyklus von Hans Werner Henze mit Vertonungen von mehr als einem Dutzend Texten der verschiedensten prominenten Dichter. Schauplatz war das Alte Rathaus zu Leipzig. Namhafte Solisten sangen, die Gruppe Neue Musik hatte eine Sternstunde und ich war der Gitarrist, der auch noch Banjo, Mandoline und allerlei Klapperkram spielen sollte. Henze liebte die Gitarre und schrieb großartige Musik dafür. Aber ich war Student im 3. Studienjahr und die Stimmen waren sauschwer und eines der Lieder lag außerhalb meiner Möglichkeiten: raffiniert ausgetüftelte, aber schwer zu spielende vierstimmige Akkorde wechselten in raschen Achteln. Ich ging zu Günter Neubert und sagte: Das ist zu schwer, das kann ich nicht wirklich spielen. Er guckte in die Partitur, brummte etwas und sagte nichts. Monate später erzählte er, was er mit diesem Mitschnitt so für Probleme hatte. Denn Henze verlangte an einer Stelle, die Geräuschkulisse eines Baseballspiels und an einer anderen Stelle Ausschnitte aus der Rede eines amerikanischen Präsidenten einzuspielen. Die Rede eines amerikanischen Präsidenten! Im DDR-Rundfunk! Aber es funktionierte. Ich weiß heute noch nicht, wie Günter Neubert das geschafft hat. Ich vermute, mit sturer Hartnäckigkeit unter Verweis auf die Partitur und auf den berühmten Namen. Zu mir sagte er beim Hinausgehen: ich habe Ihr Mikrophon schon ausgeschaltet gehabt.
Nach der Wende verloren wir uns aus den Augen. Neubert gründete in Leipzig den „Sächsischen Musikbund“, weil er weder dem alten noch dem neuen Komponistenverband so recht über den Weg traute. Dieser Musikbund existiert heute noch als deutschlandweit einmalige Sonderlösung. Ich war mittlerweile im Verlag neue Musik angekommen und stieß auf den Namen Neubert, als ich am ersten Katalog für die Frankfurter Musikmesse bastelte. Mein Vorgänger Helge Jung blätterte kurz darin und sagte: „Beim Vornamen Günt(h)er muss man immer aufpassen. Es gibt sie mit und ohne „H“. Mein Eintrag zu Neubert war peinlicherweise mit „H“. Er hatte wenig im Verlag publiziert, darunter drei „Kaminstücke“, gewidmet Heinrich Heine, Nikolaus Lenau und Matthias Claudius, die in zwei verschiedenen Schulwerken erstens getrennt und zweitens deplatziert veröffentlicht waren. Mehrere Jahre habe ich gebraucht, bis sie als eigenständiges Heft erscheinen konnten.
Mit Schere und Klebstoff
Dann vertraute Neubert dem Verlag seinen Liedzyklus „…jeder Herkunft zu leben“ für Bariton und großes Orchester nach Texten von Ingeborg Bachmann an, dass er für Hannover geschrieben hatte. Ich saß monatelang an einem Atari-Computer und stellte eine Partitur her, die die damals in den Kinderschuhen steckende Musiksoftware „Notator“ kaum zu bewältigen imstande war. Quintolen und Septolen gingen gar nicht, auch ungleiche Werte zum Beispiel Viertel und Achtel unter einer Triolenklammer waren nicht möglich. Es gingen nur drei Achtel mit Bindebogen. Auch „copy and paste“ schieden aus, denn in Neuberts Musik wiederholte sich nichts. Dann rief das Orchesterbüro aus Hannover an, der Dirigent sei mit den Stimmen unzufrieden: die vielen kaum lesbaren Überbindungen, wer denn diesen Schwachsinn hergestellt hätte, ob der Verlag keine Noten lesen könne, so ginge das alles nicht… Um die Uraufführung zu retten, fuhr ich mit Schere, Klebstoff und ausgedruckten leeren Notenzeilen nach Hannover und überklebte von 10 bis 18 Uhr hunderte Triolenklammern mit extra zurechtgeschnittenen leeren Takten und schrieb mit der Hand die gewünschten Noten rein. Es war reine Sklavenarbeit, aber ich schaffte es. Die Uraufführung fand planmäßig im Jahre 1991 statt.
Heute ist das zwar alles Geschichte, aber die schon leicht von Patina überzogenen Erinnerungen werden stärker, wenn man älter wird. Es wird auch dem Jubilar ähnlich ergehen und deshalb bin ich auf sein Buch gespannt, von dem man munkeln hört ...
Alles Gute, lieber Kollege.
Walter Thomas Heyn