Hält man die von dem Pianisten und Klavierdozenten Stephan Kaller Ende 2022 veröffentlichte CD „Franz Liszt – Späte und geistliche Klavierwerke“ in den Händen, sticht einem zuerst die düstere Aufmachung ins Auge. Abgebildet ist der Ausschnitt eines von Bäumen umrahmten Sees in der Abenddämmerung. Der Himmel und die Pflanzen spiegeln sich im Wasser, das Bild transportiert eine dunkle, zugleich aber auch melancholische wie ruhige Stimmung. Die Betrachtung des Covers bereitet einen auf die Klänge vor, die in Kürze aus dem CD-Player zu vernehmen sind. Dargeboten werden Klavierstücke des ab 1861 entstandenen geistlichen Spätwerks des Komponisten Franz Liszt.
Der neue Palestrina der Kirchenmusik?
Auch wenn seine Zeitgenossin und Verehrerin, die Fürstin Sayn-Wittgenstein, in ihm den neuen Palestrina sah, weisen die Kompositionen Liszts wenig Gemeinsamkeiten mit denen des italienischen Meisters der Kirchenmusik auf. Liszt fokussierte in seinen Werken insbesondere die subjektiven, mit Religiosität einhergehenden Gefühle und legte weniger Wert auf einen maßvollen, zurückhaltenden Kompositionsstil, wie er in der geistlichen Musik üblich war. Der Aufgabe, diese Empfindungen auf das Klavier zu projizieren und diese neue Form der religiösen Tonkunst zu interpretieren, nimmt sich Stephan Kaller im Rahmen seiner CD an. Bereits mit dem ersten Stück, der ersten Legende, „St. Francois d’Assise prêchant aux oiseaux“ (S 175), stellt er seine enorme Virtuosität unter Beweis. Spielend wechselt er zwischen perlenden 32tel-Läufen und wuchtigen, klanggewaltigen Akkordfolgen.
Auch rhythmische Herausforderungen und Veränderungen der Tempi meistert Kaller mit Bravour. Darüber hinaus geht er besonders feinfühlig mit dem Einsatz der Dynamik um. Schnelle Tonfolgen, die nicht akkordisch begleitet werden, spielt er im Piano, teils Pianissimo, was die Passagen umso feiner und brillanter erscheinen lässt. Vollgriffige Akkorde werden wiederum im Fortissimo dargeboten und gekonnt akzentuiert. Neben seinem technischen Können beweist Kaller ein herausragendes Gespür für das Transportieren von Gefühlen und Stimmungen durch die Musik. Er schafft es über eine Stunde hinweg, die Spannung aufrechtzuerhalten: Man kann nicht anders, als aufmerksam zuzuhören und neugierig zu sein auf das, was als Nächstes kommt. Hervorzuheben sind vor allem die Stücke „Funérailles – Begräbnis“ (S 173 No.7) und „Trauervorspiel“ (S 206), da sie in ihrer Tragik wie Traurigkeit besonders ergreifend sind – beinahe zu Tränen rühren. Besteht über das Zuhören hinaus Interesse an den Stücken, können die Hintergründe und Werkbeschreibungen im mitgelieferten Booklet auf Deutsch oder Englisch nachgelesen werden. Stephan Kaller hat es durch seine Interpretation geschafft, die vermeintliche Intention des Komponisten Franz Liszt bezüglich seiner geistlichen Werke zu transportieren. Obwohl sich die Stücke allesamt melancholisch wie tragisch präsentieren, ist es Kaller gelungen, keinerlei Eintönigkeit aufkommen zu lassen, sondern die Spannung während der gesamten Laufzeit aufrechtzuerhalten. Die hochwertige Aufmachung und das enthaltene Booklet komplettieren diese hervorragende Darbietung.
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