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„Diese Zahlen können Angst machen“

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Eine Studie zum Musikunterricht in der Grundschule legt deutliche Engpässe offen
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Dass es den Schulen an Fachlehrern mangelt, ist schon länger bekannt. Auch, dass Musik – insbesondere in der Grundschule – ebenfalls zu diesen Sorgenkindern gehört. Doch die Studie „Musikunterricht in der Grundschule. Aktuelle Situation und Perspektive“, eine Kooperation des Deutschen Musikrats (DMR) und der Konferenz der Landesmusikräte im DMR mit der Bertelsmann Stiftung, sorgt für Gewissheit. Prof. Dr. Ulrike Liedtke, Vorsitzende der Konferenz der Landesmusikräte, Vizepräsidentin des Deutschen Musikrates und des Deutschen Kulturrates und Präsidentin des Landtags Brandenburg, erläutert im Interview den durchaus kritischen Befund.

neue musikzeitung: Welche Be­obachtungen haben Sie in den letzten Jahrzehnten bezüglich des Musikunterrichts an Grundschulen in Deutschland gemacht?

Ulrike Liedtke: Bei Musikunterricht geht es nicht nur um musikalische Beschäftigung, sondern um Musik als Lernfach. Wenn Musikunterricht also aufbauend sein soll, so dass die Kinder jedes Jahr etwas dazulernen, braucht es Kontinuität und Qualifikation. Und ich glaube, wir haben alle die Beobachtung gemacht, dass es zu wenig Musiklehrerinnen und -lehrer gibt und dass Musikunterricht nicht kontinuierlich und qualifiziert genug erteilt wird. Das war erst einmal nur so ein Gefühl.
Da Kultur Ländersache ist, stand das Thema zunächst bei uns in der Konferenz der Landesmusikräte auf der Tagesordnung, mit allen 16 Ländern am Tisch. Hier haben wir die Kriterien eines guten Musikunterrichts erarbeitet. Dabei wurde uns immer stärker klar, dass wir als Forschungsgrundlage valide Zahlen brauchen, die uns zeigen, wie es um den Musikunterricht an Grundschulen in den einzelnen Ländern konkret bestellt ist.
Es hat von 2012 bis 2019 gedauert, diese Forschungsgrundlage zu erarbeiten. Für unser erstes Papier 2012, „Musikalische Bildung. Thema in 16 Variationen“, trug noch jeder Landesmusikrat seine Unterlagen zusammen. Im März 2020 lag erstmals das Ergebnis eines Forschungsprojekts auf dem Tisch, eine Kooperation von Landesmusikräten, Deutschem Musikrat und Bertelsmann Stiftung. Als Autoren haben wir mit Andreas Lehmann-Wermser und Horst Weishaupt zwei Koryphäen der Bildungswissenschaften gewonnen.
Der schwierige Schritt dabei war, von den Kultusministerien der Länder Zahlen zu erfragen. Schwierig deshalb, weil es in den einzelnen Bundesländern ganz unterschiedliche Unterrichtsstrukturen gibt: In Bayern heißt es etwa „Bei uns wird jeden Tag gesungen, Musik ist kein eigenes Fach.“ Im Gegensatz dazu führt Mecklenburg-Vorpommern eine genaue Statistik, wie viele Stunden Musikunterricht in jeder Klassenstufe unterrichtet werden. Wir waren zwar auf Unterschiede gefasst, aber dass sie so stark ausfallen würden, hatten wir nicht erwartet. Und diese unterschiedlichen Erhebungen mussten nun so zusammengefasst werden, dass ein Überblick entstehen konnte, wie viel Musikunterricht denn nun bei den Kindern in der Schule ankommt. Die Zahl, die sich aus dem Material ergibt, ist erschreckend: in der Hochrechnung haben 2.802.189 Grundschulkinder in den Jahren 2018/19 kein ausreichendes Angebot an Musikunterricht erhalten. 2,8 Millionen, das ist eine unvorstellbar hohe Zahl.

23.000 Fachkräfte fehlen

nmz: Was heißt „ausreichendes Angebot“?

Liedtke: Die beiden wichtigsten Punkte sind: Es muss eine ausreichende Anzahl von Unterrichtsstunden geben, und sie müssen von grundständig ausgebildeten Fachlehrerinnen- und -lehrern erteilt werden.
In unserer Studie haben wir aber ermittelt, dass an den Grundschulen in Deutschland derzeit 23.000 Musiklehrer fehlen. Um ausreichend fachlich erteilten Musikunterricht zu gewährleisten, braucht es 40.000, aber aktuell sind dort nur 17.000 ausgebildete Musikfachkräfte tätig. 36 Prozent davon sind über 55 Jahre alt, werden also etwa 2028 in den Ruhestand gehen. Von Brandenburg weiß ich, dass eine Lehrkraft, die etwa an mehreren Schulen Musik unterrichtet, von jeder dieser Schulen als Lehrkraft gezählt wird, also mehrfach zählt. Und hier gibt es einige Lehrer, die zwischen den Schulen unterwegs sind.
Was fachfremde Lehrkräfte angeht: Ich finde es natürlich wunderbar, wenn eine Klassenlehrerin mit ihren Kindern singt oder Musik anhört, und Musik lässt sich ja auch sehr gut in andere Unterrichtsfächer einbinden. Aber wir reden hier von Unterricht durch jemanden, der das Fach studiert hat und das Wissen und die Fähigkeiten der Kinder kontinuierlich von Schuljahr zu Schuljahr aufbaut. In den einzelnen Bundesländern wird bis zu 73 Prozent Musikunterricht fachfremd erteilt, wobei der Anteil von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich ist. Im Schnitt sind es 50 Prozent, also die Hälfte des Unterrichts.
Selbst wenn Lehrer Interesse an Musik haben oder schon Qualifikationen mitbringen, etwa ein Instrument spielen: Mathematik würde man niemanden fachfremd unterrichten lassen, nur weil er oder sie gerne mit Zahlen umgeht. Trotzdem gibt es nur in wenigen Bundesländern musikalische Fortbildungsangebote für Lehrerinnen und Lehrer.

nmz: Welche Folgen sehen Sie für die musikalische Bildung der Kinder?

Liedtke: Das Schlimmste ist, dass sie auf diese Weise keine kulturelle Vielfalt kennenlernen oder produzieren können. Deutschland hat die völkerrechtlich verbindliche UNESCO-Konvention zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen unterschrieben. Vielfalt von Kultur, auf die Musik bezogen, heißt, dass ich die ganze Bandbreite von Hiphop über Pop bis zu Formen der klassischen Musik und der Alten Musik kenne.Bei der UNESCO-Konvention wird das nach drei Ebenen unterschieden: Sie umfassen das musikalische Erbe, die aktuellen zeitgenössischen Ausdrucksformen und fremde Kulturen im eigenen Land. Kulturelle Vielfalt ist das oberste Ziel in der künstlerischen Ausbildung an sich.
Aber wenn ich heute 30 Radiosender durchhöre, spielen 27 davon eine eingängige Musikmischung nach Schema F ohne auch nur den Ansatz vielfältiger Kompositionsverfahren. Ich finde es sehr bedauerlich, dass wir so einseitig hören. Und es ist bekannt, dass sich bei einem Kind die Musikhörgewohnheiten bis zum 11. Lebensjahr ausprägen.
Alles, was danach an Neuem kommt, muss erlernt werden, es wird nicht mehr selbstverständlich durch Hören erworben. Es ist also wichtig, dass alle Kinder bis zum 11. Lebensjahr so viel Unterschiedliches wie möglich gehört haben. Nur so können sie in musikalischer Hinsicht ein vielfältiges kulturelles Spektrum entwickeln.

Der Ansatzpunkt: die Aus- und Weiterbildung

nmz: Wie ist die Situation bei der Lehrerausbildung?

Liedtke: Ich bin Professorin an der Universität Potsdam und bilde Musiklehrerinnen und -lehrer aus. Meine Studierenden haben zwei Fächer, also etwa Französisch und Musik, Deutsch und Musik oder Mathematik und Musik. Sie studieren beides gleichberechtigt und werden dann später in der Schule immer da eingesetzt, wo sie gebraucht werden. Und das sind in erster Linie die Haupt- oder Kernfächer. Wer Mathematik oder Deutsch und Musik studiert hat, unterrichtet später üblicherweise vor allem Mathematik oder Deutsch.
Momentan wäre also ein Programm zur Sofortfinanzierung einer Lehrkräftebildung im Fach Musik dringend notwendig. Dieses Programm sollte Interesse für Musik als Unterrichtsfach wecken und den Zugang zum Lehramtsstudium für Grundschulen an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen kanalisieren, etwa über eine passgenaue Eignungsprüfung, bei der Kenntnisse im Instrumentalspiel, der allgemeinen Musiklehre und des musikalischen Hörens Voraussetzung sind.Sinnvoll wäre dann auch, Kandidatinnen und Kandidaten auf diese Eignungsprüfungen vorzubereiten. Für ein Studium an einer Musikhochschule ist das ja auch üblich.

nmz: Gibt es Möglichkeiten, zusätzlich Lehrkräfte zu rekrutieren?

Liedtke: Da sehe ich wie schon erwähnt einerseits die Möglichkeit, fachfremd Musik unterrichtende Lehrkräfte fachlich weiterzubilden. Die andere Gruppe wäre die der Quereinsteiger, die aus einem musikspezifischen Beruf kommen, aber sich pädagogisch nachbilden müssten.
Das wird zur Überbrückung von ausfallendem Musikunterricht auch dringend notwendig sein, um die oben schon genannten Zahlen zum Lehrermangel zu ergänzen. Auch der Ausfall verteilt sich nach Bundesländern sehr unterschiedlich, aber die Zahlen können Angst machen. In einem Bundesland wird an 9,6 Prozent der Grundschulen überhaupt kein Musikunterricht erteilt.
Vielleicht waren wir in dieser Hinsicht doch zu sorglos. Vielleicht hat es erst diese Studie gebraucht, um die Tatsachen und den damit verbundenen Handlungsbedarf genau zu erkennen. Hier kommt nichts von allein in Ordnung. Hier muss von verschiedenen Seiten nachgearbeitet werden, was die Aus- und Weiterbildung angeht. Eine Überbrückung ist notwendig, anders geht es nicht.

nmz: Sehen Sie in der Kultur- und Länderhoheit ein Problem?

Liedtke: Wir Kooperationspartner – der Deutsche Musikrat die Konferenz der Landesmusikräte und die Bertelsmann Stiftung – schlagen die Bildung einer Taskforce „Mehr Musik in der Schule“ vor. Zu dieser Taskforce müssten neben dem Deutschen Musikrat und der Konferenz der Landesmusikräte auch alle anderen maßgeblichen Institutionen gehören: die großen Musikfachverbände, Musikhochschulen, Universitäten und Pädagogische Hochschulen, die Kultusministerkonferenz, die Beauftragte für Kultur und Medien, der Bundesrat, der Deutsch Städtetag, der Landkreistag, der Städte- und Gemeindebund, Berater und Vertreter der Bildungsministerien.
Natürlich könnte rein theoretisch jedes Land für sich dieses Problem lösen. Aber für den Austausch, gegenseitige Hilfe und große Aktionen etwa in der Aus- und Weiterbildung wäre eine solche Taskforce notwendig.

 

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