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Ein Kalender macht Geschichte

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Der Tonkünstler Kalender – das Vademecum von Musiklehrern und Musikern
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Der Tonkünstler Kalender hat Geburtstag. 60 Jahrgänge liegen hinter ihm. Seiner Geschichte nachzuspüren, ist aufschlussreich. Kalender ist ein altes Wort. Im Lateinischen calendarius. Bei den Römern galt das calendarium als das zum Monatsanfang zu verkündende Schuldenverzeichnis, das zur Zahlung aufrief. Calendae deshalb der Ausruftag, „weil am Ersten des Monats die Zinsen bezahlt werden“ und dafür die Schuldner zusammengerufen wurden. Warum soll zum Monatsanfang unser Tonkünstler-Kalender nicht auch an die Honorarzahlungen erinnern?

Die Goldenen Zwanziger Jahre

Im schicken Bordeaux-Rot präsentiert sich der Jubiläumsjahrgang 2014, gerechnet von der Wiedergeburt im Jahre 1954. Wir haben interessante Entdeckungen gemacht: vor fast 100 Jahren hat sich schon einmal ein Kalender für unseren Berufsstand engagiert und man staunt, wie sich doch Probleme und Sorgen von damals mit denen von heute ähneln! Als 1919 die Musikverlage Lienau den H.R. Krentzlin-Unterrichtsverlag in Berlin-Lichterfelde übernahmen, brachte dieser seinen „Musiklehrer-Kalender“ ein, im Verlagsverzeichnis in Ganzleinen gebunden für 2,70 Mark angeboten. 1919 von der Deutschen Nationalbibliothek bibliographisch erfasst als „Deutscher Musiklehrer-Kalender“, 1919/20 mit dem Zusatz „damit Ersch. eingest“, was allerdings nicht stimmte. Denn für die Folgeperioden 1922/24 und 1925/27  fanden sich Exemplare des Deutschen Musiklehrer-Kalenders im Archiv des Lienau-Verlages (heute nahe Frankfurt/Main zusammen mit dem Musikverlag Zimmermann angesiedelten). Ein weiterer erschien 1940 mit den Jahresübersichten für 1941/42. Inhaltlich waren diese Kalender, wie es auf der Titelseite hieß „Jederzeit verwendbar, an kein bestimmtes Jahr gebunden, Stundenpläne für 52 Wochen berechnet“. Sie verstanden sich also eher im Sinne eines Almanachs als „Praktisches Gebrauchs- und Nachschlagebuch für die wirtschaftlichen und geistigen Interessen des Musiklehrerstandes, herausgegeben von Richard Krentzlin“, Umfang rund 250 Seiten im Postkartenformat, mit persönlichen Lektions- und täglichen Stundenplänen, auch als „Anschreibebuch für die monatlichen Einnahmen und die ausgegebenen Musikalien“, eingeschlossen ein musikbezogener Inseratenanhang.
Krentzlin bereicherte seinen Kalender mit einem „Musikliterarischen Teil“ belehrenden Charakters, so der Leitartikel über „Die ethische Bedeutung des Musikunterrichts“ von Gustav Ernest.  Oder über „Die Vorbildung für den musikalischen Lehrberuf“ von Marie Leo.Fast ein Lehrbuch ersetzend folgten Fachbeiträge von Musiktheorie bis hin zur Versicherungspflicht von Musiklehrenden.

Tonkünstler-Verbände formieren sich

Im Jahrgang 1922/24 beschwört ein bissiger Leitartikel von Niels H. Magnus den „Verfall der Kunst!“ und setzt sich kritisch-arrogant mit den „Pfadfindern neuer Tonalität“ auseinander. Ein Aufruf appelliert, sich zur beruflichen Sicherung in den zuständigen Verbänden zusammenzuschließen. „Es geht  um das Leben und die Ehre unseres Standes und zugleich um die künstlerische Zukunft unseres Volkes“, unterschrieben von den neun „Vereinigten Musikpädagogischen Verbänden“, darunter der „Central-Verband deutscher Tonkünstler und Tonkünstler-Vereine  e.V.“ mit Sitz in Berlin. Sie kämpfen gemeinsam für eine staatliche Regelung des Musikunterrichtswesens. Der Kalender 1925/27 entsteht „unter Mitarbeit des Reichsverbandes deutscher Tonkünstler u. Musiklehrer“. Am Anfang steht ein 18 Druckseiten umfassender Artikel von epochaler Bedeutung: Arnold Ebel, Vorsitzender des Berliner Tonkünstler-Vereins und Vorsitzender des „Reichsverbandes Deutscher Tonkünstler und Musiklehrer  e.V.“ interpretiert den aktuellen „Preußischen Erlass über den Privatunterricht in der Musik“ vom 2. Mai 1925, der die gesamte private Musikerziehung unter den lang erstrebten Schutz des Staates stellen soll. Dieser Erlass wertet zugleich den Berufsstand der damals rund 10.000 privat unterrichtenden Musiklehrer auf, die sich nach und nach in den verschiedenen regionalen Organisationen der Musiklehrer(innen) zusammengeschlossen haben, zunächst 1897 im „Reichsverband der deutschen Musiklehrerinnen“, 1903 im „Zentralverband Deutscher Tonkünstler“. Weitere Fusionierungen führten schließlich 1922 zum „Reichsverband Deutscher Tonkünstler und Musiklehrer“.
Waren Im Adressteil des Kalenders 1922/24 über 60 Musiklehrer- und Tonkünstlervereine aufgelistet, so präzisierte die Ausgabe 1925/27 rund 200 Ortsgruppen des Reichsverbandes deutscher Tonkünstler mit ihren Provinzialverbänden zwischen Ostpreußen und Bayern, ergänzt um je 20 weitere Fachverbände und Unterstützung gewährende Stiftungen und Altersheime. Die zwischen 1919 und 1925 erschienenen drei Krentzlin-Kalender waren in ihrem Angebot ausdrücklich nicht an das Kalenderjahr gebunden. Damit sie dennoch aktuell vertrieben werden konnten, wurde das jeweils überholte Kalendarium herausgeschnitten und durch ein eingeklebtes  aktuelles Kalendarium ersetzt.

Der braune Kriegs-Kalender

1940 erschien die letzte Ausgabe des Deutschen  Musiklehrer-Kalenders mit den Jahresübersichten 1941/42, wohl kriegsbedingt reduziert auf 200 Seiten, Auflage 3000, nur teilinhaltlich orientiert an den Vorgänger-Ausgaben. Dazu Judith Picard, Archivpflegerin im Lienau-Verlag: „Der ‚letzte‘ Kalender ist natürlich auffallend von seiner nationalsozialistischen  Erscheinungszeit geprägt, anderes durfte vermutlich gar nicht veröffentlicht werden. Abgesehen von den inhaltlich entsprechend linientreuen Artikeln fällt auch die Auswahl der Komponistenliste auf; während in den ‚Lebensdaten berühmter Musiker‘ in den beiden in unserem Archiv vorhandenen Kalendern der 20er-Jahre etwa Mendelssohn Bartholdy ausdrücklich erwähnt wird, taucht er im Kalender 1941/42 gar nicht mehr auf.“
Die 1933 „freiwillige“ Liquitation und Gleichschaltung, das heißt die Auflösung der Tonkünstler-Verbände und deren Überführung in die Fachschaft Musikerzieher der Reichsmusikkammer spiegelt sich im Kalender. Vom Tonkünstler-Verband ist nicht mehr die Rede. Der veränderten politischen Situation schuldete ein kurzer Leitartikel von Oswald Schrenk „Der Private Musikerzieher im Dritten Reich“ mit den Regelungen zum Unterrichtserlaubnisschein und zur staatlichen Privatmusiklehrerprüfung. Abgedruckt sind die neuen Unterrichtsbedingungen für den Privatunterricht in „Musik und Richtlinien“ für den Gruppenunterricht nach den Regelungen der Reichsmusikkammer. Unter der Überschrift „Musikunterricht und Dienst in den politischen Formationen“ finden sich die sogenannten Verfügungen „Zur Neugestaltung des deutschen Musiklebens“ und als Kontaktadressen lediglich die der eingesetzten „Landesleiter in den Gauen 1 bis 33“.
 

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