Karin Leo leitete beinahe 15 Jahre lang als Künstlerische Leiterin das Musikgymnasium „Carl Philipp Emanuel Bach“ in Berlin und war in dieser Funktion gemeinsam mit dem dama-ligen Schulleiter Winfried Szameitat an führender Stelle für die Nachwuchsgewinnung und Begabtenförderung zuständig. Nun hat sie ihr Amt abgegeben und widmet sich wieder mehr der Lehre, aber auch neuen Aufgaben. Aus diesem Anlass führte Walter Thomas Heyn das folgende Interview.
neue musikzeitung: Solistin, Kammermusikerin, Hochschuldozentin, künstlerische Leiterin des Musikgymnasiums Carl Philipp Emanuel Bach in Berlin: Das sind in etwa die Stationen deines beruflichen Weges – ein erfülltes Musikerleben verlangt einem alles ab. Werfen wir einen Blick auf den Anfang. Denn jeder kommt anders zur Musik. Ich zum Beispiel wollte immer Klavier spielen, aber der Vater sagte: „Das ist was für reiche Leute. Wir sind arm.“ Es blieb die Klarinette, aus der ich keinen Ton herausbekam und die Gitarre. Wie war es bei dir?
Karin Leo: In unserer Familie wurde immer Hausmusik gemacht und viel gesungen. Meine Mutter spielte Mandoline. Mir gefiel eigentlich der Klang des Akkordeons recht gut. Aber dann kam meine Cousine und spielte auf der Gitarre einen Walzer. Die Gitarrenlehrer werden ihn kennen, er steht noch heute in der Schule von Ursula Peter, Band 1. Damit war meine Entscheidung gefallen. Ich lernte ab dem siebten Lebensjahr Gitarre an der Zweigstelle der Musikschule Eberswalde in Bad Freienwalde. Mit Beginn der achten Klasse kam ich als Schülerin an die „Spezialschule für Musik“ in Berlin, die direkt der Musikhochschule unterstand und damals wie heute das Ziel hatte, begabte Schüler auf „Musik als Beruf“ vorzubereiten. Auch damals schon wurde der Unterricht von den Dozenten und Professoren der Hochschule erteilt. So kam ich zu Barbara Richter-Rumstig, der ich viel verdanke.
nmz: Barbara Richter-Rumstig und Dieter Rumstig sind der breiten Öffentlichkeit heute eher weniger bekannt. Aber ihre Verdienste um die Gitarristik in Berlin sind erheblich.
Leo: Ja, das stimmt. Beide kümmerten sich ununterbrochen um ihre Studenten, weit über das Hauptfach hinaus. Sie beschafften Noten, organisierten Konzerte und gaben Anregungen und Hilfestellungen jeder Art. Sie spielten auch oft selbst im Duo im Palast der Republik und brachten die Neue Musik, also die Werke von Bredemeyer, Katzer, Ganzer, Zapf und den jungen Komponisten der Akademie der Künste zu Gehör, die damals wirklich neu und sehr inspirierend zu hören waren. Von da zieht sich ein roter Faden bis zu den Projekten mit Hans Werner Henze und Krzysztof Penderecki, den ich für ein großangelegtes Projekt an das Musikgymnasium holen konnte.
nmz: Im Osten gab es die damals als lästige Pflicht empfundene Vorgabe, nach dem Studium für drei Jahre an einen Ort zu gehen, den der Staat einem zuwies. Das waren vor allem ländliche und eher weniger entwickelte Gegenden. Für mich zum Beispiel war Schwedt vorgesehen, eine triste Neubaustadt um ein gigantisches Chemiewerk herum. Ich sah mir die Stadt an und floh am gleichen Tag per Taxi über Angermünde nach Leipzig zurück.
Leo: Ich beendete die Spezialschule und das Studium, absolvierte meine drei Pflichtjahre als junge Lehrerin an der Musikschule in Eberswalde, wurde an die Musikschule Berlin Mitte engagiert und wurde in den 80er-Jahren als Dozentin an die Hochschule berufen, wo ich heute noch unterrichte.
nmz: Der Osten hatte nach dem Zweiten Weltkrieg vier Musikhochschulen in Berlin, Dresden, Leipzig und Weimar, jeweils mit einer Spezialschule für begabte Kinder und Jugendliche, von denen drei heute noch als Musikgymnasien existieren. Daneben gab es in den mittleren Städten Konservatorien und darüber hinaus sogenannte Volksmusikschulen. Die Konservatorien bedienten die ganze Bandbreite der Instrumente, an den Volksmusikschulen wurde vor allem Akkordeon, Gitarre und Mandoline angeboten. Aus meinem persönlichen Erleben gab es immer diese feine Distanz zwischen den Orchesterinstrumenten, den Edelfächern wie Klavier, Dirigieren und Komposition und solchen Fächern wie eben die Gitarre.
Leo: Die Hochschulen von ihrer Tradition her betrachteten sich ja im Wesentlichen als Orchesterschulen, die die circa 80 Theater und Orchester des Landes mit Nachwuchs versorgen wollen. Die Gitarre hatte und hat da immer einen schweren Stand. Auch an meiner Hochschule gingen immer mal Gerüchte um, dass das Studienfach Gitarre abgewickelt werden sollte. Es kam zum Glück nie so weit. Und es wäre auch sinnlos, weil es eine dramatisch hohe Nachfrage nach Gitarrenlehrern gibt, denn 25 Prozent der Musikschulschüler wollen Gitarre lernen. Ich bekomme wöchentlich Anfragen nach möglichen Gitarrenlehrern, aber der Markt ist praktisch leer.
nmz: Warum die politisch Verantwortlichen dieses Missverhältnis nicht sehen, kann ich mir auch nicht erklären. Der gesunde Menschenverstand gebietet doch, Studierende nach den realen Erfordernissen auszubilden und nicht nach einem Fächerkanon aus dem 19. Jahrhundert. Aber noch einmal zurück zu den Konservatorien, die von der damaligen Kulturpolitik plattgemacht wurden. Gleichzeitig wurden die Volksmusikschulen aufgewertet und aus dem ganzen Kuddelmuddel entstand das System der Kreismusikschulen, wie es heute noch in den neuen Bundesländern existiert.
Leo: Ich betrachte das Ganze ja immer aus der Sicht der Talentfindung und der Talentförderung und stelle dabei fest, dass dieses System der Kreismusikschulen Vorteile, aber auch Nachteile hat. Die Menge der Talente ist gleich geblieben, aber die Menge derer, die Talente suchen, ausbilden und fördern wollen, ist deutlich größer geworden. Dazu kommt, dass jede Institution „ihre“ Talente hütet und nicht abgeben will. Der Ansatz von früher, stolz darauf zu sein, ein Talent auf eine weiterführende und berufsvorbereitende Schule delegieren zu können, das ist vollkommen verschwunden und das ist auch verständlich, denn der heutige Musikschullehrer muss und will sich seinerseits in der Öffentlichkeit profilieren, um weitere gute Schüler zu finden und an sich zu binden.
nmz: Ich weiß es noch aus meiner Hochschulzeit, da hatte der Geigenprofessor drei, vier Geigenlehrerinnen, die ihm zuarbeiteten. Er kam zu den Musikschulvorspielen, gab den Kindern Hausaufgaben („Dein spiccato muss besser werden“) und baute sich ganz gezielt über die Jahre hinweg immer wieder gute Klassen auf.
Leo: Das hängt von der Persönlichkeit und den Interessen der Professoren ab. Manche arbeiten so, andere nicht. Ich halte Seminare und Kurse für geeignet, sich diesbezüglich zu positionieren. Manchmal kommt es aber auch zu Abwerbungsversuchen. Das finde ich persönlich nicht in Ordnung.
nmz: Es gibt ja bundesweit eine heiße Diskussion darüber, ob ein Musikschullehrer einen Pädagogikabschluss braucht oder ob ein normales Staatsexamen, Diplom, Bachelor, Master oder ein vergleichbarer Abschluss ausreichend sind. Mein alter Professor sagte mir damals: „Mach jeden Abschluss, den du machen kannst. Du wirst alles irgendwann mal brauchen.“ Ich fand das albern, tat aber, was er sagte und es kam exakt so. Noch heute bin ich ihm dankbar.
Leo: Ich habe auch erst den Pädagogikabschluss gemacht und dann den Soloabschluss im fünften Studienjahr hinten dran gehängt. Und ich habe viel gespielt: in den Berliner Theatern, Liederabende mit Sängerinnen, ich habe Alte Musik gemacht mit einer Blockflötistin, wovon meine Vorliebe für die Viuhela herrührt. Daneben habe ich viel Romantik gespielt mit Flöte und Cello und im Moment spiele ich die PaganiniQuartette op. 4 mit dem HaydnQuartett. An der ersten Violine saß mit Theresia May eine ehemalige Schülerin des Musikgymnasiums. So schließen sich die Kreise und das ist sehr befriedigend.
nmz: Ein Dasein als Nur-Lehrer ist auf die Dauer unkreativ und ein Dasein als Nur-Musiker ist den wenigsten vergönnt. Hanns Eisler sagte mal, man müsse auf mehreren Gebieten fit sein, um bestehen zu können.
Leo: Musiker zu sein ist schön, aber auch Lehrer zu sein ist auf eine andere Art interessant und vor allem wichtig. Ich habe ja das Glück, seit mehr als zwei Jahrzehnten gute und sehr gute Schülerinnen und Schüler zu haben, die zum Teil Bundespreisträger bei JuMu geworden sind. Darauf bin ich sehr stolz, aber es macht auch extrem viel Arbeit und ist nervenzehrend für alle Beteiligten.
nmz: Du hast ja beinahe 15 Jahre als Künstlerische Leiterin des Musikgymnasiums gearbeitet, mehr oder weniger rund um die Uhr, auch am Wochenende und oftmals bis spät in die Abende hinein. Du hast die Orchesterkonzerte organisiert, den Chor gegründet und die Kammermusik auf die Schiene geschoben. Und dabei musstest Du ständig zwischen den Interessen der Hochschule als Träger des Musikgymnasiums, den Wünschen der Professoren und den Belangen und Erfordernissen einer „normalen“ Gymnasialausbildung hin und her lavieren und dabei viel diplomatisches Geschick entwickeln. Was ist Dein Resümee nach so einer langen Zeit?
Leo: Ich selbst bin als Jugendliche Anfang der siebziger Jahre in die damalige „Spezi“ gegangen. Ich kenne noch die Berge von Braunkohle im Hof, die im Winter nach und nach verheizt wurden. Ich erinnere mich auch noch an die Gerüche und den kleinen Einkaufs-Laden auf der Brunnenstraße, der heute wieder Laden heißt und für Korrepetition genutzt wird.
Und so überlegte ich nur kurze Zeit, als die Hochschulleitung mich 2002 fragte, ob ich mir vorstellen könnte, die künstlerische Leiterin des Musikgymnasiums zu werden. Schon im Februar 2003 war es soweit. Die Zusammenarbeit mit der Hochschule war immer konstruktiv und vertrauensvoll. Gerne möchte ich auch die enge Zusammenarbeit mit dem Konzerthausorchester herausstellen. Denn nicht wenige der Musiker des Konzerthausorchesters waren einmal Schüler unserer Schule und nicht wenige geben ihr Wissen als Lehrer heute an unsere Schüler weiter. Mit dem Orchester hat das Musikgymnasium einen PatenschaftsVertrag, der „Tutti pro“ heißt und beinhaltet, dass das Schulorchester und das Konzerthausorchester dort, wo es möglich ist und sich anbietet, zusammenarbeiten.Die musikalischen Höhepunkte der letzten zehn Jahre waren zahlreich. An die wichtigsten Projekte möchte ich kurz erinnern: Die drei Konzerte für UNICEF mit dem Titel „Musik macht Schule – Schule mach Musik“ für Schulneubauten in Afrika in der Philharmonie werden vielen Besuchern im Gedächtnis geblieben sein. Das Projekt „Rhapsody in School“ mit dem Solisten Lars Vogt war eine großer Erfolg 2012.
Der Höhepunkt auf dem Gebiet der Neue Musik war der Besuch von Krzysztof Penderecki im Jahr 2013, der mit den Schülern eigene Werke erarbeitete und das Konzert dirigierte.
nmz: Das ist die offizielle Bilanz und die ist eindrucksvoll. Aber was ist dein ganz persönliches Fazit nach den vielen Jahren als Leiterin?
Leo: Ich bleibe der Hochschule ja erhalten als Lehrerin und habe gerade eine ganz leistungsstarke Klasse, die ich für „Jugend musiziert“ 2018 vorbereite. Und auch das Thema der Nachwuchsförderung im Bereich Musik wird mich weiter beschäftigen. Außerdem habe ich zuhause ein Zimmer voller Noten, die auf mich warten. Wenn die Aktenordner alle weg sind, wird sich manches widerfinden, was ich schon immer mal spielen wollte. Denn natürlich möchte ich wieder selbst mehr spielen. Von meinen Gitarren und der Musik bekomme ich nie genug.