Ein zufälliger Notenfund in einer Garage bei Verwandten bescherte der musikalischen Welt 20 Kartons mit Klavierwerken, unveröffentlichten Manuskripten und Erstdrucken von Cécile Chaminade. Es war ein doppelter Zufall: Der Entdecker war der Pianist Johann Blanchard und die bis dato unbekannte Musik von exzellenter Qualität. Es folgte eine kritische Auseinandersetzung mit dem Notenmaterial und CD-Aufnahmen, gepaart mit der Hoffnung, eine interessierte Zuhörerschaft zu finden. Diese Chance bekommt nicht jeder Nachlass. Leider, aber der Zufall kann manchmal nachhelfen.
Als sie in der lokalen Presse mein Interview zum Thema „Vergessene Komponistinnen“ las, fühlte sich die in Braunschweig lebende Großnichte einer Komponistin angesprochen und suchte den Kontakt zu mir, um auch hier dem Zufall in die Hände zu spielen. Ihre Großtante war eine Komponistin der Spätromantik, Anna Teichmüller (1861–1940). Es kam zum ersten brieflichen Informationsaustausch, zum persönlichen Treffen, zum Austausch des vorhandenen Notenmaterials. Die Großnichte, Anna-Matilda Fischer, übertrug viele der vorhandenen Briefe Teichmüllers, die in Göttingen geboren wurde. Anna Teichmüllers Vater war Philosophieprofessor. Die Familie lebte in Städten wie Göttingen, Dorpat, Jena, Berlin und Basel. Sie erhielt ihre musikalische Ausbildung in Jena und Berlin, lebte zeitweise in St. Petersburg. Anna Teichmüller verbrachte einen großen Teil ihres Lebens in der von Carl und Gerhart Hauptmann gegründeten Künstlerkolonie in Schreiberhau im Riesengebirge, ähnlich der in Worpswede. Hier beginnt sie mit 43 Jahren zu komponieren. Ihr Œuvre umfasst circa 150 Lieder für Singstimme mit Klavierbegleitung, in der Mehrheit zu Texten des Dramatikers Carl Hauptmann, aber auch zu Rainer Maria Rilkes oder Gottfried Kellers Gedichten, einige Klavierstücke („Die georgische Prinzessin“), eine Suite für Violine, eine Osterkantate, eine Oper und eine „Missa poetica“. Manche ihrer Lieder wie „Frau Nachtigall“, „Lärchenbaum“ oder „Windlied“ sind im Sujet schlicht gehalten, sicherlich beeinflusst von der sie umgebenden Einfachheit der Natur. Andere wiederum zeigen, bedingt durch die Textvorlage, viele expressive Elemente in der Gesangsstimme, die durch eine ausdrucksstarke Klavierbegleitung unterstützt werden („Die einsame Nacht“, „Ein Berittener“, „Waldnacht“). Die im Certosa-Verlag erschienenen „Sieben kleine Klavierstücke“ op.44, die sie höchstwahrscheinlich den Kindern in einem Kinderheim widmete, in dem sie arbeitete, sind kleine, abwechslungsreiche Charakterstücke, die sowohl durch ihre technische Vielfalt als auch durch ihre musikalischen Ideen („Mückentanz“ oder „Springinsfeld“) begeistern können.
Der größte Teil ihrer Werke wurde zu ihren Lebzeiten im Berliner Dreililien-Musikverlag veröffentlicht. Ihr musikalischer Nachlass ist in verschiedenen Nachlässen aufgeteilt (u.a. beim Vater und bei Carl Hauptmann), was die Aufarbeitung ihrer Biografie erheblich erschwert. Da Schreiberhau heute in Polen liegt, interessierten sich viele polnische Musikologen für Anna Teichmüllers Leben und Werk. Die vorhandenen Veröffentlichungen müsste man mit dem auf der der deutschen Seite existierenden Notenmaterial (aufbewahrt unter anderem im Archiv Frau und Musik in Frankfurt, in Berliner Archiven und Bibliotheken) und der erhaltenen Korrespondenz zusammenfügen und wissenschaftlich auswerten. Die Nachkommen von Anna Teichmüller bemühen sich intensiv um die vollständige Dokumentation ihres musikalischen Werkes. Es handelt sich also hier um eine unbekannte Komponistin, die wie so viele Frauen, ihr Talent ausleben, aber vielleicht nicht in allen Facetten entfalten konnten. Ihr gehört aber ein Platz in der Musikgeschichte, denn sie verdient eine Würdigung für ihr kompositorisches Schaffen und es liegt an uns, sie dem Prozess des Vergessens zu entreißen. Eine Gesamtausgabe ihres Liedschaffens, gefolgt von einer Audioaufnahme, wäre für ihre Rezeption wünschenswert. Damals fand sie ihre Zuhörerschaft, warum also nicht heute?