Ich bin Musiker und sagte nach der Wende in meinen Konzerten gerne: „Wir wohnen in Wandlitz“. Und nach einer kurzen Pause sage ich: „Aber wir warens nicht“. Dann lachten 80 Prozent der Zuhörer und ich sage: „Wer jetzt nicht gelacht hat, ist Wessi“. Dann lachen alle. Oder niemand. Mittlerweile sage ich das nicht mehr. Denn das Leben im wiedervereinigten Deutschland währt mittlerweile fast so lange wie das Leben in der verflossenen Ostzone. Wäre ich jünger, würde die zweite Lebenshälfe schon überwiegen. Meine zahlreichen Schüler, auch die Abiturienten unter ihnen, wissen kaum noch, wovon die Rede ist und selbst ihre Eltern sind mit ihren 40, 45 Jahren zur Wende gerade mal Grundschüler gewesen, wenn überhaupt. Aber wir wohnen eben in Wandlitz und werden jeden Tag beim Autofahren an diese Zeit erinnert, denn unsere Straße nach Berlin ist die alte, berühmt-berüchtigte Protokollstrecke, auf der die vergreisenden Herren täglich ein- und ausgefahren wurden.
Einmal durfte ich damals „da“ rein, in die sagenumwobene Siedlung, wo die Mächtigen wohnten. Vera Oelschlegel, eine bedeutende Brecht-Interpretin, lebte in diesem Städtchen, weil sie Konrad Naumann liebte, den bulligen Politbüroproll. Ihre Mutter, Ruth Oelschlegel, leitete die Leipziger Konzert-und Gastspieldirektion, die einzige Organisation, die Konzerte veranstalten durfte. Alle Musiker waren mehr oder weniger davon abhängig, und diese ziemlich tatkräftige Frau stellte allerlei Nützliches auf die Beine; sie erlaubte zum Beispiel der Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“ um den Komponisten Friedrich Schenker und den Oboisten Burkhard Glaetzner im Leipziger Rathaus eine Abo-Reihe mit neuester, schräger und provokanter Musik durchzuführen und sie förderte auch die jungen Musikstudenten. Sogar ein paar kritische Liedermacher ließ sie ein bisschen zu. Aber sie war auch verantwortlich für das Auftrittsverbot der „Klaus-Renft-Combo“ um den legendären „Cäsar“ Gläser. Alle diese Funktionäre damals hatten diese Doppelgesichtigkeit: Sie taten Gutes und Schlechtes, und keiner von ihnen war frei in seinen Entscheidungen, die sie, wenn es um politische Sachverhalte ging, letzten Endes nur zu verkünden hatten.
Die Mutter jedenfalls vermittelte den Kontakt zur Tochter, der ich meine Lieder vorstellen wollte, und die lud mich ein. Der halbe Tag bestand aus Warten: warten an diesem Tor, warten an jenem Tor, Gegensprechanlage, warten. Ich sah das Schwimmbad und die legendenumrankte Kaufhalle, in der es gerade Äpfel gab. Es passierte nichts. Meine Lieder blieben ungesungen. Drei Jahre später gab einer eine Pressekonferenz. Günther Schabowski las einen Zettel ab, dessen Inhalt seiner Meinung nach „sofort, unverzüglich“ in Kraft zu treten hatte. Danach blieb kein Stein mehr auf dem anderen.
Am Tag der Tage ging die Familie früh ins Bett. Außer mir. Ich zappte ein paarmal hin, erwischte Schabowskis Pressekonferenz und wusste dann, dass der Nachtschlaf kurz ausfallen würde. Schauderhafte und schöne Bilder ohne Ende, berauschend, einmalig! Die Familie nahm beim Frühstück beiläufig Notiz. In der Schule fehlten 50 Prozent der Lehrer und 80 Prozent der Schüler. Die Geschäfte waren leer, Busse und Bahnen fuhren deutlich seltener als sonst. Ich war nur müde.
Aber dann war die Mauer wirklich offen. Einfach so. Weil einer sich verquatscht hatte. Oder er hatte sich nicht verquatscht. Keine Ahnung. Alles fuhr los gen Wessiland, Begrüßungsgeld abholen. Peinliche Szenen die Menge. Neugeborene und Sterbende: Alle mussten mit, jeder Hundertmarkschein zählte. Auch wir waren unterwegs in einem so überfüllten Zug, dass die Angestellten der Reichsbahn mit Megaphonen außen vorbeiliefen, um dem Publikum mitzuteilen: „Die Achsenlast dieses Zuges ist überschritten. Mitreisen auf eigene Gefahr.“ Der Zug brauchte sechs Stunden statt derer zwei nach Berlin. Unser großes Kind, ein damals 14-jähriger Junge, kaufte nichts und weinte abends, weil er nichts gekauft hatte: Er konnte sich zwischen all den Sachen einfach nicht entscheiden. Das kleine Kind, ein zehnjähriges Mädchen, kaufte sofort ein Skateboard für 99,90. Alles kostete 99,90. Oder 9,99. Prima billig. Und so schön bunt hier. Die Fahrt zurück (wieder sechs Stunden) war horrorhaft: betrunkene Väter, übermüdete, hungrige, ständig erbrechende Kinder, die über die Köpfe der überreizten Erwachsenen zur Toilette durchgereicht werden mussten: Es war furchtbar. Nie wieder, sagte ich zu mit selbst und nahm wieder vor dem Fernseher Platz.
Die ganze irrsinnig-wunderbare Wiedervereinigung liegt nun 30 Jahre zurück und manchmal muss ich an das alte Mantellied von Karl von Holtei denken, der 1827 dichtete: „Schier dreißig Jahre bist du alt, hast manchen Sturm erlebt …“ Der Rest des Textes ist nicht mehr relevant. Aber die Wiedervereinigung ist eben auch 30 Jahre her und wurde von etlichen Stürmen begleitet, so wie die Gegenwart, die doch auch recht stürmisch daherkommt.
Gleich nach der glücksbesoffenen Öffnung der Mauer tauchten im öffentlichen Diskurs zwei hässliche Stereotype auf, die sich gegenseitig mit einer gewissen Herablassung spiegelten: das waren der „Jammer-Ossi“ und der „Besser-Wessi“ und beide hielten sich lange. Zum zehnten Jahrestag war das einigermaßen überwunden, mein Leipziger Dichterfreund Andrea Reimann schrieb eine zweite Kantate über die Ereignisse am Leipziger Ring. Dieses Werk wurde sofort im Gewandhaus uraufgeführt und vom Rundfunk mitgeschnitten. Zum 20. Jahrestag konnten wir dank Frank Kämpfer im Deutschlandfunk zu Köln zwei CDs mit des „Neuen Deutschen Volkes Lieder“ produzieren, eine lustig-hintersinnige Kompilation aus schräg-philosophischen Texten und allerlei musikalischen Versatzstücken. Zum dreißigsten Jahrestag ist das „Leipziger Liederbuch“ von Ralph Grüneberger erschienen, das auch eine Rekonstruktion einiger der damals verbotenen Lieder enthielt. Das ganze Jahr sollten Konzerte und Lesungen stattfinden und an die geschichtsträchtigen Tage erinnern. Dann kam Covid19.
Das ausgerechnet so ein unsichtbares Biest vom chinesischen Wochenmarkt oder aus dem Geheimlabor nicht nur die halbe Welt lahmlegt und zigtausende Tote erzeugt, sondern mir auch mein Lieblingsthema 2020, nämlich die musikalische Erinnerung an die friedliche Revolution und die Deutsche Einheit wegnimmt, das ist schon bitter. Aber vielleicht ist es auch ein Zeichen: eine Ermahnung, mit dem alten Kram aufzuhören, einen endgültigen Schlussstrich zu ziehen und die Gegenwart so anzunehmen, wie sie ist. Mein Testergebnis jedenfalls ist negativ, und das ist doch ziemlich positiv.