Hauptbild
Drei runde Stahlträgerringe schweben über den Köpfen von drei Personen, die den Raum mit Parkettboden und Bestuhlung begutachten

Digital Performance Room, HfM Detmold. Foto: Matthias Schröder

Banner Full-Size

Digitale Lehre an Musikhochschulen

Untertitel
Gedanken und Perspektiven
Vorspann / Teaser

„Fortschritt ist nur möglich, wenn man intelligent gegen die Regeln verstößt!“. Dieser bekannte Ausspruch des Berliner Theaterregisseurs Boleslaw Barlog unterstreicht, dass Fortschritt und Veränderungen nur dann möglich sind, wenn sie Widerstände überwinden.

Publikationsdatum
Paragraphs
Text

Die Digitalisierung ist einer der aktuell prägendsten Begriffe der öffentlichen Diskussion, wenn es um das Thema Fortschritt geht. Dabei bedeutete Digitalisierung ursprünglich lediglich die Umwandlung von analogen Formaten in digital verwendbare Informationen. Erst seit gut zehn Jahren steht die Digitalisierung im allgemeinen Sprachgebrauch für den Transformationsprozess in Wirtschaft und Gesellschaft mit Blick auf die Ausschöpfung des Potenzials digitaler Technik. Ob es um das Homeoffice, das Smarthome oder E-Business geht, die Diskussion um den Fortschritt durch Digitalisierung hat ebenso viele Befürworter wie Skeptiker, die den Prozess ablehnen. Erstere dominieren die Diskussion, weil kaum jemand öffentlich anzweifeln wird, dass sich die Digitalisierung noch aufhalten ließe und deren Nutzen größtenteils unstrittig ist – die Zweifler sind meist im Stillen zu finden und bremsen den Transformationsprozess durch passiven Widerstand. Letztlich war es die Corona-Pandemie, die die Digitalisierung in den Alltag der Menschen katapultiert und zu irreversiblen Veränderungen in der Arbeitswelt und dem Privatleben geführt hat. Heimarbeit im Home-Office mit Zoom-, Teams- oder Skype-Videokonferenzen ist heute fester Bestandteil in vielen Arbeitswelten, das Audio- und Video-Streaming ersetzen das alte Fernseh- und Radioprogramm zunehmend und der Onlinehandel in Deutschland verzeichnet 2023 knapp 90 Milliarden Euro Warenumsatz.

Welche Auswirkungen hat nun die Digitalisierung auf das Musikstudium und welchen Nutzen können Musikhochschulen aus diesem Transformationsprozess ziehen? Diese Frage stellte sich die Hochschule für Musik Detmold im November 2022 anlässlich eines Tages der Lehre unter dem Motto „Lehre unter Strom – Digitale Potentiale an der HfM Detmold“. Intensiv diskutiert wurde auf Initiative des Teams Studiengangsentwicklung unter Lehrenden und externen Gästen, wie digitale Formate sowohl in der Hochschuldidaktik als auch in der künstlerischen Lehre genutzt werden können. Wenn Musikstudierende auf einen hochmodernen und sich dynamisch entwickelnden Arbeitsmarkt vorbereitet werden sollen, dann sind nicht nur berufspraktische Kenntnisse erforderlich, die etwa in Musikmanagementkursen vermittelt werden können, es müssen vielmehr digitale Tools im Lehrbetrieb genutzt werden, die im späteren Berufsleben bereits heute alltäglich sind, zumindest in der jüngeren Generation von Berufsmusiker*innen. Karolin Schmitt-Weidmann, Musikpädagogin und -wissenschaftlerin, Flötistin und Pianistin, legte nun im Nachgang zum „Tag der Lehre“ als Herausgeberin und Autorin den sehr lesenswerten Band „Lehre unter Strom. Digitale Perspektiven für Lehrende an Musikhochschulen“ vor. Veröffentlicht im Wolke Verlag, bietet der Sammelband auf rund 150 Seiten neun Beiträge, die die Digitalisierung im Musikhochschulbetrieb aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Keine Selbstverständlichkeit, wie Schmitt-Weidmann im Vorwort konstatiert: „Während der Computer im Kompositionsstudium schön längst ‚Hauptfachcharakter‘ erlangt hat, erhalten digitale Medien auch zunehmend Einzug in eher traditionsverpflichtete Studiengänge an Musikhochschulen. Diese weisen zunächst eine vergleichsweise geringe Digital-Affinität auf, widmen sie sich doch der Musik früherer Jahrhunderte mit den damit einhergehenden nicht-digitalen Aufführungspraxen, in denen dem ‚Handgemachten‘ (ohne Beteiligung von Maschinen) besondere Qualität und hoher Wert beigemessen wird – angefangen von der Kunst des Instrumentenbaus bis hin zum unmittelbaren Erleben von Aufführungsereignissen in körperlicher Ko-Präsenz von Künstler*innen und Publikum.“

Was bringen denn aber nun angehende Musikstudierende beim Übergang von der Schule in die Hochschule an digitalen Kompetenzen mit? Diese Frage beantwortet Dirk Weidmann ausführlich in seinem Beitrag „Kreativität, Kollaboration, Kommunikation und Kritisches Denken im Kontext der Digitalisierung“: „Insbesondere die älteren Schüler*innen [haben] im Verlauf der letzten Jahre solide digitale Kompetenzen erworben (…)“. Folgerichtig resümiert Tobias Rotsch in seinem Fallbeispiel „Bedarfsorientierter und dingorientierter Einsatz digitaler Dinge und Medien im Seminaralltag“, seine eigene Lehrtätigkeit habe sich mit dem digitalen Wandel ständig verändert: „Heute beginnen junge Menschen ausgestattet mit eigenen Laptops und Smart Devices ihr Studium bereits mit breiter methodisch-didaktischer Vorerfahrung“. Rotsch beschreibt überaus anschaulich, wie der Einsatz digitaler Tools in seinem Seminar zur „Kulturgeschichte der Popularmusik“ erfolgt und in Praxiseinheiten konkret methodisch eingebaut wird. Hier zeigt sich auch die Stärke dieses Sammelbandes, der weniger theoretische Abhandlungen vorstellen, sondern vielmehr Potentiale und Einsatzmöglichkeiten digitaler Werkzeuge aufzeigen will. So beschreibt in einem Interview Saxophondozentin Diane Hunger, wie sie digitale Werkzeuge in der künstlerischen Lehre einsetzt. Dabei geht Hunger über das reine Ersetzen von analogen Medien durch digitale Medien hinaus. Die Nutzung digitaler Notenausgaben erleichtere natürlich das Handling in allen Teilbereichen vom Üben, über das Konzert bis zum Unterrichten enorm. Die Erweiterung der Nutzung von digitalem Notenmaterial, etwa durch Interpretationsvergleiche, den sekundenschnellen Vergleich von Solostimme und Partitur oder die parallele Nutzung verschiedener Apps wie Notenapp, Stimmgerät und Metronom, Aufnahmefunktionen und Annotationsmöglichkeiten sei ein echter Mehrwert. Apps wie „Tonal Energy“ setzt Diane Hunger ein, um das Rhythmusgefühl zu stärken, digitale Tools ermöglichten außerdem interaktive und kollaborative Lernprozesse wie das gegenseitige Kommentieren von Noten-, Audio- oder Videomaterialien. Keine Digitalisierung ohne digitale Technik! Die Autoren Malte Kob, Dustin Eddy und Kim Efert stellen in „Anwendung digitaler Techniken für die Übertragung und Vermittlung von Musik“ ein Spektrum an Methoden und Techniken vor, denen unter anderem folgende Fragestellungen zugrunde lagen: „Wie kann Musik mit räumlich verteilten Schallquellen dargeboten werden? Wie lässt sich auch in größerer Distanz synchron miteinander musizieren? Wie können klangliche Eigenschaften von Musik in der Lehre auch visuell vermittelt werden?“. Der mit Grafiken und Bildern auch für Laien verständlich geschriebene Aufsatz will Wege aufzeigen, wie „die analogen Methoden der Lehre um Produkte aus dem Gebiet aktueller Forschung und Entwicklung“ erweitert werden können: „Wenn etwa eine latenzarme Übertragung von Bild und Ton für Studierende und Lehrende auch im Homeoffice möglich wäre“, könnten Proben und Unterricht flexibler gestaltet werden. Der unlängst zum „Digital Performance Room“ umgestaltete Audienzsaal der HfM Detmold avanciert somit zu einem eminent wichtigen Forschungs- und Studienort.

Anhand von vier Seminarmodellen stellt Malte Sachsses Beitrag das Konzept „Deeper Learning im Lehramtsstudium Musik“ vor und sucht nach dem Innovationspotenzial des Ansatzes für die Hochschullehre. Dabei präsentiert Sachsse, der Deeper Learning als Methodenkonzept versteht, Seminarkonzepte aus den Bereichen Musikpädagogik und Musiktheorie, die „unter Nutzung von Potenzialen der Digitalität (…) mit anderen Wissensformen und multimodalen Zugangsweisen“ Vorbildcharakter haben können. Sachsse sieht mit Verweis auf die Diskussion beim 2. Tag der Lehre an der Hochschule für Musik Detmold große Chancen für „die Initiierung und Gestaltung interdisziplinärer Lehrkooperationen, für digital und hybrid vernetzendes, kollaboratives Lernen in ‚Laborsituationen‘, für die gemeinsame Erarbeitung multimedialer Open Educational Ressources in für alle zugänglichen virtuellen Räumen (…)“.

Jörn Loviscach geht in seinem Beitrag „Künstliche Intelligenz und die Lehre an einer Musikhochschule“ auch auf die Nutzung von KI-Anwendungen für Musik und Audio ein, ausgehend von den ersten Anwendungen, zur Erzeugung, Analyse, Verarbeitung und Verwaltung von Musik über die klassische Computer-Repräsentation von Musik als MIDI-Datei oder die Nutzung von ChatGPT bis zur Erstellung von Kompositionen durch KI. Loviscachs sehr lesenswerter Beitrag sieht die Chancen bei der Nutzung von Künstlicher Intelligenz im Musikstudium unter anderem in der Übernahme von Assistenzaufgaben: „Die KI blättert die Partitur automatisch weiter, verwandelt Musiksammlungen in direkt nutzbare Sample-Sammlungen, schlägt zu einer Melodie einen vierstimmigen Satz vor, nimmt, gesteuert durch natürlichsprachliche Kommandos, Änderungen in der Audioproduktionssoftware vor. (…) Automatische Bewertungen und Übungstipps für den Instrumental- oder Gesangsunterricht, vielleicht sogar für den Ensembleunterricht – ob mit oder ohne Lehrperson – sind absehbar.“

An dieser Stelle muss auf den zentralen Beitrag der Herausgeberin Karolin Schmitt-Weidmann hingewiesen werden mit der Fragestellung „Digitalisierung als Lösung oder Problem für ein gelingendes Zusammenleben in der Zukunft“. Die Autorin stellt die Argumente von Befürworter*innen und Gegner*innen der Digitalisierung gegenüber und lädt zur Reflexion und Positionierung ein.

Auch Florian Ludwigs lesenswerter Zwischenruf „Fehlt da was oder kann das weg – Ein Zwischenruf aus dirigentischer Sicht“, in dem Ludwig den Sinn von digitalen Ferndirigaten und Videobeurteilungen in Bewerbungsverfahren kritisch hinterfragt, ist eine bereichernde Lektüre: Videoaufnahmen könnten zwar in der Lehre hilfreiche Instrumente sein, bei Auswahlverfahren und auch beim digitalen Livedirigat dürfe die „Dreidimensionalität unseres Berufes“, so Ludwig, nicht vergessen werden: „Dirigieren findet im Raum statt, nicht auf der flachen Ebene eines Bildschirms. Das Körpergefühl und der Atem, welche sich auf die Musiker*innen übertragen und das musizierende Miteinander zwischen Dirigent*in und Orchester erst ermöglichen, brauchen die Präsenz des lebendigen Menschen und nicht deren elektronische Abbildung“. Und so fordert Ludwig zurecht, sich nicht von blendend aufgenommenen Videomitschnitten leiten zu lassen, sondern „lieber mehr Kandidat*innen eine Chance im realen Leben zu geben“. Auf das Paradoxon, dass Musikstudierende lernen müssen, ihre analoge Kunst, das Livekonzert auf der Bühne, auf digitalem Wege zu vermarkten, weise ich ebenfalls in meinem Beitrag „Onboarding für Musiker*innen – Welche Kompetenzen werden im Berufsleben benötigt?“ hin: Ohne digitale Medien wie Videos und Hörbeispiele, ohne eine eigene Webseite, ohne die Präsenz in Social Media wird ein*e angehende*r Musiker*in keine Konzerte akquirieren und kaum ein Bewerbungsverfahren überstehen können: „Social Media-Plattformen dienen schon längst nicht mehr allein der Unterhaltung und Information, sie können neben dem erwähnten Networking als wichtige Tools für das Marketing und den Vertrieb von Musik dienen (…). Im bes­ten Falle kann die Nutzung von Social Media-Kanälen im Einklang mit der Künstler*innen-Homepage und dem analogen Werbematerial wie Flyern und Plakaten eine Musiker*innen-Marke erschaffen, ein Image befördern und somit die Attraktivität von Musiker*innen für Veranstalter*innen und das Publikum steigern. Die Akquise von Konzerten, die Anwerbung neuer Musikschüler*innen, die Platzierung von Produkten wie eigenen Musik­arrangements und Musikaufnahmen auf dem Musikmarkt läuft inzwischen größtenteils auf digitalen Pfaden. (…) Digitale Kompetenzen zählen zu den wichtigsten Lerninhalten im Bereich des Musikmanagements und der Selbstvermarktung, aber natürlich auch im Bereich der Musikpädagogik, die ohne digitale Tools im Unterricht kaum noch auskommt“. Mein Fazit lautet somit: Innerhalb der Hochschullehre muss die Vermittlung digitaler Kompetenzen eine signifikante Rolle spielen, nicht nur in berufsvorbereitenden Kursen, im Fach Musikmanagement oder den Angeboten der Karrierezentren, sondern auch in musikwissenschaftlichen und musikpädagogischen Seminaren, in der Musikvermittlung und in der künstlerischen Ausbildung.

Buch-Tipp

Karolin Schmitt-Weidmann (Hg.): Lehre unter Strom. Digitale Perspektiven für Lehrende an Musikhochschulen, Wolke Verlag, Hofheim 2023, 32 Euro (oder als Open-Access-PDF)

Ort
Print-Rubriken