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Ein neuer Abenteuerspielplatz

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„Jumu open“ ist gestartet
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Ziel dieses hinlänglich bekannten Wettbewerbes ist es jedes Jahr aufs Neue, musikalische Hochbegabungen rechtzeitig und nachhaltig zu fördern. Analog zum Sport sind Spitzenleistungen nur durch die gezielte Förderung des Einzelnen in den Kinderjahren möglich. Ein wichtiges Mittel dazu sind Wettbewerbe. Und der wichtigste Wettbewerb ist und bleibt „Jugend musiziert“.

Wieder einmal beschritt der Bundesausschuss neue Wege und lobte zusätzliche Kategorien aus. Es ist natürlich sinnvoll, den Wettbewerb in alle möglichen Richtungen zu öffnen. Die Interpretation von Musik ist ja nichts statisch Abgeschlossenes, sondern alles ist immerzu im Fluss, entwickelt sich, neue Medien, neue Spielarten, neue Genres entstehen; andere verändern sich. Manche verschwinden. Das ist ein natürlicher Prozess: Musik muss, soll, kann und darf sich verändern.

Besonders interessant war für uns die Kategorie „Jumu open“, weil sie vom Denkansatz her wirklich neu ist. Auf youtube fanden die Schüler ein Video, in dem Ulrich Rademacher unter anderem sagte: „Wir wollen euch dafür begeistern und euch einen Eindruck vermitteln, was da alles geht…Denn irgendwann fiel Teilnehmenden, Jurymitgliedern und auch uns Verantwortlichen auf, dass sich Jumu zwar für vieles geöffnet hatte, aber dass es innerhalb der neuen Kategorien oftmals ganz schön eng und geschlossen zuging. Die Zeit ist einfach reif für eine wirklich offene Kategorie: eine, in der nicht die Alten den Jungen zeigen wollen, wo die Zukunft ist, sondern die Jungen selbst suchen und mit Freude finden…Wir wollten nur eine Tür aufstoßen und einen Raum öffnen. Der steht jetzt für euch bereit und wartet darauf, mit euren Ideen gefüllt zu werden.“ Und Reinhart von Gutzeit ergänzte: „Immer wieder in seiner langen Geschichte hat Jumu das Programm erweitert, neue Instrumente und neue Stilistiken dazugenommen… Mit der Wespe geht es uns um eine ganz andere Perspektive. Da wollen wir euch dazu anregen, euer instrumentales Können zu nutzen, um auf musikalische Entdeckungsreisen zu gehen, Stücke von lebenden Komponisten zu spielen oder sogar eigene Stücke zu schreiben und im Wettbewerb zu spielen.“

Wau, was für eine Einladung! Welch kühner Weckruf an die Kreativität der jungen Generation. Denn mit dieser Einladung öffnet sich tatsächlich eine Tür, und zwar gerade für diejenigen Jugendlichen, die zwar total kreativ sind, aber auf dem Instrument – aus welchen Gründen auch immer – die sehr hohen Hürden von Jumu nicht erfüllen können.

Auf diesen Freiraum, den Jumu open eröffnet, warte ich schon eine ganze Weile. Immer wieder habe ich die Verantwortlichen des DTKV in den letzten Jahren gefragt, ob und wann und in welcher Form denn nun diese Kategorie ins Leben tritt. Doch dann kam Corona und damit fast zwei Jahre Zwangspause für Flötenspiel und gemeinsamen Gesang. Das Stück hatte ich schon ganz am Anfang vor zwei Jahren ausgesucht, denn es sollte sowohl Strukturen der Neuen Musik als auch freie Elemente, Möglichkeiten für Soundeffekte, Klangcollagen und Angebote für freies Musizieren aufweisen. Und es sollte ein Stück Musiktheater sein, eine Performance. Nach dem Studium von Verlagskatalogen, dem wie immer zeitraubenden Kontakt zu allerlei Autoren blieben drei Partituren übrig. Die Spannweite der Stücke reichte von herkömmlicher Kammermusik, über echte Neue Musik bis hin zu Thea­terperformances im Sinne des „Instrumentalen Theaters“. Zwei davon hebe ich auf für die nächsten open-Runden und das dritte proben wir seit zwei Jahren, allerdings mit monatelangen Unterbrechungen wegen der Pandemie. Es stammt von Georg Katzer und ist eine moderne Adaption des alten Märchens „Vom Fischer un sin Fru“. Eigentlich ist die Partitur für einen Chor geschrieben, aber am Ende treten Instrumente hinzu und durch das ganze Stück zieht sich eine ständig chargierende Schicht aus Geräuschen, die den Beteiligten viel Gestaltungsspielraum anbietet.

Der harte Kern der jugendlichen Interpreten war schnell gefunden: Es war wieder mein kleines Schüler-Ensemble, sturmerprobt, stressresistent und daran gewöhnt, Musik aller Art zu spielen und ohne Scheuklappen sich den mitunter schrägen Anforderungen zu stellen, die die Partituren der Neuen Musik so manchmal enthalten. Diese coole Schülertruppe kam durch lauter Zufälle zustande: der Gitarrist konnte nicht mehr freitags zur Musikschule kommen, und kam so in meine Donnerstagsklasse; Cello und Akkordeon haben bei mir Theorieunterricht; mit der Mutter der Flötistin habe ich jahrelang zusammen Musik gemacht, die Tochter brachte ihre Freundin mit. Und schon waren es fünf. Aber ich brauchte noch vier Spieler dazu für den Chor, also für allerlei  sonderbare Brumm- und Zischlaute, für räuspern, klatschen, hüsteln, schnipsen und vieles mehr, was Georg Katzer in der Partitur notiert hat. Sogar eine „echte“ Gesangsschülerin konnte ich zum Mitmachen überreden, und sie sagte nicht ab und erbrachte am Ende eine bravouröse Leistung.

Und wieder half der Zufall: Eine Gitarrenschülerin sagte, dass ihre Schwester „sowas“ bestimmt gerne mal ausprobieren würde. Die Schwester war zum Glück Pianistin, konnte auch noch gut singen und brachte ebenfalls einen Freund mit, der Schlagzeuger war; zwar noch nie eine Note gesehen hatte, aber kreativ, aufgeweckt und interessiert war und alles sofort verstand. Dann bekam ich eine neue Gitarrenschülerin, die unglaublich schnell lernte, aber eben sehr spät angefangen hatte. Diese beiden hätten nie an Jumu teilnehmen können, denn die in den jeweiligen Altersstufen V und VI üblichen Programme wären unerreichbar gewesen. Aber es gibt ja den neuen offenen Raum…

Ein Jahr lang, wenn auch mit riesigen Corona-Pausen, übten wir Noten lesen, Zeichen deuten und Anmerkungen verstehen. Denn diese Art Notentext ist extrem schwer und total einfach zugleich. Man muss es ja erst mal verstehen, dass es Stellen gibt, die total gut „zusammen“ sein müssen und ein paar Sekunden später kommt eine völlig freie Stelle, die man nach Belieben ausgestalten kann. Dann mussten die Rollen gestaltet werden, was relativ einfach war und schnell ging. Lange und oft geübt werden mussten aber die kleinen Duette vom Fischer und seiner Fischersfrau und von Erzählerin und Butt, bei denen der Text silbenweise hin- und herwandern sollte. Und auch die „Chöre“, also vergleichsweise komplizierte Textabläufe, die mit Elementen aus der Body Percussion verbunden waren, erschlossen sich nur mühsam. Und dann vor 8 Wochen setzte ich mich hin und hörte auf, das Ganze anzuleiten. Zunächst hörte ich nichts. Und dann begann das allerspannendste: der Prozess der Selbstorganisation: A hört an der und der Stelle auf B, C gibt da und dort D ein Zeichen, E zählt leise beim Buchstaben F ein, G macht eine Handbewegung bei H und so weiter. Und in dem Moment, wo ich nichts mehr tat, als freundlich zuhören, begann sich die Kreativität der Gruppe freizusetzen: Der Akkordeonist bot uns ein komplett anderes musikalisches Finale an, was alle überzeugte. Die letzte Partiturseite wurde gestrichen und durch dieses neue Finale ersetzt. Und dem Schlagzeuger fiel 3 Tage vor dem Wettbewerb noch eine Spielsituation ein, die die Inszenierung an der entscheidenden Stelle auflockerte. Alles lief ab, wie es in der modernen Theorie des Klassenmusizierens beschrieben ist: Der Lehrer, der sich zurücknimmt und nur dann als Mentor fungiert, wenn es notwendig ist und der der Selbstorganisation, also dem Ausprobieren von Varianten und dem Selberfinden von Lösungen der Jugendlichen möglichst nicht im Wege steht.

Die kompetente Berliner Jury war perfekt auf diese Spezialkategorie eingestellt, in der es ja nicht um die Leis­tung des Einzelnen geht, sondern um die Originalität der Idee und die künstlerische Qualität der Performance. Sie ermutigte die jungen Leute, noch mehr in die Extreme zu gehen und mit dem Material noch viel freier zu spielen. Alle strahlten, am meisten ich, denn die Schüler hatten Jumu open mit einem ersten Preis eröffnet und mir damit einen Lebenstraum erfüllt. Nur im 20 Kilometer entfernten Brandenburg nahm davon niemand Kenntnis: es gab keinen Empfang, keine Würdigung für die Schüler, die Kategorie wurde in der Auswertung nicht erwähnt, obwohl die Schüler alle Brandenburger waren und natürlich für Brandenburg gestartet sind. Ich frage nach und erhalte diese Antwort: „Eine Form von Würdigung innerhalb Brandenburgs ist wie gewohnt geplant, dies betrifft allerdings nur die Weitergeleiteten zum Bundeswettbewerb exklusive des WESPE-Wettbewerbs, da wir diesen in Brandenburg ja nicht veranstalten.“ So kann man das Ganze natürlich auch sehen. Es reifen eben nicht alle Blütenträume: Brautkleid bleibt Brautkleid und Brandenburg bleibt Brandenburg.       

 

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