Kaum ein anderer ernstzunehmender Komponist der heutigen Zeit kann auf solch ein gewaltiges Œeuvre blicken wie der in München wirkende Enjott Schneider. So misst alleine das kleingedruckte Werkverzeichnis in dem ihm gewidmeten Band der Reihe „Komponisten in Bayern“ knapp 30 Seiten, und die Autor*innen der Aufsätze über sein Werk standen vor der Herausforderung, wie sie denn einen breiten und gleichzeitig profunden Überblick über solch einen Berg an Musik gewährleisten können.
Die meisten unter ihnen wählten die Lösung, das jeweils gesamte Themenfeld ihrer Beiträge zu durchschreiten und jedes Werk in wenigen Sätzen vorzustellen. So führt uns Dorothea Hofmann durch die (weltliche) Vokalmusik, Charlotte Seither durch die geistliche Musik und Matthias Keller durch die Werke Schneiders, die im direkten Kontakt mit musikgeschichtlichen Vorbildern stehen und mit ihnen in Dialog treten. Dorothea Hofmann knüpft in einem zweiten Artikel an letzteren an und bespricht Schneiders weltmusikalische Einflüsse, wobei sie vor allem auf die Werke Bezug nimmt, die ihre Energie aus asiatischen Wurzeln ziehen: seien es die Instrumente, oder die für Schneiders Komponieren eminente Weise des Geschichtenerzählens durch Töne oder sogar die Sprache, was in der chinesisch-sprachigen Oper „Marco Polo“ gipfelt.
Detailliert geht Andreas Weidinger auf ausgewählte Filmmusiken des Komponisten ein und setzt einen Schwerpunkt auf Schneiders Intention, kontrastierende Innenwelten der Protagonisten zu erforschen und so das Bedeutungsverhältnis zwischen Bild und Ton auszuloten. In die Tiefe geht vor allem Kay Westermann, der aus dem großen Spektrum von Enjott Schneiders Bühnenwerken drei möglichst verschiedenartige auswählt und analysiert: die Kammeroper „Das Salome-Prinzip“ als Erstlingswerk, die „klassische Oper“ bzw. Literaturoper „Bahnwärter Thiel“ sowie den Liederzyklus „Robert Schumanns Traumreise“, den Schneider ebenso als bühnendramatisches Werk einstuft. Anhand dieser nur drei Beispiele deckt Westermann gerade durch die genauere Besprechung die Verschiedenheiten beziehungsweise entsprechend auch die Vielseitigkeit der Musik Enjott Schneiders auf, kann aber auch allgemeine Kompositionsprinzipien erkennen. Die Komponierweise will Johannes X. Schachtner, selbst gefragter Komponist, ergründen: Dabei stellt er besonders das narrative Komponieren Schneiders in den Vordergrund, also das bildliche, beschreibende Element, das dabei aber nicht programmmusikalisch erscheint. Er zitiert Schneider: „Es gibt keine Programmmusik, sondern Ausdrucksmusik, expressiver Klang: Jede Verwendung eines Tones oder Rhythmus oder Lauts ist Ausdruck einer ,inneren‘ – rein formale Musik, die nicht zeichenhaft auf ein Inneres verweist, gibt es nicht.“
Neben zwei biografischen Aufsätzen von Jürgen Geiger und Antje Müller kommt der Komponist zwei Mal selbst zu Wort: zunächst im Gespräch mit dem Herausgeber Franzpeter Messmer und schließlich in einem eigenen Aufsatz. In diesem beschreibt er seine erste Erfahrung mit der Oper als Vierzehnjähriger, einer Freischütz-Aufführung, die für seine ganze weitere Entwicklung maßgeblich werden sollte: „Ich wollte ,Tore zu einer anderen Welt‘ öffnen, jenseits der Realität, jenseits der Worte.“ Schnell lernte Schneider durch hörende und analysierende Aneignung die Vokabeln und Formeln zu verstehen, sie als eigene Sprache mit allen syntaktischen Feinheiten immer neu zusammenzusetzen und weiterzuführen. Nun ging es darum, die Sprache zu erweitern, indem er ihr immer neue Vokabeln aus anderen Bereichen hinzufügte, woraus ein „Cross-Culture-Komponieren“ resultierte sowohl auf horizontaler Ebene durch Inklusion von Elementen anderer Länder und Kulturen sowie auf vertikaler Ebene durch den ständigen Kontakt mit den großen Meistern aller Epochen der Musikgeschichte, deren Stilwelten keiner so trefflich aufgreifen, verwandeln und weiterführen kann wie Enjott Schneider.