Mit, man darf es an dieser Stelle wohl sagen, bald einundneunzig Jahren blickt Ursula Keusen-Nickel auf ein langes, von der Musik stets begleitetes und geprägtes Leben zurück. Direkt nach dem Abitur studierte sie an der Staatlichen Hochschule für Musik in Köln Violoncello und Kammermusik. Hier begann sie auch schon mit dem Verfassen eigener Kompositionen. Eine Tätigkeit als Cellistin im damaligen Städtischen Orchester Bonn sowie eine Lehrtätigkeit als Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Bonn folgten. 1968 wechselte sie als Lehrkraft an die Musikschule der Stadt Bonn und übernahm 1975 die Leitung der Musikschule der Stadt Sankt Augustin. Dieser blieb sie bis zur Beendigung ihrer Dienstzeit im Jahr 1997 treu.
Doch läge man falsch mit der Annahme, dass damit auch Ursula Keusen-Nickels musikalische Tätigkeiten eine Beendigung erfuhren. Seit ihrem „Ruhestand“ wirkte sie freiberuflich als konzertierende Cellistin, Pädagogin, Dirigentin und Komponistin. Die vielen Konzertreisen führten sie in europäische Länder. Vor allem in Spanien lernte sie neben der Landschaft und der Mentalität der Menschen auch deren Musik kennen. Ihre so gewonnenen Erfahrungen und Eindrücke verarbeitete sie erkennbar in ihren Kompositionen. Unter anderem entstanden musikalische Zusammenarbeiten mit beispielsweise der katalanischen Komponistin und Pianistin Maria Àngels Alabert. Aber auch nach England, Frankreich und Polen trug sie die Musik. Durch ihre Ehe und vierzigjährige intensive musikalische Zusammenarbeit mit dem leider schon verstorbenen Flötisten Jost Nickel entstanden zahlreiche Kompositionen für und mit Flöte.
Seit den Siebzigerjahren ist Ursula Keusen-Nickel Mitglied im DTKV (bzw. dem vorangehenden Verband VDMK (Verband deutscher Musikerzieher und konzertierender Künstler), bis sich schließlich 1993 die Verbandsbezeichnung DTKV etablierte) – seit über 50 Jahren also. 1975 schlossen sich die Bezirksverbände Bonn, Bad Godesberg und Siegburg zusammen und gründeten den heutigen Bezirksverband Bonn/Rhein-Sieg, dessen Vorsitz Ursula Keusen-Nickel seitdem bis ins Jahr 2015 erfolgreich innehatte. Ab 1993 war sie Mitglied des Landesvorstands und von 2009 bis 2014 Landesvorsitzende des DTKV in NRW.
Von 1983 bis 2011 war sie zudem Vorsitzende im Regionalausschuss von „Jugend musiziert“ und gehörte auch in den Folgejahren noch diesem Gremium an.
Ursula Keusen-Nickel erhielt 1997 das Bundesverdienstkreuz, einerseits für ihren langjährigen Einsatz im DTKV, andererseits – auf Antrag der Stadt Sankt Augustin – für ihre außergewöhnlichen Aktivitäten beim Ausbau des internationalen Austauschs im Musikschulbereich.
Cordula Schlösser-Braun: Frau Keusen-Nickel, Sie blicken auf ein langes musikalisches Leben zurück. Gibt es ein oder zwei ganz besondere Ereignisse, an die Sie sich erinnern?
Ursula Keusen-Nickel: Das war 1985 in Figueres/Katalonien. Es war das erste Konzert auf einer Tournee mit dem Jugend-Sinfonieorchester Sankt Augustin unter meiner Leitung. Wir spielten auf Einladung des deutschen Konsuls. Ich hatte speziell für die Konzertreise zwei Sardanas komponiert in einer Fassung für Orchester (Sardana ist der typische katalanische Volkstanz, ein Ausdruck der eigenständigen Kultur der Katalanen). Diese beiden Stücke spielten wir am Ende unseres Programms. Danach brach ein riesiger Jubel aus. Es gab nicht nur Standing Ovations, das Publikum kam zu uns auf die Bühne und bedankte sich überschwänglich.
Schlösser-Braun: Eine schönere Begegnung durch Musik kann man sich fast nicht vorstellen. Wunderbar. Ganz profan gefragt: Können Sie sich ein Leben ohne Musik vorstellen?
Keusen-Nickel: Ich stamme aus einem musikalischen Elternhaus und bin mit Musik aufgewachsen. Mit fünf Jahren begann ich Klavier zu spielen, das gehörte einfach zu meinem Leben. Auch meine Kinder spielen alle ein Instrument. Die Musik öffnet Türen zu einer besonderen Welt, die möglichst allen Menschen zugänglich sein sollte. Für mich ist sie unverzichtbar.
Schlösser-Braun: Würden Sie mit heutiger Erfahrung etwas anders machen in Ihrem Leben?
Keusen-Nickel: Durch meinen Vater hatte ich die symphonische Musik kennengelernt. Am liebsten wäre ich Dirigentin geworden, was aber in der damaligen Zeit für Frauen so gut wie ausgeschlossen war. Also lief alles so, wie es sollte.
Schlösser-Braun: Sie haben immer auch mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet. Wie sehen Sie die Entwicklung heute? Denken Sie, dass die (elektronischen) Medien die Begeisterung, ein klassisches Instrument zu erlernen, beeinflusst?
Keusen-Nickel: Die klassischen Instrumente sind eigentlich nach wie vor sehr beliebt wegen ihres Klangs, ihrer Literatur und der Möglichkeiten des Zusammenspiels (Ensemble, Orchester). Aber das Erlernen eines solchen Instrumentes ist mühsam und zeitaufwändig. Durch die verlängerten Schulzeiten einerseits und die Beschäftigung mit Smartphones et cetera andererseits (laut Statistik bei Jugendlichen täglich im Schnitt zwei Stunden) ist für das Üben am Instrument zu wenig Platz im Zeitplan. Da greift man doch lieber zum Kopfhörer und lässt sich berieseln ohne Anstrengung. Ich mache mir da wirklich große Sorgen. Die Teilnehmerzahlen bei „Jugend musiziert“ gehen auch spürbar zurück, obwohl bekannt und auch wissenschaftlich untermauert ist, dass die Beschäftigung mit Musik sehr viele positive Einflüsse auf die psychische Entwicklung bei jungen Menschen hat. Es ist für uns Lehrer eine besondere Herausforderung. Der Unterricht besteht vielfach darin, mit dem Schüler zu üben und so ganz langsame Fortschritte zu erzielen, damit sich Erfolgserlebnisse einstellen. Oft sind die Werke der Neuen Musik durch Rhythmus und Klanggestaltung besonders reizvoll. Hier gibt es nicht mehr die Unterschiede zwischen Klassik, Folklore oder Popmusik. Da kommt vieles zusammen und das macht sie attraktiv. Trotzdem ist die gesamte Entwicklung leider nicht als positiv zu bezeichnen.
Schlösser-Braun: Was würden Sie heute Jugendlichen mit auf den Weg geben? Ist es lohnend, sich für den Beruf der Musikerin/ des Musikers zu entscheiden?
Keusen-Nickel: Es fragt sich, was man als „lohnend“ bezeichnen will. Materiell gesehen sind andere Berufe sicher lukrativer, aber das sollte nicht der einzige Aspekt sein. Es geht doch darum, in welchem Beruf der Mensch später zufrieden sein kann. Wenn der Hang zur Musik (gestützt durch Begabung und Übe-Fleiß) wirklich sehr stark ist, sollte dieser Beruf auch angestrebt werden. Eine aktuelle Studie [Anmerkung: „Barz-Studie“ von 2021] sagt aus, dass von den heute tätigen Profimusikern – obwohl viele noch einen Nebenjob haben, um genug zum Leben zu haben – über 80 Prozent mit ihrem Beruf zufrieden sind. Ich würde daher keinem diesen Wunsch ausreden, wenn die Voraussetzungen stimmen.
Schlösser-Braun: In Ihrer sehr langen und intensiven Zeit der Verbandsarbeit haben Sie einiges bewirken können. Erzählen Sie uns davon, bitte. Was war vielleicht Ihr größtes Vorhaben, das Sie umsetzen konnten. Was macht Sie vielleicht sogar stolz?
Keusen-Nickel: Im Laufe der Jahre hatte ich verschiedene Ämter und Funktionen im Verband. Zunächst war ich Vorsitzende eines größeren Bezirksverbandes und es kam darauf an, die pädagogischen und künstlerischen Qualitäten der Mitglieder nach außen zu präsentieren. Schüler- und Lehrerkonzerte wurden regelmäßig durchgeführt, die Kommunikation mit der Presse wurde gepflegt. Die Kollegen und Kolleginnen bekamen mehr Kontakt zueinander und wir bildeten eine Solidargemeinschaft. Ich übernahm dann 1990 die Redaktion für die nmz für unseren Landesverband. Auch hier war es mir wichtig, möglichst viele der Aktivitäten der elf Bezirksverbände in NRW durch Artikel und Fotos in die Öffentlichkeit zu bringen. 1993 kam ich als stellvertretende Vorsitzende in den Landesvorstand. Wir arbeiteten an der Neugestaltung der Satzung, wobei der Status der Bezirksverbände wie auch die Einrichtung der Fachgruppen eine große Rolle spielten. Dem „erweiterten Vorstand“ kamen mehr Rechte zu. Insgesamt entstand – auch durch regelmäßige Sitzungen – eine sehr gute Teamarbeit. Wir haben die Richtlinien für die Aufnahme in den DTKV neu gefasst und den heutigen Gegebenheiten angepasst, was für eine Reihe von Kollegen und Kolleginnen eine gute Chance bedeutete. Verbessert haben wir auch die Angebote im Bereich Rechtsberatung und Versicherung – wichtige Leistungen für Mitglieder. Als Redakteurin der nmz setzte ich mich damals gegen einige Widerstände dafür ein, dass unser Landesverband im neuen „Buch“ der Zeitschrift eine komplette Seite zugesprochen bekam. Nach meiner Meinung steht uns das als drittgrößter Landesverband zu. Als ich dann 2009 zur Landesvorsitzenden gewählt wurde, sah ich meine Aufgabe auch darin, unseren Verband in der Öffentlichkeit zu präsentieren, auch im politischen Raum. Wir hatten ein Gespräch im Düsseldorfer Landtag mit dem Kulturbeauftragten der FDP über den Stellenwert von Musik im kulturellen Leben und auch in der Schule. Dazu sollte später noch mit einem Vertreter des schulischen Bereichs gesprochen werden. Ich musste dann 2014 aus gesundheitlichen Gründen leider mein Amt aufgeben.
Schlösser-Braun: Worin sehen Sie zukünftige Aufgaben des Verbandes (DTKV)?
Keusen-Nickel: In unserer heutigen Situation kommt dem DTKV unter anderem die Aufgabe zu, sich um die zweifellos mangelhafte finanzielle Lage vieler Kollegen und Kolleginnen im pädagogischen Bereich zu kümmern. Da die Kulturhoheit den Ländern obliegt, muss man versuchen, im politischen Raum Einfluss zu nehmen. Das ist ein schwerer Weg. Der Wert der Musik ist leider im Bewusstsein sehr weit verdrängt worden. Im Fächerkanon der Schulen müsste auch das wieder geändert werden. Wie weit der DTKV da Einfluss nehmen kann, weiß ich nicht. Wir können nur versuchen, durch spektakuläre Leistungen im künstlerischen und pädagogischen Raum die Achtung vor der Musik und ihre Bedeutung für alle Menschen, besonders aber für die Entwicklung der jungen Generation, hervorzuheben. Hierzu sind Veranstaltungen wie zum Beispiel Kongresse besonders geeignet.
Schlösser-Braun: Sie waren selbst sehr viel konzertierend unterwegs. Macht Ihnen für zukünftige Generationen die Entwicklung in der Musikbranche Angst?
Keusen-Nickel: Im Augenblick ändert sich wirklich vieles in unserer Branche. Man sucht neue Zugänge zum Publikum – etwa durch die Verlagerung der Konzerte in ungewohnte Räume, die Einrichtungen von Kinder- und Jugendkonzerten. Die verschiedenen Stilrichtungen der Musik verschmelzen oft und es werden neue Facetten der Klangwelt geschaffen. Fremde Instrumente werden mit einbezogen, es wird auch mit Technik gearbeitet. All das eröffnet neue Möglichkeiten. Trotzdem wird die persönliche Leistung nach wie vor hoch anerkannt. Ich sehe diese Entwicklung durchaus positiv.
Schlösser-Braun: Ich gratuliere zu diesem vollen Leben, danke Ihnen von Herzen für dieses Interview und wünschen Ihnen weiterhin ein Leben voller Musik.